S 11 SO 135/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
11
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 11 SO 135/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 30.08.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2017 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, die Kosten für das ambulant betreute Wohnen ab dem 01.10.2016 bis zum 30.09.2019 im Umfang von 2 Fachleistungsstunden pro Woche zu übernehmen. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Übernahme von Kosten für das ambulant betreute Wohnen im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII).

Der Kläger ist im Jahr 1959 geboren, aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens bestehen bei ihm ein Anfallsleiden, eine geistige Einschränkung, eine Halbseitenlähmung und eine Sprachstörung. Er arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) und lebt in einer eigenen Wohnung. Dort erhält er einmal in der Woche Unterstützung durch eine Haushaltshilfe, die das Bad und die Küche reinigt und mit dem Kläger einen Großeinkauf erledigt. Die Kosten für die Haushaltshilfe trägt die Stadt C. Der Kläger bezieht neben seinem Einkommen aufgrund der Tätigkeit in der WfbM und einer Rente wegen Erwerbsminderung zur Sicherung seines Lebensunterhaltes ergänzend Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII.

Der Kläger wird in seiner Wohnung durch den Anbieter C1 seit dem Jahr 2003 ambulant betreut. Der Beklagte trug die Kosten zunächst im Umfang von 2,5 Fachleistungsstunden, später dann im Umfang von 2 Stunden, wobei jeweils eine halbe Stunde in ein persönliches Budget umgewandelt wurde, mit dem der Kläger Freizeitaktivitäten finanziert hat. Mit Bescheid vom 16.12.2013 bewilligte der Beklagte die Leistungen für den Zeitraum Juni 2013 bis Mai 2016.

Der Kläger beantragte am 11.05.2016 die Weiterbewilligung der Leistungen ab Juni 2016.

Der Beklagte lehnte die Weiterbewilligung mit Bescheid vom 30.08.2016 ab. Die Wohnung des Klägers sei nicht gefährdet und er verfüge über genug eigene Ressourcen, um eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen. Die Maßnahme werde daher zum 30.09.2016 beendet, der Kläger könne sich bei Problemen an die Bezirkssozialarbeit wenden oder Nachbarschaftshilfe in Anspruch nehmen.

Der Kläger legte gegen den Bescheid am 15.09.2016 Widerspruch ein. Diesen begründete er damit, dass er weiterhin Unterstützung in verschiedenen Bereichen benötige. Seine Fähigkeiten hätten sich nicht wesentlich geändert, insbesondere nicht verbessert.

Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2017 zurück. Der Kläger habe die Fähigkeit, einen eigenen Haushalt zu führen und zu erhalten. Der Unterstützungsbedarf aufgrund der körperlichen Einschränkungen werde bereits durch die Haushaltshilfe gedeckt, deren Tätigkeit könne noch um weitere Aufgaben erweitert werden. Im Übrigen könne sich der Kläger bei Problemen an die Bezirkssozialarbeit wenden oder Nachbarschaftshilfe in Anspruch nehmen. Die Gewährung von Leistungen in der Vergangenheit führe nicht dazu, dass weiterhin ein Anspruch bestehe.

Der Kläger hat am 09.05.2017 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 30.08.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Kosten für das ambulant betreute Wohnen ab dem 01.10.2016 bis zum 30.09.2019 im Umfang von 2 Fachleistungsstunden pro Woche zu übernehmen

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide, die er für rechtmäßig hält.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens der Sachverständigen Winter vom 10.04.2018. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Gutachtens Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger macht keinen Anspruch auf ein persönliches Budget mehr geltend, so dass nur noch über die Kostenübernahme für das ambulant betreute Wohnen zu entscheiden war. In zeitlicher Hinsicht hat der Kläger seinen Anspruch auf den Zeitraum Oktober 2016 bis September 2019 beschränkt.

Der Bescheid vom 30.08.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2017 erweist sich als rechtswidrig, denn der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte die Kosten für das ambulant betreute Wohnen ab dem 01.10.2016 bis zum 30.09.2019 im Umfang von 2 Fachleistungsstunden pro Woche übernimmt.

Der Anspruch des Klägers beruht auf § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Nach dieser Vorschrift erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Nach Abs. 3 der Vorschrift ist es die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufes oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.

