L 9 KR 324/18 NZB

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 211 KR 1361/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 324/18 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 05. September 2018 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 255,50 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die am 09. Oktober 2018 schriftlich eingelegte Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 05. September 2018 ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Da es sich um eine Erstattungsstreitigkeit i.S. des § 144 Satz 1 Nr. 2 SGG handelte und der maßgebliche Beschwerdewert von 10.000 Euro nicht erreicht wurde, bedarf die Berufung der Zulassung. Eine solche hat das Sozialgericht nicht ausgesprochen. Die Beschwerde ist form- und fristgerecht (§§ 145 Abs. 1 Satz 2; 64 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1; 145 Abs. 2 SGG) erhoben worden.

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Ein Zulassungsgrund im Sinne des § 144 Abs. 2 SGG liegt nicht vor. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung (hierzu a)); noch liegt eine Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG vor (hierzu b)). Einen Verfahrensmangel (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG) macht die Beklagte nicht geltend.

a) Eine grundsätzliche Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG) ist nur dann gegeben, wenn das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Rechtsprechung und Fortentwicklung des Rechts berührt ist bzw. wenn zu erwarten ist, dass die Entscheidung dazu führen kann, die Rechtseinheit in ihrem Bestand zu erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Das kann der Fall sein, wenn die Klärung einer Zweifelsfrage mit Rücksicht auf eine Wiederholung ähnlicher Fälle erwünscht ist bzw. wenn von einer derzeitigen Unsicherheit eine nicht unbeträchtliche Personenzahl betroffen ist. Die Weiterentwicklung des Rechts wird dabei gefördert, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesvorschriften aufzustellen oder Lücken zu füllen oder wenn die Entscheidung Orientierungshilfe für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Sachverhalte geben kann (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, 2017, § 144 Rn. 28 und § 160 Rn. 6 ff.).

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Weder hat die Beklagte eine in dem vorgenannten Sinn klärungsfähige noch bedürftige Rechtsfrage aufgezeigt, noch liegt eine solche vor. Die von ihr formulierte Rechtsfrage: "Ist die Versorgung gehörloser Kinder mit einer Software und Begleitbüchern zum Erlernen von Gebärdensprache als Gewährung von Hilfsmitteln im Sinne des § 33 SGB V zu qualifizieren?", stellt sich als allgemeine, über den Fall hinausgehende, Rechtsfrage in dem vorliegenden Fall bereits nicht. Sie ist nicht i. S. einer Verallgemeinerung klärungsfähig. Vielmehr handelt es sich um Rechtsanwendung in einem Einzelfall auf dem Boden bereits gefestigter Grundsätze. Für den Erstattungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte ist zwar nach § 14 Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX – in der bis zum 31.12.2015 geltenden Fassung vom 19. Juni 2001 – BGBl. I, 1046) i. V. m. § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX Voraussetzung, dass dieser Leistungen erbracht hat, für die die Beklagte insgesamt materiell zuständig ist. Das setzt voraus, dass es sich bei der Software "Tommys Gebärdenwelt (1-3-) - Spielerisch Gebärdensprache lernen für Kinder ab 3 Jahren" überhaupt um eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) handeln kann. Das ist zu bejahen. Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind zunächst gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) solche zur Behandlung einer Krankheit (§§ 27 bis 52 SGB V). Versicherte haben nach § 11 Abs. 2 SGB V aber auch Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die notwendig sind, um eine Behinderung zu mindern, auszugleichen oder ihre Folgen zu mildern. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden unter Beachtung des Neunten Buches (SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der bis zum 31.12.2019 geltenden Form) erbracht, soweit im SGB V nichts anderes bestimmt ist (§ 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V).

