L 13 RA 2681/02

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
13
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 RA 210/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 RA 2681/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Es stellt keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG dar, dass von der Versicherungspflicht nach § 231 Abs. 6 SGB VI nur diejenigen versicherungspflichtigen Selbständigen befreit werden können, die ihre Unkenntnis von der Versicherungspflicht glaubhaft machen, nicht hingegen solche, die die Versicherungspflicht aufgrund bestandskräftigen Bescheids positiv gekannt haben.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 17. Juli 2002 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die 1971 geborene Klägerin war ab Januar 1989 mit Unterbrechungen bis Juni 1994 versicherungspflichtig beschäftigt; gemäß dem Versicherungsverlauf sind bis dahin 54 Kalendermonate mit Beiträgen belegt. Seit 1. Juli 1994 ist sie als freiberufliche Hebamme selbständig tätig. Durch bestandskräftigen Bescheid vom 20. November 1995 - einen bereits am 23. März 1995 ergangenen Bescheid aufhebend - stellte die Beklagte die Versicherungspflicht nach § 2 Nr. 1 bis 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) fest. Die Klägerin sei - nach den damals geltenden Bestimmungen - berechtigt, bis zum Ablauf von drei Kalenderjahren nach dem Jahr der Aufnahme der Selbständigkeit den halben Regelbeitrag zu zahlen. Dieser belief sich ab Juli 1994 auf DM 376,32, ab Januar 1995 auf DM 377,58. Der gesamte Zahlungsbetrag für die Zeit von Juli 1994 bis November 1995 wurde im Dezember 1995 abgebucht. In der Folgezeit erhob die Klägerin gegen die Beitragserhebung keine Einwendungen; ab Januar 1998 wurde der volle Regelbeitrag (anfänglich DM 881,02) fällig.

Mit am 20. September 2001 bei der Beklagten eingegangenem Formular beantragte die Klägerin Befreiung von der Versicherungspflicht für Selbständige. Sie legte die Bestätigung der Lebensversicherung AG vom 17. September 2001 vor, wonach dort bei einem aktuellen Monatsbeitrag von DM 147,80 eine Rentenversicherung mit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung bestand, die am 1. März 1994 begonnen hatte und bei Erleben des 52. Lebensjahres oder bei Berufsunfähigkeit fällig sein sollte. Während der Zeit der früheren nichtselbständigen Beschäftigung hatten Versicherungsverhältnisse bei der Zusatzversorgungskasse der Stadt St. und zuletzt (Beschäftigung beim Krankenhaus B. vom 15. Oktober bis 31. Dezember 1993) des Kommunalen Versorgungsverbandes Baden-Württemberg bestanden. Durch Bescheid vom 9. Oktober 2001 lehnte die Beklagte den Befreiungsantrag ab. Die Befreiung nach der jetzt geltenden Vorschrift des § 231 Abs. 6 SGB VI sei nur möglich, wenn (unter anderem) glaubhaft gemacht sei, dass am 31. Dezember 1998 von der Versicherungspflicht keine Kenntnis bestanden habe. Letzteres sei wegen des Bescheids vom November 1995 ausgeschlossen. Mit ihrem Widerspruch brachte die Klägerin vor, bis 1985 sei es den selbständig tätigen Hebammen möglich gewesen, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen. Sie habe die Ausbildung erst 1990 aufgenommen. Die Versicherungspflicht seit 1994 habe sie nur akzeptiert, da sie vom Berufsverband darauf hingewiesen worden sei. Wer sich bewusst nicht gemeldet habe, werde jetzt begünstigt. Die Beklagte legte zur Begründung des zurückweisenden Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2002 dar, die Befreiungsregelung sei geschaffen worden, weil durch das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 19. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3843), fortentwickelt durch das Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit vom 20. Dezember 1999 (BGBl. 2000 I S. 2) zahlreiche Selbständige erstmals von der Rentenversicherungspflicht erfahren hätten, nachdem sie aus Unkenntnis hiervon bereits eine private Altersvorsorge getroffen hätten. Zu diesem Personenkreis zähle die Klägerin nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht.

Mit der am 28. Januar 2002 zum Sozialgericht Heilbronn erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen, es sei unbegreiflich, weshalb die Befreiung an die Glaubhaftmachung der Unkenntnis vom Bestehen der Versicherungspflicht geknüpft werden solle. Dieses Tatbestandsmerkmal sei für eine Abgrenzung unbrauchbar. Der Gesetzgeber habe hierbei offensichtlich "ein schlechtes Gewissen" gehabt und in den Materialien darauf hingewiesen, an die Glaubhaftmachung sollten keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. Damit fühle sie - die Klägerin - sich benachteiligt, da sie sich ordnungsgemäß gemeldet habe. Der von der Befreiungsmöglichkeit erfasste Personenkreis werde demgegenüber zu Unrecht belohnt. Dies verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Durch Gerichtsbescheid vom 17. Juli 2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in der Befreiungsvorschrift getroffene Abgrenzung seien nicht zu erkennen.

