S 25 SO 37/17 ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
25
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 25 SO 37/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 8 SO 54/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.

2. Die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin sind durch die Antragsgegnerin nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitgegenständlich geht es um die Gewährung einer integrativen Kindergartenbetreuung mit Mehrbedarf für den Antragsteller.

Der am ... 2016 geborene Antragsteller leidet an einer schweren Hämophilie A. Die gesetzlichen Vertreter des Antragstellers beantragten unter dem 07.02.2016 beim örtlichen Sozialhilfeträger (S.) die integrative Betreuung in der Kindertagesstätte "E." in N ... Der S. forderte mit Schreiben vom 10.02.2016 vom Gesundheitsamt eine amtsärztliche Stellungnahme ab. Nach dieser amtsärztlichen Stellungnahme vom 27.04.2016 ist der Antragsteller gut in seiner Altersnorm entwickelt, ein Entwicklungsrückstand bestehe nicht. Lediglich in der Selbständigkeit zeige er Defizite. Des Weiteren wurde eine wesentliche körperliche Behinderung i. S. d. SGB XII amtsärztlich festgestellt. Aufgrund der schweren Hämophilie A mit Verletzungsgefahr und Neigung zu Spontanblutungen werde eine integrative Kindertagesstätten-Betreuung empfohlen.

Mit Bescheid vom 04.05.2016 gewährte der Sozialhilfeträger dem Antragsteller Eingliederungshilfe gem. §§ 53, 54 SGB XII im Zeitraum vom 01.05.2016 bis 30.04.2017 in der Kita "E.". Durch Schreiben der Geschäftsstelle R. e. V. vom 12.07.2016 beantragten die Eltern des Antragstellers rückwirkend zum 01.05.2016 eine Erhöhung der heilpädagogischen Betreuungsstunden in Form einer täglichen 1-1 Betreuung. Insoweit wurde um eine Erhöhung des zu gewährenden Mehrbedarfs auf derzeit 5 h täglich gebeten. Im Rahmen der Feststellung des Hilfebedarfs stellte die Gutachterin des Rehapädagogischen Fachdienstes nach Auswertung der Unterlagen am 02.11.2016 fest, dass eine integrative Betreuung erforderlich sei. Ein behinderungsbedingter Mehrbedarf, im Vergleich zu einem wesentlich geistig oder körperbehinderten Kind oder einem wesentlich verhaltensauffälligem Kind in einer integrativen Kindereinrichtung, sei nicht erkennbar und nachvollziehbar.

Mit Bescheid vom 10.11.2016 lehnte der örtliche Sozialhilfeträger den Antrag auf Gewährung einer integrativen Kindergartenbetreuung mit "Mehrbedarf" ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Antragsteller sei nicht behindert i. S. d. § 2 Abs. 1 SGB IX, so dass eine wesentliche Voraussetzung der Vorschrift des § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII fehle.

Mit Bescheid vom 22.11.2016 gewährte der örtliche Sozialhilfeträger aufgrund der Änderung des Betreuungsvertrages auf 7 Stunden täglich Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII im Zeitraum vom 01.09.2016 bis 30.04.2017 für 7 Stunden pro Tag.

Gegen den Ablehnungsbescheid vom 10.11.2016 legte der Antragsteller durch seine Prozessbevollmächtigte Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie u. a. aus, dass der Antragsteller trotz des besseren Betreuungsschlüssels ständige Aufsicht und Anleitung benötige. Gerade in der jetzigen Phase des Laufen Lernens bestehe erhöhte Verletzungsgefahr.

