L 32 AS 79/20 B ER PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 39 AS 8797/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AS 79/20 B ER PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. Dezember 2019 geändert und dem Antragsteller für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung oder Beiträge aus dem Vermögen unter Beiordnung von Rechtsanwalt E gewährt.

Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Gegenstand des Rechtsstreites ist die Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein Verfahren, in welchem der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Aufhebungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. September 2019 begehrt.

Der 1997 geborene Antragsteller bezog von der Antragsgegnerin Grundsicherungsleistung nach dem SGB II. Er beantragte am 17. April 2019 die Weiterbewilligung der Leistungen. Mit Schreiben vom 17. April 2019 teilte der rechtliche Betreuer der Antragsgegnerin die Einrichtung der Betreuung mit, welche die Aufgabenkreise Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge, Vermögenssorge, Vertretung vor Behörden, Sozialversicherungsträgern und Gerichten sowie Wohnungsangelegenheiten umfasst. Die Antragsgegnerin bewilligte dem Antragsteller mit Bescheid vom 26. April 2019 in der Form des Bescheides vom 2. Mai 2019 Grundsicherungsleistungen (ohne Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung). In einem Telefonat vom 22. Mai 2019 teilte der rechtliche Betreuer des Antragstellers der Antragsgegnerin mit, dass der Antragsteller seit einiger Zeit ohne festen Wohnsitz sei, da dessen Mutter ihn aus der Wohnung abgemeldet habe. Er sei für den Betreuer nicht erreichbar und auch nicht arbeitsfähig. Mit Schreiben vom 27. Mai 2019 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass die Zahlung der Leistungen vorläufig eingestellt worden sei, weil der derzeitige Aufenthalt nicht bekannt sei. Dem Antragsteller wurde Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern. Mit Schreiben vom 3. Juni 2019 teilte der Betreuer des Antragstellers mit, dass richtig sei, dass der Antragsteller von seiner Mutter abgemeldet worden sei, weil sie ihn nicht mehr beherbergen wolle. Der Antragsteller sei psychisch krank und finde sich immer wieder im Krankenhaus V N ein. Gleichzeitig melde er sich unregelmäßig bei seinem Vater. Insofern seien die Ausführungen der Antragsgegnerin nicht richtig, da sich der Antragsteller noch in seinem ursprünglichen Wohnumfeld/Bezirk aufhalte. Seine Krankheit mache es für den Betreuer zur Zeit unmöglich mit ihm Kontakt aufzunehmen. Folglich könne er auch keine Kenntnis von den Einladungen erhalten. Zugleich stellte der Betreuer formlos einen Antrag auf Überprüfung des zeitlichen Arbeitsumfangs. Er forderte die Antragsgegnerin auf, die Zahlungen wieder aufzunehmen.

Mit Bescheid vom 14. Juni 2019 hob die Antragsgegnerin die Bescheide vom 24. April 2019 und 3. Mai 2019 ab 1. Juni 2019 ganz auf. Sie gab als Grund für die Aufhebung an: "Sie sind unter Ihrer angegebenen Anschrift nicht erreichbar. Nach § 1 der Erreichbarkeitsanordnung ist von Ihnen sicherzustellen, dass Sie persönlich an jedem Werktag unter der von ihm genannten Anschrift durch Briefpost erreichbar sind. Somit konnte Ihre Hilfebedürftigkeit im Sinne des Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 9 SGB II) nicht ausreichend geprüft werden. Sie haben somit ab dem 1. Juni 2019 keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch."

Dagegen wandte sich der Betreuer des Antragstellers mit Schreiben vom 20. Juni 2019 und verlangte die Wiederaufnahme der Zahlung. Der Antragsteller stehe unter Betreuung, die Post gehe an die Adresse des Betreuers. Des Weiteren habe der Betreuer am Vortag mit dem Antragsteller telefoniert. Dieses Schreiben bewertete die Beklagte als Widerspruch und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 6. September 2019 zurück. Die Unbegründetheit folge bereits aus der Begründung des Aufhebungsbescheides. Darüber hinaus sei auszuführen, dass die Situation nicht deshalb anders zu beurteilen sei, weil der Betreuer des Antragstellers erreichbar sei. Es genüge nicht, dass der Betreuer erreichbar sei, wenn dieser wiederum den Antragsteller nicht darüber in Kenntnis setzen könne, dass er zu Terminen beim Widerspruchsgegner zu erscheinen habe. Eine Leistungsbedürftigkeit könne deshalb durch die Antragsgegnerin nicht abschließend festgestellt werden.

