L 13 AL 4894/01

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AL 1997/01
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AL 4894/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
"1.Hat eine von der Bundesanstalt für Arbeit bei ihrem ärztlichen Diesnt veranlasste Untersuchung des Beziehers von Arbeitslosengeld ergeben, dass dieser bis zu 6 Monate nicht leistungsfähig ist, ist die an den Leistungsempfänger mit der Androhung der Leistungsentziehung gerichtete Aufforderung, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorzulegen, unverhältnismäßig und unbeachtlich.
2. Hält sich der Arbeitslpse krankheitsbedingt für gesund und lehnt er es deshalb ab, sich ärztlich behandeln und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausstellen zu lassen, muss hierauf bei der Ausübung des Ermessens eingegangen werden, ebenso muss in die Ermessenserwägungen der durch eine völlige Entziehung eintretende Verlust des Krankenversicherungsschutzes eingestellt werden.
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 28. November 2001 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Entziehung von Arbeitslosengeld (Alg) ab 20. Juli 2001. Der 1971 geborene Kläger war vom 1. Juli 1998 bis 31. Januar 1999 als Service Techniker bei der B. GmbH und vom 1. Februar 1999 bis 29. Februar 2000 als Leiter der EDV-Abteilung bei der m.-t. M. T. GmbH beschäftigt. Danach arbeitete er vom 1. März 2000 bis 31. Januar 2001 als System-Engineer bei der A.D. in A./S. Zuletzt war er vom 1. Februar bis 16. Februar 2001 als Supporter bei der W. W. M. AG in B. beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis ist durch den Arbeitgeber am 9. Februar 2001 innerhalb der Probezeit zum 16. Februar 2001 gekündigt worden. Am 16. Februar 2001 meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt L. (ArbA) arbeitslos und beantragte Alg. Er legte eine nervenfachärztliche Bescheinigung des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. vom 7. März 2001 vor, wonach er ab dem 6. November 2000 krank geschrieben gewesen und am 27. November 2000 in die Universitätsklinik F. eingewiesen worden sei; wegen seiner Erkrankung sei er zur Aufgabe seines Arbeitsplatzes mehr oder weniger genötigt worden. Durch Bescheid vom 20. März 2001 wurde Alg ab 17. Februar 2001 in Höhe von wöchentlich 449,12 DM für die Dauer von 360 Tagen bewilligt. Der Bewilligung lagen ein sich aus einer fiktiven Einstufung als Supporter (ortsübliches Gehalt mit 5.700,- DM zuzüglich Weihnachtsgeld) ergebendes Bemessungsentgelt von 1.320,00 DM, Leistungsgruppe A und Kindermerkmal 0 zugrunde. Hiergegen erhob der Kläger am 6. April 2001 Widerspruch und wandte sich gegen die Höhe des Bemessungsentgelts; er sei mit einer Einstufung als Supporter nicht einverstanden. Mit bestandskräftigem Widerspruchsbescheid vom 11. April 2001 wies das ArbA den Widerspruch zurück. Das ArbA veranlasste eine arbeitsamtsärztliche Begutachtung. Internistin Dr. Ho.-H. gelangte in ihrem Gutachten vom 22. Mai 2001 aufgrund der Diagnose "Blande Psychose, wahnhafte Störung" zum Ergebnis der Kläger sei voraussichtlich bis zu sechs Monaten vermindert oder nicht leistungsfähig; er könne täglich nur weniger als drei Stunden arbeiten. Sie führte aus, im Vordergrund stehe eine seelische Erkrankung, deren Behandlung weiterhin dringend erforderlich sei. Eine Krankenhausbehandlung habe Ende 2000 mangels Versicherungsschutz abgebrochen werden müssen. Für eine weitere Behandlung sei der Kläger derzeit mäßig einsichtig. Dieser habe von Kontrollgedanken berichtet, die für ihn Realität seien. Er werde von Arbeitgebern, bei denen er sich seit seiner Arbeitslosigkeit vorgestellt habe, kontrolliert; auch die Polizei kontrolliere ihn. Das ArbA habe ihn zum Psychologen schicken wollen. Zu diesem sei er nicht gegangen; er sei kerngesund. Neben anderen ärztlichen Unterlagen zog Dr. Ho.