L 27 R 732/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 5 R 335/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 732/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 6. September 2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Rente nur für die Zeit vom 1. April 2015 bis zum 10. Januar 2018 zu gewähren ist. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens zu 4/5 zu erstatten. Im Übrigen verbleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung zur Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung an den 1959 geborenen Kläger.

Einen Antrag des Klägers vom 8. April 2015 auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Juli 2015 ab und führte zur Begründung aus, der Kläger sei unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in der Lage, noch mehr als sechs Stunden täglich körperlich leichte Tätigkeiten, zeitweise im Gehen und Stehen, überwiegend im Sitzen zu verrichten. Zwar könne er seine bisherige Tätigkeit als Rohrschlosser nicht mehr ausüben, er sei insoweit aber auf eine Tätigkeit als Hilfskraft in der Werkzeugausgabe oder Gerätezusammensetzer für Kleingeräte zu verweisen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2016 zurück und vertiefte hierbei die Begründung des Ausgangsbescheides, wobei sie insbesondere auf den Bericht über eine stationäre Rehabilitation vom 24. Juni 2015 bis zum 15. Juli 2015 und ein Gutachten des sozialmedizinischen Dienstes Cottbus vom 23. Dezember 2015 Bezug nahm.

Mit der am 18. Juli 2016 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt, ohne jedoch einen konkreten Antrag zu formulieren. Das Sozialgericht hat Befundberichte eingeholt und weiter Beweis erhoben über das verbliebene Leistungsvermögen des Klägers durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. T, der den Kläger am 2. Mai 2017 untersucht hat und in seinem Gutachten vom 16. Mai 2017 zu der Einschätzung gelangt ist, der Kläger leide unter mäßigen Funktionsstörungen der LWS bei Zustand nach Versteifung mit sensomotorischem radikulären Residualsyndrom L1/S1, Gonarthrose und Retropatellar-Arthrose rechts mit leichten Funktionsstörungen, beginnendem Hüftgelenksverschleiß rechts mit leichten Beweglichkeitseinschränkungen sowie gut eingestelltem Bluthochdruck bei erhöhten Harnsäurewerten mit rezidivierenden Gichtanfällen. Seines Erachtens seien dem Kläger nur noch leichte körperliche Arbeiten zuzumuten, die zu 70 bis 80% im Sitzen verrichtet werden müssten. Die übrige Arbeitszeit könne im Gehen oder Stehen absolviert werden, wobei nach etwa 90-minütiger Arbeit im Sitzen ein Wechsel der Körperhaltung für die nachfolgenden 15 bis 30 Minuten nötig sei. Unter Beachtung weiterer qualitativer Einschränkungen sei eine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens nicht gegeben. Insbesondere sei der Kläger in der Lage, eine Tätigkeit als Pförtner, die körperlich leicht sei und Haltungswechsel erlaube, vollschichtig auszuüben. Insoweit bestehe Übereinstimmung mit den im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten, wonach ein vollschichtiges Restleistungsvermögen am allgemeinen Arbeitsmarkt aber ein aufgehobenes Restleistungsvermögen als Schweißer bestehe. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz hat das Sozialgericht weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. S, der den Kläger am 2. Oktober 2017 untersucht hat und in seinem Gutachten vom 2. November 2017 ausgeführt hat, mehrere den Kläger behandelnde Ärzte hätten ihm im Verlauf etwa ab Mitte 2014 schwerste degenerative Veränderungen im Bereich der LWS mit den Folgen einer Claudicatio- spinalis und einer Teillähmung des linken Beines mit Kraftminderung der Zehen-Heber-Muskulatur attestiert. Auch bei der Untersuchung durch ihn habe der Kläger das typische Bild eines Patienten mit Claudicatio-spinalis gezeigt. Ferner hätten sich ausgeprägte Funktionsstörungen des linken Beines gezeigt, mit denen übereinstimmend der Kläger eine Stand- und Gangunsicherheit mit der Neigung zum Stolpern berichte, die ihn zur Benutzung von Gehhilfen veranlasse. Die vom Kläger beklagten Krafteinbußen zeigten sich auch an einer deutlichen Muskelatrophie des linken Unterschenkels. Die natürliche Krümmung der LWS sei aufgehoben, die Entfaltung der Wirbelkörper beim Vornüberneigen sei für BWS und LWS eingeschränkt bzw. aufgehoben. Darüber hinaus sei ein ausgeprägter Gelenkerguss am rechten Kniegelenk mit mittelgradiger Beweglichkeitseinschränkung und arthrotischen Veränderungen festzustellen. Auch am rechten oberen Sprunggelenk zeige sich eine eingeschränkte Beweglichkeit mit arthrotischen Veränderungen und Deformierungen. Die in sämtlichen neurologischen Untersuchungen übereinstimmend beschriebenen Teillähmungen am linken Bein würden weder in den Verwaltungsgutachten noch im Gutachten des Sachverständigen Dr. T erwähnt. Die Claudicatio-spinalis führe zur schmerzbedingten Notwendigkeit, nach kurzer Gehstrecke Pausen einzulegen und zu einer Einschränkung der Geh- und Stehfähigkeit wie auch des längeren Sitzens. Insgesamt sei beim Kläger das auch durch den Sachverständigen Dr. T erwähnte sensomotorische Radikulärsyndrom durch schwerwiegende Veränderungen im Bereich der gesamten LWS mit Teillähmung des linken Beines festzustellen. Zusätzlich bestehe eine schmerzhafte Arthrose/Arthritis der Iliosakral-Gelenke. Dies führe zu einer qualitativen wie auch quantitativen Einschränkung des Leistungsvermögens, die nach seiner Einschätzung dem Kläger nur noch eine Erwerbstätigkeit von drei bis unter sechs Stunden täglich ermögliche. In qualitativer Hinsicht könnten noch Arbeiten verrichtet werden, die ganz überwiegend im Sitzen im Wechsel mit Gehen und Stehen verrichtet werden könnten. Gemessen an der gesamten Arbeitszeit sollten 70% im Sitzen verrichtet werden. Auch kämen nur noch Arbeiten in geschlossen Räumen in Betracht. Darüber hinaus bestünden weitere qualitative Einschränkungen. Im Rahmen körperlich leichter Tätigkeiten könnten einfache Verrichtungen mit Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen, Kleben, Sortieren, Verpacken oder Zusammensetzen bzw. als Pförtner z.B. das Überreichen des Schlüssels zugemutet werden. Zusätzliche Pausen seien nicht nötig. Die Wegefähigkeit des Klägers sei erhalten. Die Einschränkung des Leistungsvermögens bestehe seit der ersten dokumentierten Feststellung der Arbeitsunfähigkeit vom 15. Mai 2014. Insofern weiche er von den Vorgutachten ab, da diese weder das Krankheitsbild der Claudicatiospinalis noch die Teillähmung des linken Beines mit erheblichen Auswirkungen auf die Gang- und Standsicherheit hinreichend berücksichtigt hätten. Tatsächlich sei aber eine wesentliche Veränderung des Gesundheitszustandes im Vergleich zu jenem bei Untersuchung durch die Vorgutachter nicht eingetreten. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen.