Dagegen hat sich der Antragsteller mit seiner Klage zum Aktenzeichen S 101 AS 8811/19 gewandt. Mit Schreiben vom 18. September 2019 beantragte der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. September 2019. Zugleich beantragte der Antragsteller die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Antragsverfahren. Er reichte die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und entsprechende Belege zur Glaubhaftmachung ein. Das Sozialgericht Berlin hat mit Beschluss vom 9. Dezember 2019 die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Jedenfalls für die Zeit ab 25. September 2019 sei die Aufhebungsentscheidung des Antragsgegners nicht zu beanstanden, da der Antragsteller ab dieser Zeit nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sei. Aber auch für die Zeit davor falle die im Rahmen des Eilverfahrens notwendige und mögliche Interessenabwägung zulasten des Antragstellers aus. Die Ermittlungen des Vorsitzenden der Kammer hätten ergeben, dass sich der Antragsteller immer dann telefonisch bei seinem Betreuer melde, wenn er Geld benötige. Da er jedoch sein Mobiltelefon verloren habe, sei er nach Auskunft seines Betreuers nicht erreichbar. Der Betreuer habe bereits am 22. Mai 2019 mitgeteilt, dass der Antragsteller für ihn aktuell nicht erreichbar sei. Die Antragsgegnerin habe daher zu Recht im Rahmen der durch das Sozialgericht möglichen summarischen Rechtsprüfung das Eingreifen des zum Leistungsausschluss führen § 7 Abs. 4a SGB II angenommen. Diese Vorschrift komme zur Anwendung, wenn der Leistungsberechtigte nicht sicherstelle, dass er Mitteilungen des Arbeitsamts persönlich zur Kenntnis nehmen, das Arbeitsamt aufsuchen, mit einem potenziellen Arbeitgeber Kontakt aufnehmen könne. Dass ein solcher Fall hier vorliege, habe der bestellte Betreuer bestätigt, indem er mitgeteilt habe, dass die Krankheit des Antragstellers es für ihn unmöglich mache, mit diesem Kontakt aufzunehmen. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe sei abzulehnen gewesen, da aus den vorgenannten Gründen keine Erfolgsaussichten bestünden.

Gegen den am 11. Dezember 2019 zugestellten Beschluss richtet sich die am 9. Januar 2020 eingelegte Beschwerde, die sich nur auf die Ablehnung von Prozesskostenhilfe bezieht. Der Bescheid vom 14. Juni 2019 sei bereits deshalb rechtswidrig, weil es an einer § 35 Abs. 1 SGB X entsprechenden Begründung der rechtlichen Gesichtspunkte fehle. Eine Ermächtigungsgrundlage nenne die Antragsgegnerin nicht. Für die hier vorgenommene rückwirkende Aufhebung ab dem 1. Juni 2019 komme allein § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X in Betracht. Der Anspruch des Antragstellers sei jedoch nicht deshalb weggefallen, weil der Beschwerdeführer nicht erreichbar gewesen sei. Die Erreichbarkeit nach § 7 Abs. 4a SGB II stelle keine echte Anspruchsvoraussetzung für eine Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II dar, sondern einen bloßen Ausschlusstatbestand, der das ungenehmigte Verlassen des zeit- und ortsnahen Bereichs des Grundsicherungsträgers sanktionieren wolle. Da § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II ausdrücklich nicht einen Wohnsitz oder eine Wohnung fordere, könnten auch Obdachlose einen gewöhnlichen Aufenthalt haben und damit erwerbsfähige Hilfebedürftige sein. Die Erreichbarkeit des wohnungslosen Antragstellers sei im streitigen Zeitraum über seinen gerichtlich bestellten Betreuer gewährleistet gewesen. Jedenfalls seien die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 4a SGB II vorliegend nicht erfüllt. Der Antragsteller sei obdachlos gewesen und habe erhebliche psychische Probleme. Der Lebensunterhalt des Antragstellers bedürfte der Sicherung unabhängig von seiner lediglich nach Ansicht der Antragsgegnerin fehlenden Erreichbarkeit.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter gemäß § 155 Abs. 3, 4 SGG einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten gemäß §§ 153 Abs. 1, 136 Abs. 2 SGG Bezug genommen.

