L 1 KG 2329/00

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 11 KG 4305/99
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 KG 2329/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten des Bundeskindergeldgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 31.01.1994 (BKGG 1994) sind Angelegenheiten der Sozialversicherung im Sinne von §12 Abs.2 SGG.
2. Der Wechsel eines Arbeitnehmers in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis, der nach § 45 Abs. 1 BKGG 1994 die Zuständigkeit des Landesamts für Besoldung und Versorgung begründet, stellt eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 SGB X dar.
3. Zum Beginn der Jahresfrist der §§ 45 Abs. 4 S. 2, 48 Abs.4 SGB X , wenn ein Kindergeldberechtigter zu Unrecht Kindergeld sowohl von der Kindergeldkasse des Arbeitsamts als auch vom Dienstherrn erhält.
4. Kommt es auch aufgrund eines Mitverschuldens der Behörde zu einer unrechtmäßigen Doppelzahlung von Kindergeld, liegt ein atypischer Fall im Sinne von § 48 Abs. 1 S 2 SGB X nicht vor, wenn der Berechtigte systematisch alles unterlassen hat, um zur Aufkärung des Sachverhalts beizutragen.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 3. Mai 2000 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Kläger verpflichtet ist, Kindergeld (Kg) für die Zeit von September 1990 bis Dezember 1995 zurückzuzahlen, weil er für diesen Zeitraum Kg sowohl von der Beklagten als auch vom Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden Württemberg (LBV) erhalten hat ...

Der am 1952 geborene Kläger ist verheiratet. Für seine Kinder B. (geb. am 1983) und V. (geb. am 1985) erhielt er vom Arbeitsamt Hanau zunächst bis August 1990 Kg. Die Kg-Zahlung wurde damals eingestellt, weil der Kläger, der seit September 1990 Professor an der Fachhochschule in P. ist, auch beim LBV Antrag auf Kg gestellt hatte. Von diesem Antrag hatte das Arbeitsamt Hanau durch eine Vergleichsmitteilung des LBV vom 21.09.1990 Kenntnis erhalten und daraufhin die Einstellung der Zahlung auf Ende August 1990 verfügt. Mit Fehlermitteilung/Änderungsanordnung vom 26.11.1990 nahm das Arbeitsamt Hanau die Zahlung von Kg an den Kläger wieder auf. Durch einen Datenabgleich mit dem Einwohnermeldeamt wurde der Beklagten bekannt, dass der Kläger im Jahr 1991 nach P. verzogen ist. Daraufhin gab das Arbeitsamt Hanau die Kg-Akte an die nunmehr zuständige gewordene Kg-Kasse des Arbeitsamts Pforzheim ab, welche das Kg weiter an den Kläger zahlte.

Mit Bericht vom 02.09.1998 teilte das Vorprüfungsamt der Beklagten dem Arbeitsamt Pforzheim mit, dass der Kläger im Zeitraum September 1990 bis Dezember 1993 Kg vom Arbeitsamt Hanau und ab Januar 1994 vom Arbeitsamt Pforzheim erhalten habe und dass dem Kläger zusätzlich vom LBV Kg für diese Zeiträume gezahlt worden sei. Das Arbeitsamt Pforzheim stellte daraufhin mit Änderungsverfügung vom 07.09.1998 die Zahlung des Kg an den Kläger ab September 1998 ein und gab die Akte zur weiteren Bearbeitung an das Arbeitsamt Hanau ab.

Mit Schreiben vom 10.03.1999 hörte das Arbeitsamt Hanau den Kläger zu dem Sachverhalt an. Es führte u.a. aus, der Kläger habe in der Zeit vom 01.09.1990 bis 31.12.1995 Kg erhalten, obwohl darauf möglicherweise kein Anspruch bestanden habe. Denn er habe im genannten Zeitraum Kg für die Kinder B. und V. in Höhe von insgesamt 8.640,- DM doppelt erhalten, einmal von der Familienkasse der Beklagten und zusätzlich vom LBV. Bevor über die Aufhebung der Kg-Bewilligung und der Rückforderung des zuviel gezahlten Betrages entschieden werde, erhalte der Kläger die Möglichkeit, sich innerhalb von drei Wochen nach Zugang des Anhörungsschreibens zu äußern. Nach Einsicht in die Akten der Beklagten ließ der Kläger mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 20.05.1999 mitteilen, er werde die geforderte Zahlung nicht leisten, da er Vertrauensschutz genieße. Mit Bescheid vom 24.06.1999 hob das Arbeitsamt Hanau die Festsetzung des Kg für den von September 1990 bis Dezember 1995 doppelt gezahlte Kg gemäß § 48 Abs. 1 SGB X auf und forderte vom Kläger den zuviel gezahlten Betrag in Höhe von 8.640,- DM zurück.