-H. auch den Bericht der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychosomatik F. vom 8. Dezember 2000 über den dortigen stationären Aufenthalt vom 27. November bis 6. Dezember 2000 bei. Darin wurde als Diagnose eine wahnhafte Störung angegeben und berichtet, dass der Kläger während des stationären Aufenthaltes extrem eingeengt gewesen sei auf die Kündigung zum 1. Februar 2001 sowie die dringende Notwendigkeit einer erneuten Arbeitssuche. Die drohende Arbeitslosigkeit habe er mit einem zwangsläufigen sozialen Abstieg bis hin zur Obdachlosigkeit verbunden. Aufgrund dieser gedanklichen Einengung sowie der kompletten Ablehnung einer medikamentösen Therapie sei es nicht möglich gewesen, den Kläger zu einer Behandlung zu motivieren. Er sei auf sein Drängen entlassen worden, obgleich eine medikamentöse Therapie sowie eine Psychotherapie dringend indiziert sei. Mit Bescheid vom 11. Juni 2001 stellte die Beklagte die Alg-Zahlung ab 1. Juni 2001 ein und teilte dem Kläger mit, sofern er entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorlegen könne, werde das Alg gemäß § 126 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) für die Dauer von sechs Wochen weitergewährt. Hiergegen erhob der Kläger am 13. Juni 2001 Widerspruch und führte aus, er sei uneingeschränkt leistungsfähig und würde gerne Stellenvorschläge in der Region erhalten. Bei einem Beratungsgespräch am 13. Juni 2001 wurde ihm das ärztliche Gutachten eröffnet und mitgeteilt, dass zur Weiterzahlung der Leistung eine Krankschreibung erforderlich sei. Der Kläger erklärte hierauf, er sei gesund und wolle Vermittlungsvorschläge. Bei einer Vorsprache am 18. Juni 2001 wurde ihm nochmals seitens des ArbA die Notwendigkeit der Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erläutert; der Kläger betonte mehrmals, er sei nicht krank und sehe daher die Notwendigkeit der Vorlage entsprechender Nachweise nicht ein. Mit Schreiben vom 15. Juni 2001 teilte das ArbA dem Kläger mit, durch die Untersuchung bei der Arbeitsamtsärztin sei bekannt, dass er arbeitsunfähig erkrankt sei. Die für die Leistungsfortzahlung gemäß § 126 SGB III erforderliche ärztliche Bescheinigung über den Beginn und die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit, zu deren Vorlage er verpflichtet sei, liege jedoch bislang nicht vor. Er wurde aufgefordert, diese Bescheinigung umgehend von seinem Arzt ausstellen zu lassen und dieses bis spätestens 28. Juni 2001 zu erledigen. Weiterhin wurde er darauf hingewiesen, dass, wenn er diesen Termin nicht einhalten sollte und auch sonst keine Hinderungsgründe mitgeteilt würden, die bewilligte Leistung gemäß § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) entzogen werde. Mit Bescheid vom 13. Juli 2001 hob das ArbA den Bescheid vom 11. Juni 2001 auf. Durch Bescheid gleichen Datums entzog es das Alg ab 1. Juli 2001. Mit weiterem, den Bescheid vom 13. Juni 2001 "korrigierenden" Bescheid vom 17. Juli 2001 entzog das ArbA das Alg ab 20. Juli 2001 in vollem Unfang. Zur Begründung wurde angegeben, der Kläger habe die ärztliche Bescheinigung über Beginn und Dauer der Arbeitsunfähigkeit trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht vorgelegt. Dadurch sei er seiner Mitwirkungspflicht nach § 60 SGB I nicht nachgekommen und habe die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert. Mit E-Mail vom 13. Juli 2001, 17. Juli 2001, 18. und 19. Juli 2001 teilte der Kläger jeweils Vorstellungstermine mit. Am 20. Juli 2001 erhob er Widerspruch gegen den Bescheid vom 17. Juli 2001. Er habe eine ärztliche Bescheinigung über Beginn und Dauer der Arbeitsunfähigkeit nicht vorgelegt, da er nicht arbeitsunfähig gewesen sei. Entgegen dem ärztlichen Gutachten habe er keinerlei seelische Probleme. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2001 wies das ArbA den Widerspruch zurück. Zur Begründung war ausgeführt, der Kläger sei der Aufforderung zur Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht nachgekommen mit der Folge, dass die Leistungen für die Zukunft zu entziehen gewesen seien. Deswegen hat der Kläger am 19. Juli 2001 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben; er sei ein kerngesunder Mensch, der schnellstmöglich einen Arbeitsplatz erhalten wolle. Deshalb habe er sich nicht ärztlich untersuchen lassen. Auf entsprechenden Hinweis des SG hat das ArbA mit Bescheid vom 15. Oktober 2001 sein Ermessen im Hinblick auf den Bescheid vom 17. Juli 2001 betätigt und die entsprechende Begründung gemäß § 41 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nachgeschoben. Abzuwägen sei zwischen Sinn und Zweck des § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I und den Umständen des Einzelfalles. Die erforderlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen könnten ausschließlich vom Kläger beschafft werden. Es seien keine Gründe erkennbar, die aus Sicht des Klägers dem entgegenstünden. Mit Gerichtsbescheid vom 28. November 2001 hat das SG die Bescheide vom 13. Juli und 17. