L 5 R 272/17

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 184/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 272/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine prozessbeendende Erklärung (hier: Berufungsrücknahme) kann in der Regel nicht mit der Begründung widerrufen werden, Ursache für die Erklärung sei ein fehlerhafter gerichtlicher Hinweis zur materiellen Rechtslage gewesen.
I. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit L 5 R 360/16 durch Berufungsrücknahme erledigt ist.

II. Die Beteiligten haben einander für das Fortsetzungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten stritten ursprünglich im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) darüber, ob der Klägerin unter Berücksichtigung weiterer Fachschulzeiten vom 23. Oktober 1957 bis 22. Oktober 1958 und eines kürzeren belegungsfähigen Gesamtzeitraums eine höhere Altersrente zu gewähren gewesen wäre. Umstritten ist nunmehr, ob der Rechtsstreit durch eine Prozesserklärung der Klägerin seine Erledigung in der Hauptsache gefunden hat.

Mit Bescheid vom 4. Februar 2002 bewilligte die Beklagte der 1941 geborenen Klägerin eine Altersrente für Frauen beginnend ab dem 1. November 2001. Nachdem die Überprüfungsanträge der Klägerin vom 20. Oktober 2006 und 11. April 2007 bestandskräftig abgelehnt worden waren (Bescheide vom 9. November 2006 und vom 26. April 2007), beantragte sie am 13. Mai 2013 erneut die Überprüfung des Bescheides vom 4. Februar 2002. Mit Bescheid vom 8. Januar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2014 lehnte die Beklagte den Antrag erneut ab. Die nachfolgende Klage hat das Sozialgericht Wiesbaden mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 5. August 2016 zurückgewiesen.

Mit ihrer dagegen beim Hessischen Landessozialgericht eingelegten Berufung unter dem Aktenzeichen L 5 R 360/16 verfolgte die Klägerin ihr Ziel weiter.

Im Erörterungstermin am 9. Juni 2017 erklärte die Klägerin nach Erörterung der Sach- und Rechtslage zu Protokoll:

"Ich nehme die Berufung zurück."

Diese Erklärung wurde vorläufig aufgezeichnet, der Klägerin laut vorgespielt und von dieser genehmigt.

Am 14. Juni 2017 hat die Klägerin ihre Erklärung zur Rücknahme der Berufung widerrufen und macht geltend, einen falschen Hinweis zur Rechtslage erhalten zu haben, der sie zur Rücknahme veranlasst habe.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
festzustellen, dass das Berufungsverfahren L 5 R 360/16 vor dem Hessischen Landessozialgericht nicht durch ihre Erklärung über die Rücknahme der Berufung vom 9. Juni 2017 beendet worden ist und das Verfahren fortzusetzen,

das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 5. August 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. Januar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 4. Februar 2002 teilweise zurückzunehmen und ihr eine höhere Altersrente für Frauen ab 1. November 2001 unter Berücksichtigung der Zeit vom 23. Oktober 1957 bis 22. Oktober 1958 als Fachschulausbildung sowie eines belegungsfähigen Gesamtzeitraums von 492 Monaten zu gewähren.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
festzustellen, dass das Berufungsverfahren L 5 R 360/16 durch Rücknahme der Berufung am 9. Juni 2017 erledigt ist,
hilfsweise,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich am 17. August 2017 und 28. August 2017 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf die von der Beklagten vorgelegte Rentenakte der Klägerin, deren Inhalt Gegenstand der Beratung war.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Es wird festgestellt, dass die unter dem Aktenzeichen L 5 R 360/16 geführte Berufung durch Berufungsrücknahme erledigt ist.

Gemäß § 156 Abs. 1 Satz 1 SGG kann die Berufung bis zur Rechtskraft des Urteils oder des nach § 153 Abs. 4 oder § 158 Satz 2 SGG ergangenen Beschlusses zurückgenommen werden. Die Zurücknahme bewirkt gemäß § 156 Abs. 3 Satz 1 SGG den Verlust des Rechtsmittels, wodurch der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist. Die Berufungsrücknahme ist eine einseitige Prozesshandlung und gegenüber dem Gericht abzugeben, bei welchem die Sache anhängig ist. Die Wirksamkeit hängt dabei nicht von der ordnungsgemäßen Protokollierung ab (vgl. BSG, Urteil vom 12. März 1981, 11 RA 52/80, juris = SozR 1500, § 102 Nr. 4). Wurde die Prozesserklärung gemäß § 122 SGG i.V.m. § 160 Abs. 3 Nr. 8, § 162 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ordnungsgemäß protokolliert, kommt dem Protokoll hinsichtlich der Erklärung die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde zu (§ 415 ZPO).

