L 1 KR 58/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 143 KR 90/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 58/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2019 wird abgeändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 19. März 2019 vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache - längstens jedoch bis zum 31. Mai 2019 - die Kosten für Leistungen zur Krankenpflege gemäß § 1 Abs. 1 des Angebots der Antragsgegnerin zum Abschluss einer "Zielvereinbarung für die Gewährung eines Persönlichen Budgets, Stand 30. November 2018" (Kopie GA Bl.18) zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

Im Streit steht ein Anspruch auf Leistungen der häuslichen Krankenpflege als persönliches Budget. Die Antragsgegnerin bewilligte dem Antragsteller solche Leistungen bis 31. Oktober 2018. Für die Zeit ab danach besteht zwischen den Beteiligten Streit.

Das SG hat den Antrag, die Antragsgegnerin zu "verurteilen, dem Antragsteller vorläufig im Umfang der Zielvereinbarung vom 22. Februar 2018, hilfsweise im Umfang der Zielvereinbarung vom 16. November 2018, Leistungen der häuslichen Krankenpflege als persönliches Budget zu gewähren", abgelehnt: Dem Antragsteller sei es zumutbar, die Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten, weil ihm in der Zwischenzeit keine unzumutbaren, schweren Nachteile drohten. Denn die häusliche Krankenpflege für den Antragsteller sei im vorliegend begehrten zeitlichen Umfang sichergestellt. Die Antragsgegnerin sei bereit, eine entsprechende Sachleistung durch den Pflegedienst D zu erbringen. Zusätzlich erhalte der Antragsteller Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung. Die Antragsgegnerin habe auch im vorliegenden Verfahren noch einmal bestätigt, dass eine Versorgung im Umfang von 16 Stunden lntensivpflege täglich anerkannt werde. Der Bevollmächtigte des Antragstellers habe mit Schriftsatz vom 12. Februar 2019 bekräftigt, dass im vorliegenden Eilverfahren die Gewährung eines persönlichen Budgets im Umfang von 16 Stunden begehrt werde, anders als im Hauptsacheverfahren (SG Berlin S 36 KR 1150/18), in dem die Gewährung eines Umfangs von 24 Stunden streitig sei. Während der Dauer dieses Hauptsacheverfahrens drohten dem Antragsteller keine unzumutbaren Nachteile oder gar Schäden für seine Gesundheit. Die angebotene Sachleistung durch einen Pflegedienst entspreche dem Standard, der täglich für eine Vielzahl von Versicherten in der gesetzlichen Sozialversicherung praktiziert werde. Im Fall des Antragstellers seien keine besonderen Umstände erkennbar, die gerade für ihn die Inanspruchnahme eines Pflegedienstes unzumutbar machten. Dies gelte auch bei einer reinen Folgenabwägung unter Wahrung der Menschenwürde des Antragstellers und bei Beachtung seines Rechts auf Schutz seiner Gesundheit. Ob im Laufe des Verwaltungsverfahrens tatsächlich vorgetragen worden sei, dass dem Antragsteller eine Pflege durch Männer unzumutbar sei, könne dabei offen bleiben. Dieser Einwand sei jedenfalls durch den rechtskundigen Bevollmächtigten des Antragstellers nicht aufrechterhalten worden. Der Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht des Antragstellers lasse keine konkreten Umstände erkennen, aus denen sich eine Unzumutbarkeit ableiten ließe, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Leistungen als Sachleistungen zu erhalten. Eine auf besonderen Umständen beruhende persönliche Bindung an eine konkret benannte Pflegefachkraft sei in diesem Verfahren nicht vorgetragen worden. Die Antragsgegnerin habe vielmehr darauf hingewiesen, dass im aktuellen Verfahren fünf Personen genannt wurden, die ihr zuvor nicht gemeldet gewesen seien. Dieser Personenwechsel lasse sich anhand der vorgelegten Listen nachvollziehen. Die Ablehnung des persönlichen Budgets sei auch nicht offensichtlich rechtswidrig. Zwar gewähre § 29 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) grundsätzlich einen Rechtsanspruch auf Gewährung eines persönlichen Budgets. Die Antragsgegnerin könne eine solche aber ablehnen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 27. Februar 2019. Zur Begründung führt er ergänzend aus, sein Wahlrecht, Leistungen im Rahmen eines persönlichen Budgets zu erhalten, und damit sein Selbstbestimmungsrecht würden missachtet. Das Recht auf ein persönliches Budget an sich dürfe nicht mit Fragen der Ausgestaltung der Zielvereinbarung verwechselt werden. Der Antragsteller könne nicht auf einen Sachleistungsanspruch verwiesen werden. Es fehle insoweit bereits an einer Bewilligung. Wie eine aktuelle Anfrage bei der Antragsgegnerin ergeben habe, könne diese derzeit keine Sachleistungen erbringen. Ein ambulanter Pflegedienst müsse erst gesucht werden.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 25. Februar 2019 zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig im Umfang der Zielvereinbarung vom 22. Februar 2018, hilfsweise im Umfang der Zielvereinbarung vom 16. November 2018, Leistungen der häuslichen Krankenpflege als persönliches Budget für 16 Stunden täglich zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Es fehle bereits an einem Anordnungsgrund. Es sei nicht ersichtlich, dass die Familienangehörigen des Antragstellers und die Honorarkräfte die Pflege aktuell einstellten. Es könne der Antragsgegnerin nicht zugerechnet werden, einen Pflegedienst nicht ad hoc auf einen Anruf am Freitagmittag hin benennen zu können. Zwischen dem 5. Dezember 2018 bis zum jetzigen Beschwerdeschriftsatz sei ihr nicht bekannt gewesen, dass die Familie des Antragstellers Unterstützung bei der Suche nach einem Pflegedienst benötige. Die Antragsgegnerin kontaktiere Pflegedienste, die Suche gestalte sich aber als schwierig. II. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und in der Sache teilweise begründet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte an den Erfolgsaussichten nur orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so hat es anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden.