Mit Schreiben vom 24.03.2017 reichte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers beim Sozialgericht Magdeburg Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ein. Diesen begründet sie im Wesentlichen damit, dass sich der Bedarf des Antragstellers auf eine 1-1 Betreuung erhöht habe, so dass die Bereitstellung von zusätzlichem Betreuungspersonal – wie derzeit vom Sozialhilfeträger gewährt – nicht ausreiche. Es handele sich lediglich um zusätzliches Betreuungspersonal von 9,75 Stunden wöchentlich. Die erhöhte Verletzungsgefahr in der jetzigen Phase des Laufen Lernens sei bisher vom Kindergarten auf eigenes Risiko gewährt worden, dies sei allerdings aufgrund des fehlenden Personals nun nicht mehr möglich. Eine Verletzung des Antragstellers könne für ihn lebensbedrohlich sein. Hierbei käme es nicht nur auf die äußerlichen Blutungen an, sondern die inneren Blutungen, die nicht sofort erkannt werden können, seien die gefährlichen. Um solche Verletzungen zu vermeiden, werde dringend die 1-1 Betreuung benötigt. Die Eltern des Antragstellers seien beide berufstätig und könnten daher diese Betreuung auch nicht für die Dauer des Widerspruchs- und ein sich ggf. anschließenden Klageverfahren leisten. Nach Auskunft des Kindergartens werde die Erhöhung des zu gewährenden Mehrbedarfs auf 5 Stunden täglich benötigt. Sie reichte in der Anlage ein Schreiben des R. e. V. zur Akte, aus dem sich der Tagesablauf des Antragstellers in der Kindertageseinrichtung ergibt.

Der Antragsteller beantragt (sinngemäß),

die Antragsgegnerin zu verpflichten, bis zu einer rechtskräftigten Entscheidung über den Antrag des Antragstellers vom 12.07.2016 auf Gewährung einer integrativen Kindergartenbetreuung mit Mehrbedarf, die beantragte Leistung vorläufig zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 24.03.2017 abzuweisen.

Zur Begründung führt die Antragsgegnerin im Wesentlichen aus, dass beim Antragsteller zwar unstreitig eine Behinderung i.S. d. § 2 Abs. 1 SGB IX vorliege. Der Antragsteller habe jedoch keinen sozialhilferechtlich relevanten Mehrbedarf in Form einer 1:1 Betreuung. Eine wesentliche Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft sei bei dem Antragsteller durch seine Erkrankung nicht gegeben. Die Erkrankung des Antragstellers und der damit verbundene Bedarf an Beaufsichtigung sowie die weiteren Handlungen im Falle einer Verletzung oder eines Sturzes seien dem integrativen Kindergarten hinreichend bekannt gewesen. Auch sei es allgemein bekannt, dass sich Kinder weiterentwickeln und sich der Aktionsradius damit erhöhe. Dennoch sei die Betreuung übernommen worden. Im Wissen der Erkrankung des Antragstellers habe sich die Einrichtung in der Lage gesehen, den Antragsteller zu betreuen. Sollten Blutungen beim Antragsteller auftreten, müsse er medizinisch versorgt werden. Diese Hilfen nach dem SGB V seien jedoch vorrangige Leistungen und gem. § 2 SGB XII keine Leistung der Eingliederungshilfe. Ein Mehrbedarf an Beaufsichtigung könne beim Antragsteller nicht festgestellt werden. Die Aufsichtspflicht der Einrichtung bestehe aufgrund der Minderjährigkeit sowieso und nicht aufgrund der Verletzungsgefahr. In der Anlage übersandte die Antragsgegnerin einen Ratgeber der Firma B. mit dem Titel "Kinder mit Blutungsneigung im Kindergarten – Ein Kurzratgeber für Erzieherinnen und Erzieher".