Der Kläger erfüllt die persönlichen Voraussetzungen für den Bezug der Eingliederungshilfe, denn bei ihm liegt eine wesentliche Behinderung vor. Aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens bestehen bei ihm ein Anfallsleiden, eine geistige Einschränkung, eine Halbseitenlähmung und eine Sprachstörung. Damit sind sowohl eine körperliche, als auch eine geistige Behinderung nach den §§ 1 und 2 Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) gegeben. Maßgeblich sind indes nicht allein die ärztlichen Diagnosen. Die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung ist wertend auszurichten an den Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft. Entscheidend ist mithin nicht, wie stark die körperlichen oder geistigen Kräfte beeinträchtigt sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt (vgl. BSG, Urteil vom 22. März 2012 - B 8 SO 30/10 R, Rn. 19). Nach diesen Maßstäben liegt bei dem Kläger eine wesentliche Behinderung vor. Dies zeigt sich nach Auffassung der Kammer sehr deutlich an den sozialen Kontakten des Klägers. Dieser hat in der mündlichen Verhandlung noch einmal erklärt, dass er außer zu seinen Arbeitskollegen aus der WfbM, der Haushaltshilfe und den Mitarbeitern von C1 keine persönlichen Kontakte unterhält. Insbesondere gibt es niemanden, der ihn mal in seiner Wohnung besucht. Mit seiner Mutter und seine Schwester telefoniert er aufgrund der räumlichen Entfernung nur bzw. hält über soziale Netzwerke Kontakt. Die fehlenden sozialen Kontakte belegen die mangelnde Eingliederung des Klägers in die Gesellschaft, die sich im Übrigen auch in seinem sonstigen Hilfebedarf zeigt. Die Kammer folgt insoweit den Ausführungen der Sachverständigen X in ihrem Gutachten vom 10.04.2018, die sie für schlüssig und überzeugend hält.

Die Leistungen der Eingliederungshilfe umfassen gem. § 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX in der am 31.12.2017 geltenden Fassung die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Dazu gehören nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX (in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung) die Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten (sog. ambulant betreutes Wohnens - ABW oder BeWo). Die Leistung des ambulant betreuten Wohnens wird gesetzlich nicht näher definiert. Nach der Rechtsprechung des BSG können die Leistungen nicht auf unmittelbar wohnungsbezogene Hilfen, z. B. die Hilfe zum Sauberhalten der Wohnung, beschränkt werden (vgl. BSG, Urteil vom 30.06.2016 - B 8 SO 7/15 R). Der behinderte Mensch solle vielmehr dazu befähigt werden, alle wichtigen Alltagsverrichtungen in seinem Wohn- und Lebensbereich möglichst selbständig vorzunehmen. Es genüge mithin, sei aber auch erforderlich, dass durch die geleistete Hilfe das selbständige Leben und Wohnen ermöglicht werden solle, indem z.B. einer Isolation bzw. Verwahrlosung, einer relevanten psychischen Beeinträchtigung oder einer stationären Unterbringung entgegengewirkt werde, die mit einer Übernahme der Gesamtverantwortung für die gesamte Lebensführung des behinderten Menschen durch die Einrichtung einhergehe, damit der behinderte Mensch durch den Verbleib in der eigenen Wohnung einen Freiraum für die individuelle Gestaltung seiner Lebensführung erhalte (vgl. BSG, aaO). Die Vorschrift ist also weit auszulegen (vgl. Stölting/Greiser, SGb 2016, 136 ff.).