Die Beklagte ist dem Ergebnis der Begutachtung entgegengetreten und hat sich insoweit auf eine Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes bezogen, wonach aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S nicht nachvollziehbar und plausibel hervorgehe, warum der Kläger nicht mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein könne. Ganz und gar nicht nachvollziehbar sei darüber hinaus der angegebene Zeitpunkt des Beginns der von dem Sachverständigen angenommenen Leistungseinschränkung im Mai 2014. Soweit er sich insoweit auf die damalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit beziehe, gelte diese selbstverständlich nur für die zuletzt ausgeübte konkrete Tätigkeit und nicht für die Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Insoweit widerspreche die Einschätzung des sachverständigen auch den Einschätzungen aus dem Entlassungsbericht aus der Reha sowie dem Gutachten aus Dezember 2015.

Mit Gerichtsbescheid vom 6. September 2018 hat das Sozialgericht Cottbus die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 5. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juni 2015 verurteilt, dem Kläger ausgehend von einem Leistungsfall im Mai 2014 auf seinen Antrag vom 8. April 2015 ab dem 11. Januar 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Dauer von drei Jahren zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, denn im Ergebnis der durchgeführten Begutachtung stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger täglich zwischen drei bis unter sechs Stunden leistungsfähig sei, jedoch der Teilzeitarbeitsmarkt für den gegenwärtig nicht beschäftigten Kläger verschlossen sei. Hinsichtlich der medizinischen Feststellungen folge die Kammer dem Sachverständigen Dr. S, der den Kläger persönlich untersucht und überzeugend dargelegt habe, dass der medizinische Leistungsfall beim Kläger eingetreten sei und zwar im Mai 2014. Damit ergebe sich der Rentenbeginn aus § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, wobei die Rente wegen eines nicht auszuschließenden Eintritts einer Verbesserung des Gesundheitszustandes nur befristet gewährt werden könne. Insoweit sei eine Befristung von drei Jahren angemessen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Gerichtsbescheid Bezug genommen, der der Beklagten am 9. Oktober 2018 zugestellt worden ist.