Am 07.07.1999 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 24.06.1999 Widerspruch ein, den er allerdings nicht näher begründete. Die Widerspruchsstelle des Arbeitsamts Hanau wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.08.1999 zurück. Zur Begründung ihrer auf § 45 SGB X gestützten Entscheidung führte sie im Wesentlichen aus, der Kläger hätte wissen müssen, dass ihm das Kg nur einmal und nicht doppelt zusteht. Er genieße daher keinen Vertrauensschutz. Auch nach Würdigung der im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigenden Umstände des Einzelfalles ergebe sich keine Veranlassung, den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung des gesetzmäßigen Zustandes hinter den Belangen des Widerspruchsführers zurücktreten zu lassen.

Am 22.09.1996 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Stuttgart erhoben. Dieses hat sich mit Beschluss vom 08.11.1999 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Karlsruhe (SG) verwiesen. Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 03.05.2000, dem Prozessbevollmächtigten des Kläger zugestellt am 10.05.2000, abgewiesen; auf die Entscheidungsgründe wird verwiesen.

Am 07.06.2000 hat der Kläger Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, dass die Rückforderung der Beklagten nicht rechtmäßig ist. Er habe das Kg verbraucht und genieße deshalb Vertrauensschutz. Dabei sei zu berücksichtigen, dass ab 1990 bei Familien mit mehr als zwei Kindern bei Beamten ein völlig unzureichender Familienzuschlag gewährt worden sei. Dies hätte die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigen müssen. Er sei seiner Informationspflicht nachgekommen. Der Beklagten sei seit der Vergleichsmitteilung des LBV vom 21.09.1990 bekannt gewesen, dass er ab September 1990 von dieser Stelle Kg erhalte. Daher sei auch die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X verstrichen. Im Übrigen berufe er sich auf Verwirkung und Verjährung.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 03. Mai 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 1999 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend. Ergänzend trägt sie vor, die Aufhebung der Kg-Bewilligung scheitere nicht an der Jahresfrist des § 45 SGB X. Diese Frist werde nicht schon durch Kenntnis der Tatsachen ausgelöst, welche die wesentliche Änderung selbst betreffen. Erforderlich sei auch die Kenntnis der Tatsachen, welche die Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit rechtfertigen. Der Lauf der Jahresfrist könne daher regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung beginnen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat in der Besetzung mit je einem ehrenamtlichen Richter aus dem Kreis der Versicherten und der Arbeitgeber entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit der Sozialversicherung iSd § 12 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) handelt. Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit folgt im vorliegenden Fall aus § 27 Bundeskindergeldgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 31.01.1994, BGBl I S. 168 (BKGG 1994). Danach sind öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten des BKGG 1994 Streitigkeiten in Angelegenheiten der Bundesanstalt für Arbeit iSd SGG und damit Angelegenheiten der Sozialversicherung. Ob für Streitigkeiten nach § 15 BKGG etwas anderes gilt (so Meyer-Ladewig, SGG 7. Aufl.2002 § 12 Rdnr. 9: Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts) braucht hier nicht entschieden zu werden.