II.

Über die Beschwerde kann der Senat auf das Einverständnis der Beteiligten gemäß § 155 Abs 3, 4 SGG allein durch seinen Berichterstatter entscheiden. Bei der Abwägung hat der Senat berücksichtigt, dass die Sozialgerichte grundsätzlich als Kollegialgerichte ausgestaltet sind und den Entscheidungen eines Kollegiums eine höhere Richtigkeitsgewähr beigemessen wird. Deshalb sollen nur solche Verfahren von einem Einzelrichter entschieden werden, die keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen (BSG, Urteil vom 07.08.2014, B 13 R 37/13 R, RdNr. 14 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die rechtlichen Maßstäbe zur Beurteilung des Sachverhalts sind durch die Rechtsprechung des BSG geklärt. Der vorliegende Fall wirft, an diesen Maßstäben gemessen, keine neuen rechtlichen Fragen auf. Die Ermessensausübung hat zudem den Zweck der Regelung beachtet, zu einer Straffung des Verfahrens und einer Entlastung des LSG beizutragen, ohne den Anspruch der Beteiligten auf einen angemessenen Rechtsschutz zu vernachlässigen (vgl die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege, BT-Drs 12/1217 S 53 - zu Nr 9 -§ 155 SGG; BSG, Urteil vom 07.08.2014, B 13 R 37/13 R, RdNr 14).

Die Beschwerde ist zulässig; sie ist insbesondere statthaft. Ein Ausschluss der Beschwerde nach § 172 Abs. 3 SGG liegt nicht vor. Die Berufung bedürfte bei voller Antrags-/Klagestattgabe oder -abweisung nicht der Zulassung, weil das vom Antragsteller verfolgte Begehren den erforderlichen Beschwerdewert erreichen würde.

Die auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Die Rechtsverfolgung bot hinreichende Aussicht auf Erfolg und war nicht mutwillig. Es kommt auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife, also der Vorlage der Unterlagen für die Prüfung der prozessualen Bedürftigkeit und der Antragsbegründung an, im vorliegenden Fall also auf den Zeitpunkt bereits der Antragstellung. Die Beiordnung anwaltlichen Beistandes war dafür auch im Sinne von §§ 73a Abs. 1 SGG, 121 Abs. 2 ZPO erforderlich.

Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 ZPO erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist dann anzunehmen, wenn das Gericht aufgrund summarischer Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass der Erfolg der Rechtsverfolgung eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.12.2008, 1 BvR 1404/04, RdNr 29). Diese gewisse, also nicht nur unerhebliche Wahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Beteiligten aufgrund der Sachverhaltsschilderung, der vorgelegten Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt: SGG, 12. Auflage § 73a, RdNr. 7a). Bei nur teilweise anzunehmender Erfolgsaussicht ist in den gerichtskostenfreien Verfahren Prozesskostenhilfe unbeschränkt zu gewähren (vgl. Leitherer ebd. m.w.N.); Ausnahmen kommen bei selbständigen Streitgegenständen, also insbesondere bei Klagenhäufung in Betracht. Einerseits dürfen die Anforderungen an eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht überspannt werden (BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990, 2 BvR 94/88, BVerfGE 81, 347, 358 - JURIS-RdNr 27). Andererseits darf Prozesskostenhilfe auch verweigert werden, wenn der Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. BVerfG ebd. JURIS-RdNr 26). Kommt eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde, bzw. hält das Gericht eine Beweiserhebung für notwendig, so kann in der Regel Erfolgsaussicht nicht verneint werden (BVerfG, Beschluss vom 15.12.2008, 1 BvR 1404/04, RdNr. 30, Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt: SGG, 12. Auflage, § 73a RdNr. 7a). Weil Vertretbarkeit des Rechtsvorbringens ausreicht, hat ein Rechtsschutzbegehren auch dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990, 2 BvR 94/88, BVerfGE 81, 347, 358f - JURIS-RdNr. 28 mwN).