Auf Nachfrage der Vorsitzenden, ob der Antragsteller eine Substitutionstherapie als Prophylaxe erhält, erklärte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit Schreiben vom 20.04.2017, dass dieser eine solche erhalte. Er bekomme intravenös 500 Einheiten eines Medikaments, welches die Blutgerinnung fördern soll. Diese Prophylaxe erfolge dreimal wöchentlich jeweils montags, mittwochs und samstags. Das Kind müsse dabei von einer 2. Person festgehalten werden, damit die Mutter des Antragstellers das Medikament in eine Kopfvene injizieren kann. Allein die Injektion dauere für 10 ml des Medikaments 3 Minuten. Das Medikament müsse allerdings zunächst vorbereitet werden, insgesamt nehme die Prophylaxe 30 Minuten in Anspruch. Die Injektion des Medikaments bewirke einen erhöhten Schutz bei Einblutungen in Hinblick auf die Gerinnung des Blutes. Es führe allerdings nicht zu einem 100-prozentigen Schutz. Das Medikament könne ungefähr einen Schutz von 30-40 % im Vergleich zum Blut eines gesunden Menschen verschaffen. Dieser Schutz sei allerdings zeitlich begrenzt. Spätestens nach 10 Stunden beginne der Abbau des Medikaments, so dass dann wieder eine erhöhte Gefahr der Schädigung bei entsprechenden Einblutungen bestehe. Alleine die Prophylaxe führe also nicht dazu, dass der Antragsteller gefahrlos spielen könne. Das Medikament solle lediglich bei Gefahrensituationen Nervenschädigungen verhindern. Die Injektion werde nicht nur vorbeugend eingesetzt, sondern auch im Falle eines Blutungsvorfalls. Injizieren dürfe das Medikament allerdings nur die Mutter des Antragstellers oder ein Arzt. Des Weiteren führt die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers aus, dass eine ständige Beobachtung des Kinders nicht erforderlich sei, um bei Verletzungen sofort reagieren zu können, sondern um diese Verletzungen zu verhindern. Diese Verletzungen dürften gar nicht erst entstehen, da dadurch die Gefahr der dauerhaften Schädigung bestehe. Die Prozessbevollmächtigte fügte nochmals eine Dokumentation des Tagesablaufes in der Kita "E." und einen Arztbrief der Medizinischen Fakultät, Universitätskinderklinik, der Universität M. bei.

Darauf erwiderte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 02.05.2017 dahingehend, dass eine 1:1 Betreuung in Form einer ständigen persönlichen Assistenz für den Antragsteller nicht nachvollziehbar sei. Eine solche Betreuung würde eine Überversorgung darstellen und der kindlichen Entwicklung nicht förderlich sein. Diesbezüglich verweist die Antragsgegnerin auf den Entwicklungsbericht der Kita "E." vom 04.04.2017 (Seite 5), wonach der Antragsteller negative Erfahrungen für seinen Lernprozess und um neue Wege für sich zu finden, brauche. An solchen Erlebnissen würden auch Kinder mit Hämophilie wachsen. Nach dem heutigen medizinischen Wissensstand sei ein Höchstmaß an Sicherheit bei der Behandlung der Hämophilie garantiert, so dass heute ein Hämophiler vollständig schulisch, beruflich und sozial integriert werden könne. Diesbezüglich verweist die Antragsgegnerin auf: "Hämophilie, Ein Nachschlagwerk für Betroffene, Angehörige, Ärzte und Schwestern, erarbeitet von der ÖHG und Wyeth-Lederle Pharma GmbH", S. 94. Der Antragsteller erhalte medizinische Leistungen in Form der Substitution mit dem Faktor VIII Präparat. Diese Prophylaxe ermögliche es, dass der Antragsteller gut geschützt seine Erfahrungen machen könne. Wichtig sei, dass alle Personen, die mit dem Antragsteller umgehen, genau über die Blutungserkrankung informiert sind und wissen, was im Notfall zu tun ist. Dies sei mit dem Notfallplan in der Kita geschehen. Ein behinderungsbedingter Mehrbedarf sei deshalb nicht festzustellen.

Darauf replizierte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit Schreiben vom 19.05.2017, dass die Antragsgegnerin die Erkrankung des Antragstellers völlig verkenne. Sicherlich müsse der Antragsteller negative Erfahrungen machen, diese sollten allerdings nur unter Aufsicht erfolgen. Nur eine Aufsichtsperson sei in der Lage, die Gefahr, die der Antragsteller beabsichtigt einzugehen, entsprechend einzuschätzen und die Aktion des Antragstellers zuzulassen. Verletzungen des Antragstellers müssten von Grund auf vermieden werden. Allein die Vorstellung, dass sich der Antragsteller stoße, ohne dies einer Aufsichtsperson mitzuteilen, weil es auch seiner Sicht nicht so schlimm war und sich anschließend eine Einblutung bilde, von der niemand wisse, dürfte die Gefahr verdeutlichen. Eine gezielte Behandlung könne nur stattfinden, wenn die Art und Schwere der Verletzung bekannt sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten Bezug genommen.