Die Klägerin hat im Erörterungstermin am 9. Juni 2017 ausdrücklich erklärt, dass sie die Berufung zurücknimmt. Diese Prozesserklärung ist klar und unmissverständlich. Die Klägerin hat damit zum Ausdruck gebracht, dass sie eine Entscheidung des Gerichts nicht mehr wünscht. Zweifel an der Abgabe der Erklärung bestehen nicht und werden von der Klägerin auch nicht geltend gemacht.

Die Zurücknahme der Berufung ist auch nicht durch Anfechtung oder Widerruf wirkungslos geworden.

Die erklärte Berufungsrücknahme bindet das Gericht und die Beteiligten. Dies gilt auch für den Fall, dass sich die Klägerin bei der Abgabe der Erklärung über das Motiv geirrt haben sollte. Eine Anfechtung der prozessbeendenden Erklärung ist nicht möglich, da auf Prozesshandlungen die Grundsätze des materiellen Rechts über die Anfechtung wegen Irrtums oder anderer Willensmängel nicht anwendbar sind (vgl. so schon BSG, Urteil vom 6. April 1960, 11/9 RV 214/57, juris = SozR Nr. 3 zu § 119 BGB; BSG, Urteil vom 19. März 2002, B 9 V 75/01 B, juris; BVerwG, Beschluss vom 7. August 1998, 4 B 75/98, juris = Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 115; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. März 2000, L 16 P 53/99, juris; Wehrhahn in: Breitkreuz/Fichte, § 102 SGG, Rdnr. 6). Auf die (materiell-rechtlichen) Gründe, welche die Klägerin zur Abgabe der Berufungsrücknahmeerklärung bewogen haben, kommt es für deren Wirksamkeit deshalb nicht an (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 13. Dezember 2013, L 5 R 392/13). Auch ein Widerruf der Prozesshandlung ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die Rücknahmeerklärung kann nur ausnahmsweise widerrufen werden, wenn das Berufungsurteil mit einer Restitutionsklage angefochten werden könnte, mithin ein Wiederaufnahmegrund gemäß §§ 179, 180 SGG oder § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 578 ff. ZPO vorliegen würde (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., Vor § 60 Rdnr. 12; Urteil des erkennenden Senats vom 13. Dezember 2013, L 5 R 392/13). Ein solcher wird von der Klägerin aber nicht vortragen und ist auch nicht erkennbar.

Ein Widerruf kommt ferner in Betracht, wenn es mit dem Grundsatz von Treu und Glauben, der das gesamte Recht beherrscht, unvereinbar wäre, einen Beteiligten an einer von ihm vorgenommenen Prozesshandlung festzuhalten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. August 1998, 4 B 75/98, juris, Rdnr. 3; Keller aaO; Wehrhahn aaO). Ob ein solcher Verstoß anzunehmen wäre, wenn sich der Hinweis auf die Zulässigkeit eines Rechtsmittels bezieht (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 18. Dezember 2013, L 10 AL 374/13, juris; BFH, Urteil vom 6. Juli 2005, XI R 15/04, juris, Rdnr. 20, unter Berücksichtigung der prozessualen Besonderheiten des § 72 Abs. 2 Satz 3 Finanzgerichtsordnung (FGO)) bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls dann, wenn der Betroffene durch eine richterliche Belehrung oder Empfehlung zur materiellen Rechtslage zu einer bestimmten prozessualen Erklärung bewogen worden ist, liegt in der Regel kein Verstoß gegen Treu und Glauben vor, der ausnahmsweise zum Widerruf der prozessbeendenden Erklärung berechtigen würde. Es überwiegen insoweit der Vertrauensschutz des Prozessgegners und das Interesse an der Rechtssicherheit (vgl. Müller in: Roos/Wahrendorf, SGG, § 102, Rdnr. 8). Abgesehen davon wurde der Klägerin auch kein fehlerhafter Hinweis erteilt.

Nach alledem war das Verfahren L 5 R 360/16 nicht fortzusetzen und das Begehren der Klägerin auf nochmalige Prüfung ihres Falles konnte keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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