Die gemäß den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 1999 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist § 48 SGB X. Die Anwendung dieser Bestimmung ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil durch die Weiterzahlung des Kg ab September 1990 die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X eingetreten wäre. Der Anspruch des Klägers auf Zahlung von Kg gegenüber dem LBV würde nach dieser Bestimmung als erfüllt gelten, wenn die Beklagte einen Erstattungsanspruch gegenüber dem LBV nach § 105 SGB X hätte. Dies ist aber nicht der Fall. Ein solcher Erstattungsanspruch des unzuständigen Leistungsträgers - hier die Beklagte - gegen den zuständigen Leistungsträger - hier das LBV - besteht nach § 105 Abs. 1 S. 1 SGB X nur, wenn der zuständige Leistungsträger nicht bereits geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Im vorliegenden Fall war dem LBV jedoch nicht bekannt, dass die Beklagte dem Kläger auch ab September 1990 Kg zahlt. Im Gegenteil. Das LBV hat in seiner Vergleichsmitteilung vom 21.09.1990 angekündigt, Kg erst auszuzahlen, wenn das Arbeitsamt Hanau die Zahlung von Kg an den Kläger eingestellt hat. Das LBV ging daher nach der Mitteilung des Arbeitsamtes Hanau, Kg werde nur bis August 1990 gezahlt, davon aus, dass ab September 1990 keine weitere Zahlung durch das Arbeitsamt mehr erfolgt. Das LBV hat damit als zuständiger Leistungsträger in Unkenntnis der Kg-Zahlung durch das Arbeitsamt geleistet. In diesen Fällen ist ein Erstattungsanspruch nach § 105 SGB X ausgeschlossen (von Wulffen/Roos, SGB X, 4. Aufl. 2001, § 105 Rdnr. 9).

Die Regelung des § 45 SGB X greift nicht ein. Die Beklagte hat zwar zunächst die Zahlung des Kg mit Änderungsverfügung vom 01.10.1990 eingestellt. Die bloße Zahlungseinstellung stellt aber noch keine Aufhebung des Verwaltungsaktes dar, mit dem ursprünglich Kg bewilligt worden war und auf dem die Kg-Zahlung bis August 1990 beruht. Hierzu hätte es einer Aufhebungsentscheidung bedurft, die nach dem damals geltenden Recht in Form eines schriftlichen Bescheides hätte erfolgen müssen (§ 25 Abs. 1 BKGG 1994 ). Den Akten lässt sich nicht entnehmen, dass ein solcher Bescheid ergangen ist, und weder die Beklagte noch der Kläger haben den Erlass eines solchen Bescheides behauptet. Damit beruht auch die Zahlung von Kg über den August 1990 hinaus auf dem früheren Bewilligungsbescheid und nicht auf einem neuen - dann von Anfang an rechtswidrigen - Bescheid. Der Anwendungsbereich des § 45 SGB X, der einen schon zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrigen Verwaltungsakt voraussetzt, ist damit nicht eröffnet.

Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll darüber hinaus nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderung der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X) oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X). Die Behörde muss außerdem eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen aussprechen, welche die Rücknahme des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen (§ 45 Abs. 4 S. 2 i.V. m § 48 Abs. 4 S. 1 SGB X). Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X).

Die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 48 SGB X sind erfüllt. Der Verwaltungsakt, auf dem die Zahlung von Kg durch die Beklagte beruht, ist durch eine wesentliche Änderung ab September 1990 rechtswidrig geworden. Ab diesem Zeitpunkt stand der Kläger in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Land Baden-Württemberg. Dies hatte zur Folge, dass nach § 45 Abs. 1 BKGG 1994 für die Zahlung des Kg an den Kläger das LBV und nicht mehr die Beklagte zuständig war. Dadurch wurde die Kg-Zahlung durch die Beklagte ab September 1990 rechtswidrig. Denn auch ein Verstoß gegen die sachliche Zuständigkeit führt zur Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes (von Wulffen/Wiesner, SGB X, 4. Aufl. 2001, § 45 Rdnr 9 a.E.).