Nach diesen Maßstäben hat das SG eine Verpflichtung der Antragsgegnerin nach der Aktenlage zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zu Recht ablehnt. Für die Vergangenheit sind Leistungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes bereits grundsätzlich nicht zuzusprechen. Für eine Ausnahme ist hier nichts vorgetragen oder ersichtlich. Der Senat teilt die Rechtsauffassung des SG, dass ein Anordnungsanspruch gerichtet auf Geldleistungen aus einem persönlichen Budget nicht zu bejahen ist. Es ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die entsprechende Klage im Hauptsacheverfahren Erfolg haben wird. Ein Geldanspruch auf die Leistung aus dem Budget nach § 29 Abs. 2 SGB IX setzt als materielle Voraussetzung den Abschluss einer Zielvereinbarung voraus, § 29 Abs. 4 SGB IX (vgl. BSG, Urt. v. 31. Januar 2012 - B 2 U 1/11 R -, juris-Rdnr. 36; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. November 2016 – L 9 SO 522/16 B ER –, juris-Rdnr. 7 mit weit. Nachweis; Schneider in: Hauck/Noftz, SGB, 12/18, § 29 SGB IX, Rdnr. 38). Gibt es keine Zielvereinbarung sind die Rechte des Betroffenen auf Kostenfreistellung und Kostenerstattung für erfolgte selbst beschaffte Bedarfsdeckung beschränkt (BSG, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 19/15 R –, BSGE 121, 32-40, juris-Rdnr. 25).

Zutreffend hat bereits das SG darauf abgestellt, dass zwischen den Beteiligten eine solche Vereinbarung derzeit nicht besteht. Ein entsprechender (öffentlich-rechtlicher) Vertrag ist nicht zustande gekommen: Der Antragsteller hat erst mit seinem Widerspruch vom 21. Dezember 2018 ein von seiner Betreuerin unterzeichnetes Exemplar der Zielvereinbarung vom 16. November 2018 -Stand 30. November 2018- bei der Antragsgegnerin eingereicht. Diese hatte es allerdings bereits mit Bescheid vom 8. Dezember 2018 die Bewilligung eines Persönliches Budget für die Zeit ab Januar 2019 abgelehnt, unter anderem, weil die Zielvereinbarung nicht unterschrieben worden sei. Das Angebot war damit erloschen, § 146 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Auch hat das SG zutreffend darauf hingewiesen, dass im Widerspruchsschreiben Vorbehalte gegenüber dem Zielvereinbarungs-Angebot formuliert sind, so dass von einem Vertragsschluss im Sinne von sich deckenden Willenserklärungen nicht ausgegangen werden kann (vgl. § 150 Abs. 2 BGB).