II.

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist zulässig. Insbesondere ist er form- und fristgereicht beim Sozialgericht Magdeburg eingelegt worden.

2. Der Antrag ist aber unbegründet. Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung.

Hierfür muss der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft machen. Anordnungsanspruch ist der materiell-rechtliche Anspruch auf die begehrte Leistung, dessen Bestehen von der Gegenseite bestritten oder nicht erfüllt wird. Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn ohne eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz dem Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht anwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Beschluss des Bundesverfassungsgericht vom 19.10.1977 –2 BvR 42/76-, zuletzt Beschluss vom 12.05.2005 –1 BvR 569/05-). Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordert, dass mehr dafür als dagegen spricht (Keller in: Meyer-Ladewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 16 b). Ist die Klage offensichtlich zulässig und begründet, vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund und ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung häufig stattzugeben; auch in diesen Fällen kann aber auf einen Anordnungsgrund nicht verzichtet werden (Keller in: Meyer-Ladewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 29).

Bei offenem Ausgang ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich (Keller in: Meyer-Ladewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 29a). Dabei sind die Folgen gegeneinander abzuwägen, der auf der einen Seiten entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der Anspruch nicht bestand. Bei der Auslegung der anzuwendenden Vorschriften ist der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte und den Anforderungen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen; insbesondere sind die Folgen der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes zu berücksichtigen. Je schwerer die Belastungen hieraus wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden. Erhebliche wirtschaftliche Nachteile für den Antragsteller können dabei ausreichen (vgl. dazu auch LSG B-W v. 2.3.2010, L 11 KR 460/10 ER-B sowie Keller in: Meyer-Ladewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 29a).

a) Der Antragsteller konnte gegenüber der Antragsgegnerin keinen Anordnungsanspruch glaubhaft machen.

Gemäß § 53 Abs.1 Satz 1 SGB XII i. V. m. §§ 1-3 Eingliederungshilfe-VO erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen nach § 53 SGB XII haben jedoch nur diejenigen behinderten Menschen, deren Fähigkeit zur Teilhabe wesentlich beeinträchtigt ist. Nur wenn eine wesentliche Fähigkeitsbeeinträchtigung dazu führt, dass ein Mensch in seiner Teilhabe wesentlich beeinträchtigt ist, kann dies einen Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen auslösen (vgl. auch Bieritz-Harder in Nomos LPK – SGB XII § 53 Rz.10).

Zwar ist hier wohl davon auszugehen, dass der Antragsteller behindert i. S. v. § 2 Abs. 1 SGB IX ist. Dies wurde von der Antragsgegnerin – zumindest im Bescheid vom 22.11.2016 - und auch in diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren so gesehen. Allerdings hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass eine wesentliche Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft bei ihm durch seine Erkrankung gegeben ist. Entscheidend dabei ist, ob die körperlichen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Dies ist hier nicht ersichtlich. Vielmehr ergibt sich aus der amtsärztlichen Stellungnahme vom 27.04.2016, dass der Antragsteller gut in seiner Altersnorm entwickelt ist und ein Entwicklungsrückstand nicht besteht. Lediglich in der Selbständigkeit zeige der Antragsteller Defizite. Aufgrund der amtsärztlich festgestellten wesentlichen körperlichen Behinderung i. S. d. SGB XII wegen der schweren Hämophilie A mit Verletzungsgefahr und Neigung zu Spontanblutungen wurde dementsprechend eine integrative Kindertagesstätten-Betreuung empfohlen. Demzufolge hat die Antragsgegnerin auch mit Bescheid vom 22.11.2016 sieben Stunden täglich Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII im Zeitraum vom 01.09.2016 bis 30.04.2017 für 7 Stunden pro Tag in der Kindertageseinrichtung "E." gewährt. Ein Anspruch darüber hinaus besteht nicht.