Der Senat ist auch davon überzeugt, dass der Kläger die Rechtswidrigkeit der Kg-Zahlung ab September 1990 kannte. Er wusste, dass der sich aus dem ursprünglichen Verwaltungsakt ergebende Anspruch auf Zahlung von Kg durch die Arbeitsverwaltung kraft Gesetzes weggefallen ist, denn es ist für jedermann offensichtlich, dass dieselbe Leistung nur einfach und nicht doppelt beansprucht werden kann. Der Kläger hat auch davon abgesehen, Kg für seine am 27.01.1991 geborene Tochter C. beim Arbeitsamt zu beantragen. Wäre er davon ausgegangen, dass ihm Kg sowohl vom Arbeitsamt als auch vom LBV zu zahlen ist, hätte er konsequenterweise auch für sein drittes Kind einen Anspruch bei der Kindergeldkasse geltend machen müssen. Damit sind die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldbewilligung nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X gegeben. Darüber hinaus ist der Kläger seiner sich aus § 60 SGB I ergebenden Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Verhältnisse zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen. Noch im Oktober 1990, also bereits nach Aufnahme seiner Tätigkeit an der Fachhochschule, hat er in einem Fragebogen gegenüber dem Arbeitsamt Hanau mit seiner Unterschrift bestätigt, ihm sei bekannt, dass er alle Änderungen, die für den Anspruch auf Kg von Bedeutung sind, unverzüglich dem Arbeitsamt - Kindergeldkasse - mitzuteilen habe. Dennoch hat er davon abgesehen den Umstand, dass er Kg beim LBV beantragt hat und eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst aufgenommen hat, der Kindergeldkasse mitzuteilen. Kenntnis von diesem Sachverhalt hat das Arbeitsamt nur durch die Vergleichsmitteilung des LBV erhalten. Damit sind auch die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X erfüllt. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und 4 SGB X ermöglicht nicht nur eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit, sondern auch die Rücknahme nach Ablauf von zwei Jahren seit Eintritt der wesentlichen Änderung (vgl § 45 Abs. 3 S. 3 i.V. m. § 48 Abs. 4 S: 1 SGB X).

Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, die gemäß § 48 Abs. 4 SGB X auch im vorliegenden Fall zu beachten ist, steht einer Aufhebung der Kg-Bewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit nicht entgegen. Kenntnis der Tatsachen, die eine Rücknahme der ab September 1990 rechtswidrigen Kg-Bewilligung rechtfertigen, hatte die Beklagte frühestens im September 1998. Damals stellte das Vorprüfungsamt der Beklagten in Stuttgart die unrechtmäßige Doppelzahlung fest. Da der Aufhebungsbescheid im Juni 1999 ergangen ist, wurde die Jahresfrist gewahrt. Auf die Vergleichsmitteilung des LBV vom September 1990 kann dagegen nicht abgestellt werden. Durch diese Mitteilung hat das Arbeitsamt Hanau zwar Kenntnis davon erhalten, dass der Kläger im September 1990 einen Antrag auf Kg gestellt hat, dem das LBV stattgeben wird, sobald das Arbeitsamt seine Kg-Zahlung einstellt. Dadurch hat die Beklagte aber nur von der wesentlichen Änderung erfahren, die eine Aufhebung der Kg-Bewilligung mit Wirkung für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X gerechtfertigt hätte. Das BSG hat jedoch in ständiger Rspr. klargestellt, dass der Behörde auch diejenigen Tatsachen bekannt sein müssen, die § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X für eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit voraussetzt (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 42 m.w.N.). Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Behörde überhaupt bewusst gewesen sein muss, eine unrechtmäßige Doppelzahlung vorgenommen zu haben. Das Arbeitsamt Hanau hat die Weiterzahlung des Kg über August 1990 hinaus aufgrund einer Fehlermitteilung/Änderungsanordnung vorgenommen. Dies belegt, dass es die zunächst vorgenommene Zahlungseinstellung für falsch erachtet hatte und davon ausging, dass dem Kläger das Kg auch weiterhin von der Kindergeldkasse zu zahlen ist. Kenntnis von einer rechtswidrigen Doppelzahlung hatte die Beklagte folglich frühestens im September 1998.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll ein Verwaltungsakt rückwirkend vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufgehoben werden. Dies bedeutet, dass der Leistungsträger in der Regel den Verwaltungsakt rückwirkend aufhebt, dass er jedoch in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen kann. Die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, ist als Rechtsvoraussetzung im Rechtsstreit von den Gerichten zu entscheiden und hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Dieser muss Merkmale aufweisen, die im Hinblick auf die mit der Rückwirkung verbundenen Nachteile von den Normalfällen der Tatbestände des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 SGB X deutlich abweichen, sodass der Leistungsempfänger in besondere Bedrängnis gerät (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr. 10). Ein solcher atypischer Fall liegt noch nicht vor, wenn der Betroffene zunächst seiner Verpflichtung zur Mitteilung einer wesentlichen, für ihn nachteiligen Änderung der Verhältnisse nicht nachkommt, er hierdurch eine von ihm erkannte Leistungsüberzahlung verursacht, jedoch nach den Gesamtumständen des Falles die Verwaltung auch ohne Anzeige den geänderten Tatbestand hätte bemerken können (BSG aaO).