Hiergegen hat die Klägerin am 29. Juli 2002 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Sie trägt vor, es dürfte keine einzige freiberuflich tätige Hebamme gegeben haben, die im Dezember 1998 nicht von der Versicherungspflicht gewusst habe. Dennoch habe eine "Dunkelziffer" von Betroffenen, die behauptet hätten, nichts gewusst zu haben, die Befreiung erlangen können. Die gesetzestreuen Versicherten seien mithin "die Dummen" gewesen. Ein solches Gesetz sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verfassungswidrig, wie zur Frage der Erfassung der Kapitaleinkünfte nach § 20 des Einkommensteuergesetzes (EStG) entschieden worden sei. Die getroffene Unterscheidung sei nicht sachgerecht, sondern willkürlich. Die Angelegenheit sei dem BVerfG vorzulegen. Im Übrigen habe die Beklagte in den Fällen, in denen die anderweitige Altersvorsorge nicht ausreichend gewesen sei, eine sechswöchige Frist zur Anpassung eingeräumt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 17. Juli 2002 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 9. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Januar 2002 zu verpflichten, sie von der Versicherungspflicht zu befreien, hilfsweise das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist darauf, ohne Befugnis zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit an geltendes Recht gebunden zu sein.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten sowie der Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Ein Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung besteht nicht.

Die Klägerin ist als selbständig tätige Hebamme (seit Juli 1994) versicherungspflichtig gemäß § 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI. Dies war ihr - eigenen Angaben zufolge aufgrund Hinweis des Berufsverbands - bereits zeitnah zur Aufnahme der Tätigkeit bekannt; demgemäß hat sie sich noch im Juli 1994 bei der Beklagten gemeldet. Die Beiträge sind durch bestandskräftigen Bescheid vom 20. November 1995, der einen nicht mehr aktenkundigen vom 23. März 1995 und ein Schreiben vom 18. Mai 1995 ersetzt hat, beziffert worden. Gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI sind beitragspflichtige Einnahmen bei selbständig Tätigen ein Arbeitseinkommen in Höhe der Bezugsgröße, bei Nachweis eines niedrigeren oder höheren Arbeitseinkommens jedoch dieses Arbeitseinkommen. Abweichend hiervon braucht - bei Möglichkeit eines Verzichts hierauf - bis zum Ablauf von drei Kalenderjahren nach dem Jahr der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit das Arbeitseinkommen nur in Höhe von 50 v.H. der Bezugsgröße der Beitragspflicht unterworfen werden (vgl. Absatz 1 Satz 2 der Vorschrift). Die Ausnahmevorschrift des § 279 Abs. 1 SGB VI (mindestens 40 v.H. der Bezugsgröße) tritt bei der Klägerin nicht ein, da diese keine Niederlassungserlaubnis innehat. Die Bezugsgröße (vgl. § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch) hat 1994 monatlich DM 3920, im Jahr 1995 DM 4060 betragen. Hieraus hat sich bei den jeweils geltenden Beitragssätzen für 1994 ein Monatsbeitrag von DM 376,32, für 1995 von DM 377,58 ergeben. Dieser Beitrag hat sich nach Ablauf der für die Halbierung maßgebenden Drei-Jahres-Frist mit Ablauf 1997 etwa verdoppelt. Ein geringeres Einkommen hat die Klägerin nicht nachgewiesen. Auch im Übrigen hat sie sich bis zum Jahr 2001 gegen die Versicherungspflicht und die Höhe der Beiträge nicht gewandt. Die Pflichtversicherung bestimmter selbständig tätiger Personenkreise ist im Grundsatz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. für selbständige Künstler Bundessozialgericht - BSG - SozR 3-5425 § 1 Nr. 2; für selbständig tätige Lehrer BSG Soz R 3-2600 § 2 Nr. 5; für den hier einschlägigen Personenkreis der Hebammen eingehend Landessozialgericht Berlin, Urteil vom 26. Oktober 2000 - L 8 RA 136/98 - veröffentlicht in Juris, Revision beim BSG B 12 RA 5/01 R ohne Entscheidung erledigt; Urteil des Bayerischen Landessozialgericht vom 13. März 2003 - L 14 RA 232/02; Beschluss des BSG vom 5. August 2003 - B 12 RA 5/03 B, jeweils veröffentlicht in Juris).

Die durch Gesetz vom 3. April 2001, BGBl. I S. 467 mit Wirkung vom 7. April 2001 eingeführte Befreiungsmöglichkeit nach § 231 Abs. 6 SGB VI vermag hier nicht einzugreifen. Dies kann auch nicht als verfassungswidrig erachtet werden.