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2001 sowie den Bescheid vom 15. Oktober 2001 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keine der in den §§ 60 bis 62, 65 SGB I genannten Mitwirkungspflichten verletzt. Gegen diesen dem ArbA gegen Empfangsbekenntnis am 4. Dezember 2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 14. Dezember 2001 beim Landessozialgericht schriftlich Berufung eingelegt. Der Kläger habe seine sich aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I ergebende Mitwirkungspflicht verletzt. Danach habe er Änderungen in den für die Leistung erheblichen Verhältnissen unverzüglich mitzuteilen. Durch § 311 Satz 1 SGB III erfahre § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I eine Konkretisierung bezüglich des Nachweises einer Arbeitsunfähigkeit. Die Mitwirkungspflicht des Klägers umfasse den entsprechenden Nachweis mittels Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Unterbleibe dieser Nachweis, so sei die Entziehung der Leistung nach § 66 SGB I zulässig. Die Beklagte beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 28. November 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend. Zur weiteren Darstellung wird auf die Leistungsakte des ArbA (Stammnummer), die Klageakte des SG (S 7 AL 1997/01) sowie die Berufungsakte des Senats (L 13 AL 4894/01) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. In der Berufungsinstanz fortwirkende Verfahrenshindernisse liegen nicht vor. Zwar ist für den Kläger seit 26. Oktober 2001 ein Betreuer bestellt, dessen Aufgabenkreis auch die Vermögenssorge umfasst. Der Betreuer hat jedoch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Prozessführung des Klägers und gegenüber diesem genehmigt Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist unter Beachtung der Form- und Fristvorschriften des § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz ( SGG ) eingelegt worden sowie statthaft (§ 143 SGG), weil der Beschwerdewert mehr als 1.000,- DM beträgt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG auf die Anfechtungsklage die angefochtenen Bescheide aufgehoben; denn sie sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Mit der Aufhebung der Entziehung des Alg erlangt der Kläger wieder den ihm aus der bindenden Leistungsbewilligung zustehenden Anspruch auf Zahlung von Alg; da die Beklagte im Verfahren nicht zum Ausdruck gebracht hat, dass sie auch für den Fall einer erfolgreichen Anfechtungsklage den Bewilligungsbescheid in keinem Fall erfüllen werde, bedarf es hier keiner zusätzlichen Leistungsklage ( vgl. Bundessozialgericht ( BSG ) in BSGE 76, 16, 17 ). Ermächtigungsgrundlage für die Entziehung des Alg ab 20. Juli 2001 ist § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Danach kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise (versagen oder) entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind, wenn derjenige, der eine Sozialleistung erhält, seinen Mitwirkungspflichten aus §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert wird. Nach § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur (versagt oder) entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. Vorliegend steht zwar fest, dass das ArbA den Kläger in der geforderten konkreten Weise ( vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr 13 ) darauf hingewiesen hat, dass es die Leistung entziehe, wenn der Kläger nicht innerhalb der - angemessenen - Frist bis 28. Juni 2001 eine ärztliche Bescheinigung über Beginn und Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit vorlege. Schon die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 SGB I liegen aber nicht vor. Zwar trifft zu, dass der Arbeitslose bei Eintritt von Arbeitsunfähigkeit während des Leistungsbezugs trotz an sich deshalb fehlender Verfügbarkeit (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, Abs. 3 SGB III ) den Anspruch auf Alg für die Dauer von sechs Wochen nicht verliert ( § 126 Abs.1 Satz 1 SGB III ). Dabei ist der Leistungsbezieher neben der Pflicht zur unverzüglichen Anzeige der Arbeitsunfähigkeit auch verpflichtet, spätestens vor Ablauf des dritten Kalendertags nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer vorzulegen ( § 311 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 SGB III ). Auch wenn die in § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB I für Leistungsbezieher verankerte und bei Verletzung die Entziehung ermöglichende Pflicht zur Vorlage von Beweisurkunden sich auf erst noch zu beschaffende Urkunden bezieht ( vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr 10; a. A. Voelzke in Hauck/Noftz, SGB III, K§311 Rz 23 ), hat der Kläger hier nicht gegen seine Mitwirkungspflicht verstoßen. Denn der Beklagten war durch die von der Arbeitsamtsärztin Dr. Ho.