Der Senat stimmt mit dem SG auch in der Wertung überein, dass es dem Antragsteller zuzumuten ist, die schwierigen Fragen eines Anspruches auf ein persönliches Budget im Hauptsacheverfahren klären zu lassen, da es zuzumuten ist, die benötigten Pflegeleistungen vorläufig als Sachleistungen in Anspruch zu nehmen. Zu Recht hat es das SG als offen bezeichnet, ob dem Antragsteller in der konkreten Pflegesituation ein Anspruch auf ein persönliches Budget zusteht. Denn es hat zutreffend Kriterien aufgeführt, welche die Antragsgegnerin in einer laufenden Zielvereinbarung möglicherweise zur Kündigung nach § 29 Abs. 4 S. 6 SGB IX berechtigten, die demnach bei unverändertem Fortbestehen auch einer neuen Vereinbarung entgegenstünden. Auf die Ausführungen des SG wird ergänzend verwiesen, § 142 Abs. 2 S. 3 SGG (In Stichworten: keine Einigkeit über die Beschäftigung von Personen, die mit dem Antragsteller als Budgetnehmer verwandt sind; etwaige Überforderung der bisher angestellten Töchter; Mittelverwendung).

Allerdings besteht mittlerweile ein Anordnungsanspruch auf Übernahme der laufenden Kosten der aktuell vom Antragsteller selbst beauftragten Pflegeleistungen. Das Begehren des Antragstellers war entsprechend auszulegen: Ihm geht es nicht nur um ein vorläufiges persönliches Budget als solches, sondern auch um die laufende Bezahlung seiner Honorarkräfte.

Der Antragsteller benötigt unstreitig lebensnotwendig häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) im Umfang von 16 Stunden tagsüber täglich. Der Antragsteller hat allerdings auch im Beschwerdeverfahren betont, in diesem Eilverfahren insoweit nicht mehr zu fordern, als die Antragsgegnerin angeboten habe (Beschwerdeschriftsatz S. 4), also kein Umfang von 24 Stunden täglich. Auch angesichts der ärztlichen Verordnungen der behandelnden Lungenärztin vom 8. November 2018 und 1. Februar 2019 kann von einer Dringlichkeit einer Rund-um die-Uhr-Intensivpflege nicht ausgegangen werden.

Aktuell (März 2019) räumt die Antragsgegnerin selbst ein, zeitnah einen Pflegedienst nicht beauftragen zu können. Die Suche gestalte sich schwierig. Der Antragsteller benötigt die Leistungen aber fortlaufend. Kommt die Krankenkasse ihrer Sachleistungspflicht nicht nach, kann der Versicherte für selbst eingegangene Verpflichtungen Freistellung sowie Kostenerstattung verlangen. Ob Rechtsgrundlage des Freistellungsanspruchs bzw. Kostenerstattungsanspruch hier § 13 Abs. 3 SGB V oder § 37 Abs. 4 SGB V oder beide Normen kombiniert sind, kann dahingestellt bleiben. Nach § 37 Abs. 4 SGB V sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft für Krankenpflegeleistungen in angemessener Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse keine Kraft für die häusliche Krankenpflege stellen kann oder Grund besteht, davon abzusehen. Allgemein sind nach § 13 Abs. 3 SGB V Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (§ 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 1 SGB V) oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hatte (§ 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 SGB V). Unaufschiebbarkeit verlangt, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Juni 2017 – L 11 KR 2703/16 –, juris -Rdnr. 29 mit Bezugnahme auf BSGE 96, 170, Rdnr. 13, BSGE 98, 26 Rdnr. 23; Helbig in: Schlegel/Voelzke, juris BK-SGB V, 3. Auflage 2016, § 13 SGB V Rdnr. 41 mit Nachweisen der BSG-Rechtsprechung). Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen –wie hier- nicht mehr zumutbar sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder z. B. wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist (BSG SozR 4-2500 § 18 Nr. 7 Rdnr. 18). Ein Anordnungsgrund besteht: Der Antragsteller hat nachgewiesen, die benötigten Gelder (nicht mehr) vorstrecken zu können. Es ist entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin dem Antragsteller –bzw. seiner Betreuerin- hier nicht zuzumuten, darauf zu spekulieren, dass seine Pflegekräfte ihn weiter auch ohne Bezahlung betreuen werden. Die Behandlungspflege muss gesichert sein.

Die Beschwerde war im Übrigen zurückzuweisen: Es ist nicht ersichtlich, dass nicht jedenfalls ab Juni 2019 die benötigte häusliche Krankenpflege durch Sachleistung gewährleistet sein kann, soweit sich nicht bis dahin das Hauptsacheverfahren erledigt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG entsprechend. (Nur) im Beschwerdeverfahren hat das Begehren des Antragstellers überwiegend Erfolg. Der Senat geht davon aus, dass sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren damit erledigt hat.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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