Nach diesen Maßstäben ist eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antrag Erfolg hätte haben müssen, anzunehmen.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, diese ganz oder teilweise anordnen. Die aufschiebende Wirkung entfällt gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen, wie nach § 39 SGB II, der auch Aufhebungsverwaltungsakte für Grundsicherungsleistungen wie im vorliegenden Fall erfasst. Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung ausnahmsweise dennoch durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Suspensivinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Zu dieser Abwägung ist der in § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG enthaltene Maßstab für eine Aussetzung der Vollziehung durch die Verwaltung entsprechend heranzuziehen. Danach soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgabepflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 01.03.2019, L 9 KR 13/19 B ER, JURIS.RdNr. 8; Beschluss vom 10.07.2015, L 32 AS 1379/15 B ER, JURIS-RdNr. 37; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Auflage 2017, § 86a Rz. 12 ff.).

Es bestanden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides der Antragsgegnerin vom 14. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. September 2019. Auch wenn die Beklagte weder im Bescheid noch im Widerspruchsbescheid eine Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebungs-entscheidung mitgeteilt hat, kommt dafür nur §§ 40 Abs. 1, 2 Nr. 3 SGB II, 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III, 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X in Betracht.

Für diese Ermächtigungsgrundlage fehlt dem Bescheid die formelle Rechtmäßigkeit, weil die nach § 24 Abs. 1 SGB X erforderliche Anhörung nicht erfolgt ist. Zwar wurde dem Antragssteller Gelegenheit gegeben, sich zur Frage seines derzeitigen Aufenthalts zu äußern, nicht jedoch zur Ermächtigungsgrundlage der Aufhebungsverfügung und auch nicht zu den tatsächlichen Umständen der Tatbestandsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 4a SGB II. Der Anhörungsfehler wurde auch nicht im Widerspruchsverfahren geheilt, weil der Bescheid vom 14. Juni 2019 in seiner Begründung weder die Ermächtigungsgrundlage noch § 7 Abs. 4a SGB II und die dafür relevanten Tatsachen, auf die sich die Antragsgegnerin stützte – mit Ausnahme des Umstandes, dass der Antragssteller unter der angegebenen Adresse nicht erreichbar sei – mitteilte. Soweit in der Anlage zum Bescheid § 7 Abs. 4a SGB II im Wortlaut mitgeteilt wurde, ergeben sich daraus nicht die Anwendbarkeit und die Tatbestandsvoraussetzungen der Erreichbarkeitsanordnung (EAO). Tatsachen, wonach sich der Antragssteller im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II nicht im Bundesgebiet und im Sinne von § 7 Abs. 4a SGB II im zeit- und ortsnahen Bereich der Antragsgegnerin aufgehalten haben könnte, wurden nicht mitgeteilt. Ebenso wenig wurden Tatsachen zum subjektiven Tatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X mitgeteilt. Eine hinreichende Anhörung ist mithin nicht erfolgt oder nachgeholt worden. Wegen § 42 Satz 2 SGB X bestand bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts ein Anspruch auf Aufhebung des Bescheides wegen fortbestehender formeller Rechtswidrigkeit.

Zudem spricht eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Bescheid auch materiell rechtswidrig ist, denn es ist nicht belegt, dass die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X vorlagen. Dabei kommt es nicht auf den Zeitpunkt des 25. September 2019 an, sondern auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides, spätestens auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides, welcher nach dem Eingangsstempel auf den 10. September 2019 zu datieren ist. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Betreuer des Antragsstellers wieder Kontakt zu diesem. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Aufhebung ist von der Antragsgegnerin zu beweisen, weshalb ihre Ausführungen, die Hilfebedürftigkeit sei nicht belegt, neben der Sache liegen. Angesichts der sich aus der Bestellung eines Betreuers ergebenden psychischen Störung des Antragsstellers sind die subjektiven Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage nicht belegt. Schon gar nicht, dass dem Antragssteller angesichts der intransparenten und dem Antragssteller auch von der Antragsgegnerin nicht offen gelegten Regelung zur Erreichbarkeit zumindest grobfahrlässig hätte bekannt gewesen sein müssen, dass der Anspruch inzwischen entfallen sein musste. Die maßgebliche Regelung zur Erreichbarkeit bestimmt sich tatsächlich nicht nach § 7 Abs. 4a SGB II in der von der Antragsgegnerin mitgeteilten Fassung, sondern wegen § 77 Abs. 1 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung des SGB II. Damals war der Antragssteller 13 Jahre alt.