Hilfsmittel dienen gemäß § 33 SGB V dazu, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Geklärt ist, dass auch Software-Anwendungen solche Hilfsmittel sein können. Das gilt auch dann, wenn sie Inhalte aufweisen, die selbst auch Gegenstand von Dienstleistungen im Rahmen von Heilmittelanwendungen sein können (konkret z.B. Ergotherapie). Das BSG hat dazu bereits 2001 ausgeführt: "Die PC-Zusatzausrüstung mit Hard- und Software für ein häusliches Hirnleistungstraining ist danach ein Hilfsmittel (§ 33 SGB V), auch wenn es dazu dient, ein Training durchzuführen, das ebenso von niedergelassenen Ergotherapeuten (§ 124 SGB V) angeboten wird und dann als Heilmittel (§ 32 SGB V) gilt." (BSG, Urteil vom 28. Juni 2001 – B 3 KR 3/00 R –, BSGE 88, 204-215, Rn. 3). Für den Einsatz der streitgegenständlichen (Lern-)Software ist die Entscheidungserheblichkeit der von der Beklagten aufgeworfenen Rechtsfrage bereits deshalb nicht belegt, weil offen ist, ob das Küberhaupt gehörlos ist und die Software dem Erlernen der Gebärdensprache diente. Denn es ist von der Beklagten weder vorgetragen noch ergibt es sich aus den Akten, dass das Kind gehörlos ist. Die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin gab in ihrer Verordnung (vom 04. September 2015) als Diagnose für das damals 2 ½- jährige Kind "erhebliche Kommunikations- und Sprachprobleme" an. Ob es sich dabei um eine Hörbehinderung (aufgrund unzureichenden Hörvermögens) oder eine andere Art der Störung der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit handelt (neurophysiologisch oder sozial), lässt sich dem nicht entnehmen. Läge keine Gehörlosigkeit, sondern eine anderweitige, nicht hörbedingte Störung der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit z.B. als Entwicklungsverzögerung i.S. von F80.0 – F80.9 oder R47 – R49, d.h. "Sprech- und Sprachstörungen, anderenorts nicht klassifiziert" bzw. "Symptome, die die Sprache und die Stimme betreffen" i.S. des ICD-10 vor, wäre eine Krankheit gegeben. Die verordnete Software könnte in diesem Fall auch allein zu therapeutischen Zwecken, konkret der Besserung einer krankheitsbedingten Sprachstörung, damit der Krankenbehandlung i.S. des § 27 Abs. 1 SGB V und nicht zum Erlernen einer Gebärdensprache als Kommunikationsmittel eingesetzt worden sein. Dass das Lernprogramm ("Tommys Gebärdenwelt") nach dem herausgebenden Verlag dem Erlernen eines Grundwortschatzes in Gebärdensprache und Laut- und Schriftsprache dient, belegt den entsprechenden konkreten Einsatz dagegen nicht.

Selbst wenn man aber davon ausginge, dass das Kind gehörlos ist und die Software verordnet wurde, damit es die Gebärdensprache als eigenständige Kommunikationsart erlernt, sind die maßgebenden rechtlichen Grundlagen für die Frage, ob es in die Leistungszuständigkeit der GKV und dort speziell unter § 33 SGB V fällt, geklärt. Geklärt ist eine Rechtsfrage nicht erst, wenn dazu gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt. Es genügt vielmehr, wenn sich für die Antwort aus anderen höchstrichterlichen Entscheidungen bereits hinreichende Anhaltspunkte ergeben (BSG, Beschluss vom 31. März 1993 – 13 BJ 215/92 – Rn. 6, juris).