Mit der am 29. Oktober 2018 eingelegten Berufung hält die Beklagte zum einen den Eintritt des Leistungsfalles für nicht nachgewiesen und ist darüber hinaus der Ansicht, die Verurteilung zur Gewährung einer Rente ab dem 11. Januar 2015 aufgrund eines Antrages vom 8. April 2015 und eines Leistungsfalles im Mai 2014 sie rechtlich nicht möglich. Selbst wenn die Beklage die Einschätzung des Sozialgerichts zum Eintritt des Leistungsfalles hinnähme, könne sie die tenorierte Leistung nicht wie ausgeurteilt gewähren.

Die Beklage beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 6. September 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger wird beantragen,

die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Rente erst ab dem 1. April 2015 zu gewähren sei, hilfsweise den Sachverständigen Prof. Dr. Sch als Sachverständigen nach § 109 Sozialgerichtsgesetz zu hören zu der Frage des Zeitpunktes des Eintrittes des Versicherungsfalles.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges der Beklagten Bezug genommen. Er hat vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber im Wesentlichen nicht begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, weil er unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch zwischen drei und unter sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, er arbeitslos ist und schließlich weiterhin von einer Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes auszugehen ist.

Nachdem zwischen den Beteiligten zu Recht das Vorliegen der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gem. § 43 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 3 SGB / sechstes Buch (SGB VI) wie auch die Verpflichtung zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an teilweise erwerbsgeminderte aber arbeitslose Versicherte unstreitig ist, hatte der Senat nur über die Frage zu befinden, ob das beim Kläger vorhandene Leistungsvermögen für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mit mindestens sechs Stunden täglich oder aber darunter zu bemessen ist. Insoweit hält der Senat die fachliche Einschätzung des Sachverständigen Dr. Sch für überzeugend, wonach das Leistungsvermögen des Klägers auf unter sechs Stunden täglich gesunken sei. Ursächlich hierfür ist das Bestehen einer Claudicatio-spinalis, also einer Wirbelkanalverengung, die mit einer erheblichen Schmerzhaftigkeit einhergeht. Beim Kläger hat sie nach den Feststellungen des Sachverständigen bereits zu einer Teillähmung im Bein mit deutlicher Muskelatrophie geführt, und es hat eine operative Versteifung der Lendenwirbelsäule vorgenommen worden müssen, die nur äußerst vorübergehend zu einer Besserung geführt hat. Der Senat hält es für überzeugend, dass eine erhebliche Dauerschmerzbelastung, die mit einer Teillähmung und deutlicher Muskelatrophie des Beines einhergeht, sich auch in einer Minderung des quantitativen Leistungsvermögens selbst für körperlich leichte Tätigkeiten auswirkt. Er folgt daher der Einschätzung des Sachverständigen Dr. Sch, wonach die Leistungsfähigkeit des Klägers auf unter sechs Stunden täglich gesunken sei. Dies gilt auch für den Zeitpunkt des sog. medizinischen Leistungsfalls im Mai 2014. Zwar ist es schwer, rückwirkend eine verlässliche Einschätzung vorzunehmen, doch belegt die Muskelatrophie, dass der Kläger jedenfalls seit längerer Zeit im Gebrauch des Beines deutlich eingeschränkt ist. Auch das Attest des den Kläger behandelnden Neurochirurgen vom März 2015 bestätigt bereits seit dem Jahr 2013 die Symptomatik der Claudicatio-spinalis mit OP-Indikation, so dass die Annahme, die quantitative Leistungseinschränkung habe im Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit im Mai 2014 vorgelegen, den Senat überzeugt.

Allerdings war die Berufung nur mit einer einschränkenden Maßgabe zurückzuweisen. Das Sozialgericht hat unter Annahme eines dem Grunde nach gegebenen Rentenanspruches bereits vor Antragstellung einen im Widerspruch zu § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI stehenden Rentenbeginn ausgeurteilt, denn nach dieser Vorschrift wird die Rente von dem Monat an geleistet, in dem der Antrag gestellt wird, hier also April 2015. Der vom Kläger beantragten Beweiserhebung bedurfte es insoweit nicht, denn die Frage des Rentenbeginnes ist in der vorliegenden Konstellation keine medizinische, sondern eine Rechtsfrage. Da der Gerichtsbescheid nur durch die Beklagte mit der Berufung zur Überprüfung des LSG gestellt worden ist, musste es schließlich auch bei der durch das Sozialgericht ausgesprochenen Befristung der Rentengewährung bis zum 10. Januar 2018 bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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