Der von der Sachverständigen Winter ermittelte Hilfebedarf ist somit insgesamt dem ambulant betreuten Wohnen zuzuordnen, denn die Leistungen können nicht auf unmittelbar wohnungsbezogene Hilfen, z. B. die Hilfe zum Sauberhalten der Wohnung, beschränkt werden (vgl. BSG, aaO). Nach den Ausführungen der Sachverständigen benötigt der Kläger im Bereich der alltäglichen Lebensführung Hilfe bei der Wäschepflege und der Ordnung im eigenen Bereich. Darüber hinaus sei er auf eine umfassende Hilfestellung beim Regeln von finanziellen und (sozial-)rechtlichen Angelegenheiten angewiesen. Insgesamt bestehe in diesem Bereich ein Hilfebedarf von 60 Minuten pro Woche. Im Bereich der Gestaltung sozialer Beziehungen bestehe ein Hilfebedarf bei der Aufrechterhaltung der Kontakte zur Mutter und zur Schwester, insbesondere wenn ein persönliches Treffen vorbereitet werden müsse. Hierfür seien im Durchschnitt 10 Minuten pro Woche anzusetzen. In dem Bereich Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben sei er auf Hilfe angewiesen, wenn er z.B. mal ein Café in der Stadt oder eine kulturelle Veranstaltung besuchen wolle. Dies sei zum einen aufgrund der Sturzgefahr erforderlich, zum anderen aber auch aufgrund der kognitiven Defizite und der Sprachstörung. Hierfür seien im Durchschnitt 15 Minuten pro Woche anzusetzen. Darüber hinaus bestehe ein Hilfebedarf im Bereich der Kommunikation und Orientierung aufgrund der Sprachstörung des Klägers. Hierfür seien im Durchschnitt 20 Minuten pro Woche erforderlich. Im Bereich der emotionalen und psychischen Entwicklung sowie der Gesundheitsförderung seien im Durchschnitt jeweils 10 Minuten pro Woche zu berücksichtigen, da der Kläger Hilfe bei der Bewältigung von Antriebsstörungen sowie bei der Medikamenteneinnahme und der ärztlichen Versorgung benötige. Insgesamt ergebe sich daraus ein Hilfebedarf von 125 Minuten pro Woche. Die Kammer folgt diesen Ausführungen der Sachverständigen die sie für schlüssig und überzeugend hält. Der ermittelte Hilfebedarf deckt sich bis auf geringe Abweichungen mit den Feststellungen des Leistungserbringers und im Übrigen auch mit denen des Beklagten, der die Kosten jahrelang übernommen hat. Auch der Beklagte geht ja davon aus, dass ein Hilfebedarf besteht, dieser sei jedoch auf andere Art zu decken.

Die Leistungen des ambulant betreuten Wohnens sind im vorliegenden Verfahren auch notwendig i.S.v. § 4 Abs. 1 SGB IX. Diese Voraussetzung ist bei jeder Eingliederungsmaßnahme zu prüfen. Sie ist zu bejahen, wenn eine grundsätzlich geeignete Eingliederungsmaßnahme unentbehrlich zum Erreichen der Eingliederungsziele ist, die gem. § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII darin liegen, eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.2013 - B 8 SO 18/12 R). Bei den Leistungen des ambulant betreuten Wohnens kommt es insbesondere darauf an, ob mit diesen einer Isolation bzw. Verwahrlosung, einer relevanten psychischen Beeinträchtigung oder einer stationären Unterbringung entgegengewirkt werden kann, die mit einer Übernahme der Gesamtverantwortung für die gesamte Lebensführung des behinderten Menschen durch die Einrichtung einhergeht, damit der behinderte Mensch durch den Verbleib in der eigenen Wohnung einen Freiraum für die individuelle Gestaltung seiner Lebensführung erhält (vgl. BSG, Urteil vom 30.06.2016 - B 8 SO 7/15 R). Der Kläger erfüllt diese Voraussetzung, denn ihm droht eine Isolation, die letztlich nur durch eine stationäre Unterbringung beseitigt werden könnte. Er unterhält außer zu seinen Arbeitskollegen aus der WfbM, der Haushaltshilfe und den Mitarbeitern von C1 keine persönlichen Kontakte, so dass er ohne die ambulante Betreuung vollkommen vereinsamen würde.

Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, seinen Hilfebedarf auf andere Art zu decken. Nach der Rechtsprechung des BSG sind Leistungen der Eingliederungshilfe, die auf das gleiche Ziel gerichtet sind, nicht mehr zu erbringen (§ 2 Abs. 1 SGB XII), wenn andere Hilfen den Bedarf decken (vgl. BSG, Urteil vom 30. Juni 2016 - B 8 SO 7/15 R, Rn. 22). Das BSG hat dies für den Fall entschieden, dass ein rechtlicher Betreuer eine bestimmte Unterstützung gewährt, dann kann dieser Bedarf nicht mehr im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens berücksichtigt werden. Dies gelte jedoch nur, wenn der Bedarf tatsächlich gedeckt werde, selbst wenn ein Anspruch bestehe, reiche dies nicht aus. Dementsprechend hat der Kläger weiterhin einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für zwei Fachleistungsstunden, denn die von dem Beklagten genannten Stellen, wie z.B. die Bezirkssozialarbeit und die Nachbarschaftshilfe, decken seinen Bedarf nicht. Es kommt auch nicht darauf an, aus welchen Gründen der Kläger diese Hilfen nicht in Anspruch nimmt und ob er einen Anspruch darauf hat. Solange der entsprechende Bedarf nicht gedeckt wird, ist er weiter im Rahmen der Leistungen des ambulant betreuten Wohnens zu berücksichtigen.

Der Kläger erfüllt auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Bezug von Eingliederungshilfe nach dem SGB XII. Er bezieht zur Sicherung seines Lebensunterhaltes ergänzend Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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