Ausgehend davon käme im vorliegenden Fall im Bereich des SGB V eine Leistungspflicht der GKV i.S. von § 33 SGB V zum mittelbaren Behinderungsausgleich in Betracht. Denn die mit der Software erlernte Gebärdensprache ermöglicht nicht das Hören oder den Sprechakt, sondern das Kommunizieren des Kindes. Dann ist die Leistung von solchen der Eingliederungshilfe abzugrenzen. Die Gebärdensprache für Gehörlose kann auch Gegenstand von Maßnahmen der Eingliederungshilfe sein (§§ 53, 54 Abs. 1 Zwölftes Buch/ Sozialgesetzbuch - SGB XII i. V. m. § 55 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX). Denn nach § 16 Nr. 2 EinglHV (in der Fassung bis zum 31.12.2019) gehören zu den Maßnahmen auch "Kurse und ähnliche Maßnahmen zugunsten behinderter Menschen zur Verständigung mit anderen Personen". (Ab dem 01. Januar 2020 nach § 116 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX: "Leistungen zur Förderung der Verständigung").

Entscheidend für die notwendige Abgrenzung ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung aber nicht der Gegenstand der Leistung, sondern seine Zielrichtung im Einzelfall. Das BSG hat mit Urteil vom 29. September 2009 entschieden (Az. B 8 SO 19/08, Rn. 21, juris – PeTö-Therapie), dass die Abgrenzung nach dem (konkreten) Leistungszweck im Einzelfall zu erfolgen hat. Dabei können sich die Leistungszwecke des SGB V bzw. der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Rehabilitation auch überschneiden; insbesondere verfolgen die Leistungen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII (a.F.) über die Zwecke der GKV hinausgehende Ziele. In diesem Fall ist ausschlaggebend, wo der Schwerpunkt der Zielsetzung der in Frage stehenden Leistung liegt (BSG, Urteil vom 29. September 2009 – B 8 SO 19/08 R, Rn. 21, juris – PeTö-Therapie). Maßgeblich ist für den mittelbaren Behinderungsausgleich, ob die Leistung einem elementaren Grundbedürfnis des täglichen Lebens dient. Insgesamt ist dabei bei

Kindern und Heranwachsenden nach ständiger Rechtsprechung des BSG ein großzügigerer Maßstab anzulegen, um ihrer weiteren Entwicklung Rechnung zu tragen. (Beck/Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 33 SGB V, Rn. 30 m.w.N.). Zum Grundbedürfnis kann allgemein auch die Kommunikation und Information sowie für Kinder die Vorbereitung für den Eintritt in eine Grundschule gehören. Wenn die Lern-Software dagegen speziell der Ermöglichung einer Kommunikation z.B. mit anderen hörgeschädigten Menschen/Kindern oder des Aufsuchens einer speziellen Einrichtung dient, kommt eine Teilhabeleistung am Leben in der Gemeinschaft als Eingliederungshilfe in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juli 2004 – B 3 KR 13/03 R – Notebook-PC für Blinde; Urteil vom 16. April 1998 – B 3 KR 6/97 R – Lese-Sprechgerät mit Braille-Zeile). Die Ermittlung des nach diesen Grundsätzen konkreten Leistungszwecks muss im Einzelfall erfolgen. Sie bedarf dagegen keiner weiteren Auslegung von (unbestimmten) Rechtsbegriffen.

b) Auf eine Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG beruft sich die Beklagte nicht ausdrücklich. Sie liegt auch nicht vor. Soweit die Beklagte auf die Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz vom 05. Januar 2017 (L 5 KR 63/16) in ihrer Begründung hingewiesen hat, hatte diese Entscheidung einen anderen Ausgangsfall. Sie beschäftigte sich mit einem Anspruch auf einen Gebärden-Sprachkurs für einen Kläger mit nachgewiesener Hörstörung (eine hochgradige an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit). Es handelte sich nicht um ein Hilfsmittel, sondern ein Heilmittel, welches aus Sicht des LSG Rheinland-Pfalz per se nicht verordnungsfähig i.S. der GKV sei, weil es als neues Heilmittel an einer positiven Empfehlung des GBA mangelte.

Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Der Streitwertbeschluss beruht auf § 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG). Nach § 145 Abs. 4 Satz 4 SGG wird das Urteil des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Landessozialgericht rechtskräftig.
Rechtskraft
Aus
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