Gemäß der zitierten Vorschrift (Satz 1) werden Personen, die am 31. Dezember 1998 die von der Klägerin ausgeübte versicherungspflichtige selbständige Tätigkeit ausgeübt haben, auf Antrag befreit, wenn sie (1.) glaubhaft machen, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt von der Versicherungspflicht keine Kenntnis hatten, und (2.) vor dem 2. Januar 1949 geboren sind oder (3.) vor dem 10. Dezember 1998 eine anderweitige Vorsorge im Sinne des Absatzes 5 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 oder Satz 2 getroffen haben. Die Vorsorge muss gemäß Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 so ausgestaltet sein, dass a) Leistungen für den Fall der Invalidität und des Erlebens des 60. oder eines höheren Lebensjahres sowie im Todesfall Leistungen an Hinterbliebene erbracht werden, b) für die Versicherung mindestens ebenso viel Beiträge aufzuwenden sind, wie Beiträge zur Rentenversicherung zu zahlen wären, oder (3.) vorhandenes Vermögen oder aufgrund vertraglicher Verpflichtung anzusparendes Vermögen insgesamt gewährleisten, dass eine wirtschaftlich gleichwertige Sicherung erreicht wird. Erfüllt die bisher getroffene Vorsorge diese Anforderungen nicht, muss sie bis spätestens 30. September 2001 entsprechend ausgestaltet werden (Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 Nr. 2).

Die Vorschrift geht darauf zurück, dass nach der Einführung der Versicherungspflicht "arbeitnehmerähnlicher Selbständiger" zum 1. Januar 1999 zahlreiche Betroffene, die eigentlich bereits kraft Gesetzes der Versicherungspflicht unterlegen hatten, jedoch in Unkenntnis derselben keine Beiträge gezahlt hatten, die Befreiung gemäß Abs. 5 beantragten (vgl. Bundestags-Drucksache 14/5095 S. 9). Die betroffenen Selbständigen hatten häufig in gutem Glauben außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung Alters- und Invaliditätsvorsorge betrieben; um unbillige Doppelbelastungen zu vermeiden oder die erworbene Sicherung durch unwirtschaftliche Auflösung nicht zu entwerten, wurde (§ 231 Abs. 6 Satz 2 SGB VI) der Befreiungsantrag bis 30. September 2001 eröffnet (vgl. nochmals Bundestags-Drucksache wie zitiert).

Der dementsprechend am 20. September 2001 gestellte Antrag vermag keinen Erfolg zu haben. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Klägerin in der Zeit bis 31. Dezember 1998 ihre Versicherungspflicht positiv gekannt und (aufgrund bestandskräftigen Bescheids vom 20. November 1995) ihre Beiträge geleistet hat. Diesen Personenkreis brauchte der Gesetzgeber nicht in gleicher Weise zu privilegieren wie diejenigen, die glaubhaft machen können, ihre Versicherungspflicht nicht gekannt zu haben Deren den Gleichheitssatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) berührende Privilegierung gegenüber informierten gesetzestreuen Selbständigen, die ihre Versicherungs- und Beitragspflicht - wie hier schon seit Jahren - akzeptiert haben, kann hingenommen werden, wenn man das Befreiungsrecht nach § 231 Abs. 6 SGB VI vor dem Hintergrund der anlässlich der Gesetzesänderungen zum 1. Januar 1999 zutagegetretenen Informations- und Vollzugsdefizite als besonderen Schadensausgleich versteht, ohne den unzumutbare Doppelbelastungen in Kauf zu nehmen wären (vgl. nochmals oben zu Bundestags-Drucksache 14/5095 S. 9); für den Personenkreis der Klägerin ist im Übrigen kein schutzwürdiges Interesse an einem Systemwechsel erkennbar, nachdem seit Jahren - ohne Eintritt eines Leistungsfalls - Pflichtbeiträge gezahlt worden sind (so zutreffend Klattenhoff in Hauck/Haines, SGB VI, § 231 Rdnr. 58). Die für die Klägerin zitierte Rechtsprechung des BVerfG zur Ungleichheit bei der Steuererhebung aus Kapitaleinkünften (vgl. insbesondere Urteil vom 27. Juni 1991, BVerfGE 84, 239) kann in diesem Zusammenhang nicht zur Begründung verfassungsrechtlicher Zweifel herangezogen werden. Bei letzterem Problemkreis geht es um die Enttäuschung der "Ehrlichen" bei einer Amnestie für Hinterzieher von Steuern, also von Abgaben ohne jede konkrete Gegenleistung, nicht wie hier um den Versuch des Rückgängigmachens eines über längere Zeit akzeptierten und bedienten Versicherungsverhältnisses. Dass - wie für die Klägerin behauptet - an die Glaubhaftmachung der Unkenntnis geringe Anforderungen gestellt worden sein mögen, kann nicht das Begehren der Klägerin nach Entlassung aus ihrem Versicherungsverhältnis rechtfertigen (vgl. auch zu alledem nochmals Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. März 2003 - L 14 RA 232/03; die Beschwerde hiergegen zurückweisender Beschluss des BSG vom 5. August 2003 - B 12 RA 5/03 B; jeweils veröffentlicht in Juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Rechtskraft
Aus
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