L 13 SB 178/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 9 SB 351/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 178/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 23. Februar 2018 geändert und der Bescheid des Beklagten vom 29. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2015 insoweit aufgehoben, als dieser bei dem Kläger einen GdB von weniger als 50 festgestellt hat. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige Kosten des gesamten gerichtlichen Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB).

Bei dem 1964 geborenen Kläger war 2010 wegen eines Karzinoms der Magen komplett entfernt und anschließend eine Chemotherapie durchgeführt worden. Mit Be-scheid vom 9. Juni 2010 hatte der Beklagte bei ihm einen GdB von 80 unter Berücksichtigung einer Magenerkrankung in Heilungsbewährung und Verlust des Magens festgestellt.

Im Rahmen des 2015 eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens holte der Beklagte den Befundbericht des Facharztes für Innere Medizin Dr. K vom 23. Februar 2015 ein, wonach kein Rezidiv bestand. Nach Anhörung des Klägers senkte der Beklagte – dem Vorschlag des Versorgungsarztes Dr. Z entsprechend – durch Neufeststel-lungsbescheid vom 29. April 2015, abgesandt am selben Tag, mit Wirkung ab Bekanntgabe den GdB auf 40 herab. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, worauf der Beklagte von dem behandelnden Arzt Dr. K die Befundberichte vom 2. Juli 2015 und vom 8. Oktober 2015 einholte. Auf der Grundlage der gutachterlichen Stellungnahme des Versorgungsarztes Dr. S wies der Beklagte den Widerspruch mit Wider-spruchsbescheid vom 13. Oktober 2015 zurück, wobei er dieser Entscheidung die Behinderung Verlust des Magens zugrunde legte.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Potsdam hat der Kläger einen GdB von 50 begehrt. Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Innere Medizin Dr. H vom 26. Dezember 2017 eingeholt, der den GdB auf 40 eingeschätzt hat. Die Sachverständige hat hierzu folgende Funktionsbeeinträchtigung ermittelt:

Zustand nach Gastrektomie wegen eines bösartigen Magentumors (Februar 2010), Postgastrektomie-Syndrom (normaler Ernährungs- und Kräftezustand, keine Hinweise auf Mangelernährung).

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 23. Februar 2018 mit der Begründung abgewiesen, der GdB betrage 40.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin Dr. H vom 1. Oktober 2019 eingeholt, der nach Untersuchung des Klägers weiterhin den GdB auf 40 eingeschätzt hat. Der Gutachter hat ausgeführt, es seien keine weiteren Diagnosen zu erkennen, die GdB-relevant sein könnten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 23. Februar 2018 aufzuheben so-wie den Bescheid des Beklagten vom 29. April 2015 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 13. Oktober 2015 insoweit aufzuheben, als dieser bei ihm einen GdB von weniger als 50 festgestellt hat.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.

Das Sozialgericht hat zu Unrecht den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 29. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2015 nicht aufgehoben, als der Beklagte bei dem Kläger einen GdB von weniger als 50 festgestellt hat. Denn in diesem Umfang ist die Absenkung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage für einen Absenkungsbescheid ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetz-buch, Zehntes Buch (SGB X). Danach ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dem Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine we-sentliche Änderung eintritt.

Im hier zu entscheidenden Fall handelt es sich bei dem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung um den ursprünglichen Festsetzungsbescheid vom 9. Juni 2010. Der Senat hat jedoch nicht die Überzeugung gewinnen können, dass eine wesentliche – d.h. die Absenkung des GdB auf 40 rechtfertigende – Änderung im Sinne der genannten Vorschrift in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass des ursprünglichen Verwaltungsakts vorgelegen haben, eingetreten ist. Denn es ist nicht zu ermitteln, ob der Gesamt-GdB bei dem Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der Absenkung, dem 2. Mai 2015, 40 oder 50 betrug.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der seinerzeit geltenden Fassung (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) festgelegten "Versor-gungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) heranzuziehen.