Diese Fassung lautete: "Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält; die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung gelten entsprechend." Die Antragsgegnerin hat nicht belegt, dass der Antragssteller im Juni 2019 oder am 10. September 2019 seinen Aufenthalt außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs der Antragsgegnerin hatte. Der Antragssteller hat hinreichende Anhaltspunkte dafür geliefert, dass er sich sehr wohl in diesem Bereich aufhielt. Soweit die weiteren Vorschriften der EAO eine Erreichbarkeit vorsehen, gelten sie nur entsprechend. Sie dienen auf keinen Fall, wie die Antragsgegnerin meinte, der Klärung der Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II, auch nicht der Klärung der Hilfebedürftigkeit, sondern der aktiven Mitwirkung an seiner Eingliederung in den Arbeitsmarkt (BT-Drucksache 16/1696, S. 26). Bei der entsprechenden Auslegung des § 7 Abs. 4a SGB II a.F. und der EAO sind die Regelungsprinzipien des SGB II und die Gesetzesmaterialien zu beachten. Insbesondere kommt es im SGB II nicht wie in der Arbeitslosenversicherung auf Verfügbarkeit und postalische Erreichbarkeit an (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 02.02.2012, L 11 AS 853/09, JURIS-RdNr. 24 m.w.N.). Insofern erscheint zudem bereits zweifelhaft, ob bei fortbestehender Hilfebedürftigkeit und fortbestehendem Inlandsaufenthalt die Rechtsfolge des § 7 Abs. 4a SGB II eintreten kann. Zur Begründung hat sich der Gesetzgeber vor allem auf Auslandsaufenthalte und darauf, dass für diese die Sanktionen nach § 31 SGB II nicht ausreichen würden, bezogen (BT-Drucksache 16/1696, S. 26). Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum muss bei der Auslegung berücksichtigt werden. Die vollständige Versagung von Leistungen kommt nach der Rechtsprechung des BVerfG (Urteil vom 05.11.2019 – Sanktionen) nur bei sehr schwerwiegenden Mitwirkungsverstößen in Betracht. Die insofern erforderliche Auslegung der Regelungen des § 7 Abs. 4a SGB II a.F. i.V.m. der EAO ist bislang höchstrichterlich nicht erfolgt. Es handelt sich mithin um eine schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfrage. Allein deshalb konnte dem Antrag hinreichende Erfolgsaussicht nicht abgesprochen werden. Es erscheint vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund höchst zweifelhaft, ob eine derartige Rechtsfolge beim psychisch kranken Antragsteller im Rahmen der vom BVerfG geforderten Angemessenheitsprüfung Bestand haben kann.

Der Umfang der psychischen Beeinträchtigungen des Antragstellers wäre, sofern keine nähere medizinische Sachverhaltsaufklärung im Eilverfahren in Frage kam, jedenfalls bei den Erfolgsaussichten im Hinblick auf einen wichtigen Grund und auf die subjektiven Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage zu berücksichtigen gewesen. Die Einrichtung der Betreuung und der Umfang der Betreuungsbereiche lieferten einen zumindest hinreichenden tatsächlichen Umstand dafür. In der Zusammenschau aller rechtlichen Aspekte ergeben sich mithin sehr erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides. Unter diesen Umständen ließ sich ein relevantes Vollzugsinteresse nicht annehmen.

Die Rechtsverfolgung erschien nicht mutwillig.

Die Vertretung des Antragstellers durch einen Rechtsanwalt war angesichts der rechtlichen Schwierigkeiten zu klärenden Rechtsfragen geboten (§ 121 Abs 2 ZPO).

Nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen konnte der Antragsteller die Verfahrenskosten nicht aufbringen. Er war prozessual bedürftig.

Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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