Zwar hat im vorliegenden Fall die Beklagte durch die Vergleichsmitteilung des LBV von den geänderten Verhältnissen erfahren; sie trägt daher eine Mitschuld an der unrechtmäßigen Doppelzahlung. In Übereinstimmung mit der Rspr. des BSG (Urteil vom 29.04.1992 - 7 RAr 4/91) geht auch der Senat davon aus, dass mitwirkendes Verhalten der Behörde im Einzelfall die Annahme eines atypischen Falles begründen kann. Dennoch liegt hier ein atypischer Fall in diesem Sinne nicht vor. Der Kläger hat nicht nur seine Mitteilungspflicht verletzt, weil er die Kindergeldkasse nicht über seine ab September 1990 ausgeübte Tätigkeit im öffentlichen Dienst informiert hat. Er hat vielmehr systematisch alles unterlassen, was zur Aufklärung des Falles hätte beitragen können. So hat er z.B. am 05.10.1990 in einem Fragebogen gegenüber der Kindergeldkasse zwar in Bezug auf das Jahr 1989 zutreffende Angaben gemacht; er hat jedoch - was nahe gelegen hätte - auch bei dieser Gelegenheit kein Wort über seine neue Tätigkeit an der Fachhochschule in P. verloren. Auch die Geburt seiner Tochter C. im Januar 1991 hat er nicht zum Anlass genommen, die Kindergeldkasse, von der er weiterhin Kg bezogen hat, über den geänderten Sachverhalt zu informieren. Bereits diese Umstände machen deutlich, dass hier nicht von einem atypischen Fall ausgegangen werden kann. In den Akten der Beklagten findet sich ferner die Durchschrift eines Schreibens der Kindergeldkasse Hanau vom 06.02.1991, in welchem dem Kläger mitgeteilt wird, dass er ab Januar 1991 ein monatliches Kg in Höhe von 120 DM erhalten wird, weil er im Fragebogen erklärt hatte, nur den Sockelbetrag zu beanspruchen. Auch dieses Schreiben hätte den Kläger veranlassen können, den Irrtum dem das Arbeitsamt erlegen ist, aufzuklären. Bei dieser Vorgehensweise des Klägers vermag der Senat nicht zu erkennen, dass die Aufhebung der Kg-Bewilligung für die Vergangenheit einen vom Regelfall abweichenden atypischen Fall bildet. Es gibt auch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die Begleichung der Rückforderung beim Kläger zu einer sozialen Härte führen wird. Die Beklagte war daher berechtigt und verpflichtet, die Kg-Bewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Unerheblich ist, dass die Beklagte ihre Entscheidung statt auf § 48 SGB X auf die Vorschrift des § 45 SGB X gestützt hat. Dies stellt bei einem gebundenen Verwaltungsakt einen nicht zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides führenden Begründungsfehler dar, der keine Aufhebung des Bescheides rechtfertigt (vgl § 42 SGB X).

Der Erstattungsanspruch der Beklagten ist weder verwirkt noch verjährt. Ein Tatbestand der Verwirkung ist für den Senat nicht ersichtlich und wurde vom Kläger auch nicht substantiiert dargetan. Die Verjährung beginnt nach § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X erst nach Bestandkraft des angefochtenen Bescheides. Der Zeitpunkt der Überzahlung ist für den Eintritt der Verjährung unerheblich (von Wulffen/Wiesner, SGB X 4. Aufl. 2001, § 50 Rdnr. 22).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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