Nach den medizinischen Feststellungen des im Klage- und im Berufungsverfahren herangezogenen Sachverständigen Dr. H bestand bei dem Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt ein Zustand nach Gastrektomie mit Postgastrektomie-Syndrom. Nach B 10.2.1 VMG ist für Totalentfernung des Magens ohne Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes je nach Beschwerden ein GdB-Rahmen von 20 bis 30 sowie bei Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes und/oder Komplikationen (z.B. Dumping-Syndrom) ein GdB-Rahmen von 40 bis 50 vorgesehen. Im Hinblick auf die bei dem Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt bestehenden rezidivie-renden Diarrhöen, die zwei- bis dreimal täglich auftragen, ist, worauf auch versor-gungsärztlicherseits hingewiesen wurde, der GdB-Rahmen von 40 bis 50 maßgeb-lich. Mangels Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustands des Klägers – er wog ausweislich der Befundberichte des Internisten Dr. K 64 kg bzw. 63 kg bei einer Körpergröße von 160 cm – ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass der Ein-zel-GdB für das Funktionssystem der Verdauungsorgane mit 40 anzusetzen ist.

Unklar bleibt allerdings auch nach erneuter Begutachtung des Klägers durch den Sachverständigen Dr. H, ob im maßgeblichen Zeitpunkt der Herabsetzungsentschei-dung weitere Behinderungen des Klägers vorlagen. Der behandelnde Arzt Dr. K wies im Schreiben vom 1. April 2015 ausdrücklich darauf hin, dass der Kläger aufgrund der intensiven Polychemotherapie an einem ausgeprägten Fatigue-Syndrom leide. Im Befundbericht vom 2. Juli 2015 führte Dr. K weiter aus, der Kläger fühle sich an-dauernd müde. Ferner hieß es im Befundbericht vom 8. Oktober 2015, bei dem Klä-ger bestehe eine verminderte Belastbarkeit durch psychische Einschränkungen. Ent-gegen der versorgungsärztlichen Auffassung wird die verminderte Belastbarkeit bei Fatigue-Syndrom nicht bereits durch den Einzel-GdB von 40 für die Totalentfernung des Magens berücksichtigt. Denn der GdB ist auf alle Gesundheitsstörungen unab-hängig von ihrer Ursache bezogen (A 2a Satz 2 VMG); d.h. es ist unerheblich, dass das Fatigue-Syndrom Folge der Behandlung des Magenkarzinoms war. Allein maßgeblich sind vielmehr die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die jedoch durch die in B 10.2.1 VMG vorgegebenen GdB-Werte nicht abgebildet sind, da diese sich auf die Auswirkungen von Erkrankungen der Verdauungsorgane – einschließlich der seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen (vgl. A 2i und 2j VMG) – bezie-hen. Eine regelmäßige Begleiterscheinung der Totalentfernung des Magens stellt das Fatigue-Syndrom indes nicht dar und ist deshalb gesondert zu bewerten.

Insgesamt erscheint es damit nicht ausgeschlossen, dass unter Berücksichtigung der einzelnen Behinderungen des Klägers im Zeitpunkt der Herabsetzungsentscheidung der Gesamt-GdB als Ausdruck der Gesamtbeeinträchtigung mit 50 zu bilden war. Angesichts des Zeitraums von mehr als vier Jahren, der seit der Herabsetzungsentscheidung verstrichen ist, sind von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung durch Ein-holung weiterer medizinischer Gutachten keine validen Feststellungen zu erwarten, auf deren Grundlage der Senat seine Überzeugung bilden könnte, welcher Gesamt-GdB bei dem Kläger am 2. Mai 2015 zu bilden war. Die heute fehlende Aufklärbarkeit geht zu Lasten des Beklagten, da er die materielle Beweislast dafür trägt, dass – und bejahendenfalls in welchem Ausmaß – in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei dem Erlass des ursprünglichen Feststellungsbescheides vorgelegen hatten, im Zeit-punkt der Herabsetzung eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berück-sichtigt den Ausgang des Verfahrens.

Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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