So ergibt sich auch aus den von der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers eingereichten ärztlichen Stellungnahmen nicht, dass die beim Antragsteller angewandte medizinische Prophylaxe nicht ausreichend sei. Vielmehr bestätigt Prof. Dr. med. J. von der Univiersitätsklinik der Universität M. mit Schreiben an die behandelnde Kinderärztin vom 05.04.2017, dass der Kläger seit September 2016, seit dem er 3 x wöchentlich die entsprechenden Injektionen erhält, weitgehend beschwerdefrei sei. Mittels der Behandlung können nach Aussage von Prof. J. Blutungen weitgehend verhindert bzw. in ihrem Ausmaß gelindert werden. Diese Einschätzung wird auch durch den Ratgeber von W. Ebert, C. Escuriola, W. Kreuz, C. Wermes: "Kinder mit Blutungsneigung im Kindergarten – Ein Kurzratgeber für Erzieherinnen und Erzieher" bestätigt. Danach können an Hämophilie erkrankte Kinder grundsätzlich alles tun, nur Sprünge aus großer Höhe sollten verhindert werden (S. 14). Sprünge aus großer Höhe dürften aber auf einem Spielplatz des Kindergartens sowie so nicht in Betracht kommen und darüber hinaus reicht für die Beobachtung des Antragstellers diesbezüglich auch der derzeitige Betreuungsschlüssel aus. Weiter ergibt sich aus S. 33 des Ratgebers, dass keine erhöhten Anforderungen für die aufsichtspflichtigen Personen bei Betreuung von Kindern mit Hämophilie bestehen.

Insofern ist auch die Argumentation der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers und auch die der Kindertageseinrichtung nicht nachvollziehbar. Der Tagesablauf des Antragstellers, nach dem bei quasi allen Verrichtungen (Essen zubereiten, Toilettengang, Anziehen in der Garderobe usw.) eine ständige Beaufsichtigung des Antragstellers notwendig sei, wird weder medizinisch durch die behandelnden Ärzte noch durch die Literatur, die es zu hämophilieerkrankten Kindern im Kindergarten gibt, gestützt. Dies erscheint lebensfremd und würde im Übrigen auch nur dazu führen, dass eine möglichst normale und selbständige Entwicklung – die für den Antragsteller erstrebenswert sein sollte – verhindert wird. Insofern ist auffällig, dass auch der amtsärtzliche Dienst im Hinblick auf die Selbständigkeit ein Defizit festgestellt hatte. Inwieweit das tatsächlich mit der Erkrankung und der bisherigen Betreuung und Versorgung des Antragstellers durch die Eltern und die Kindertageseinrichtung zusammen hängt, ist von der Kammer allerdings momentan nicht einschätzbar, kann aber auch offen bleiben. Natürlich teilt die Kammer die Einschätzung, dass Blutungen beim Antragsteller möglichst nicht auftreten sollten. Dies gänzlich zu verhindern, in dem der Antragsteller keinerlei Aktivitäten unternimmt, die altersgerecht sind und dementsprechend auch zu kleineren Beulen und Schürfwunden führen könnten, ist nach Einschätzung der Kammer allerdings weder durch eine ständige Betreuung möglich noch nötig noch für die Entwicklung des Antragstellers wirklich förderlich. Diesbezüglich verweist die Kammer auf das Forum der Deutschen Hämophiliegesellschaft e. V. (www.dhg.de/forum/), in dem sich viele Eltern von hämophilieerkrankten Kindern und selbst Betroffene austauschen. Konsens ist auch in diesem Forum, dass sich das Kind so "normal" wie möglich entwickeln sollte und die häufiger angestrebte 1:1 Betreuung nicht notwendig ist.

b) Wegen des Fehlens der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs ist das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nicht mehr zu prüfen. Ist die Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antragsteller nicht schutzwürdig. Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist in diesem Fall – selbst wenn ein Anordnungsgrund gegeben ist – abzulehnen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 86b Rn. 29).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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