-H. durchgeführte Untersuchung bereits hinreichend sicher bekannt, dass der Kläger arbeitsunfähig erkrankt ist. Deren Feststellung, er sei voraussichtlich bis zu sechs Monaten nicht leistungsfähig, kann nur so verstanden werden, dass die Ärztin damit Arbeitsunfähigkeit bejaht hat; so hat auch das ArbA das Untersuchungsergebnis interpretiert, denn es hat die Pflicht zur Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Schreiben vom 15. Juni 2001 und schon vorher mündlich damit begründet, dass im Rahmen der amtsärztlichen Untersuchung bekannt geworden sei, dass der Kläger arbeitsunfähig erkrankt sei. Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit kann, wie in der gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt ist ( KassKomm-Höfler § 46 SGB V RdNr 5), von allen Ärzten, also nicht notwendig nur vom behandelnden Arzt getroffen werden. Damit stellt sich das sich nicht auf eine noch beweisbedürftige Tatsache beziehende Verlangen des ArbA als unverhältnismäßig und unbeachtlich dar. Denn auch zum Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit kann eine nachträglich ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keinen Beweis erbringen. Die streitigen Verwaltungsentscheidungen sind in jedem Fall aber auch deshalb rechtswidrig, weil sie den Kläger in seinem Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch verletzen. Nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X muss die Begründung eines schriftlichen Verwaltungsaktes, der eine Ermessensentscheidung zum Inhalt hat, "auch" die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Ist die Begründung unterblieben, darf sie mit heilender Wirkung bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (vgl. § 41 Abs. 2 SGB X in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung des Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften vom 21. Dezember 2000, BGBl I, 1983 ). So hat sich die Beklagte vorliegend verhalten, denn sie hat während des sozialgerichtlichen Verfahrens mit Bescheid vom 15. Oktober 2001 ihre Ermessensausübung nachgeholt und eine entsprechende Begründung nachgeschoben. Ob die Nachholung auch dann erlaubt ist, wenn der mit der Klage angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheid- wie hier - keinerlei Ermessensausübung enthält, das gebotene Ermessen also erstmalig im Gerichtsverfahren ausgeübt wird und maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage anders als beim vorliegenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ( vgl. BSGE 76, 16, 19 ) die Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids wäre, kann offen bleiben ... Denn die Beklagte hat ihr Ermessen im Bescheid vom 15. Oktober 2001 nicht fehlerfrei ausgeübt. Nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise entziehen. Das Gesetz räumt den Verwaltungsträgern einen Entscheidungsspielraum ein, den die Gerichte zu achten haben. Gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG dürfen sie nur prüfen, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, ob sie also die ihr durch das Verwaltungsverfahrensrecht (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I) auferlegte Verhaltenspflicht beachtet haben, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich somit darauf, ob der Leistungsträger seiner Pflicht zur Ermessensbetätigung nachgekommen ist, ob er mit dem Ergebnis seiner Ermessensbetätigung, d.h. mit seiner Ermessensentscheidung, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten, also eine nach dem Gesetz nicht zugelassene Rechtsfolge gesetzt und ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Abwägungsdefizit, Ermessensmissbrauch; zum Vorstehenden Bundessozialgericht [BSG] SozR 3-1300 § 50 Nr. 16; BSG SozR 3-1200 § 39 Nr. 1; BSG SozR 3-1200 § 61 Nr. 1). Vorliegend ist die Entziehungentscheidung ermessensfehlerhaft. Die Beklagte hat ihren Entscheidungsspielraum nicht "entsprechend dem Zweck der Ermächtigung" ausgeführt. Ihr ist ein Abwägungsdefizit vorzuwerfen. Der Schutzzweck der Entziehungsermächtigung (§ 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I) rechtfertigt gerade aufgrund des in dieser Vorschrift eingeräumten Ermessens rechtlich nicht von vornherein in jedem Fall eine Entziehung der Leistung. In die Abwägung zwischen dem Interesse der Versichertengemeinschaft bzw. der Allgemeinheit am Schutz von Nachteilen einerseits und dem Interesse eines materiell Berechtigten, der nicht mitgewirkt hat, die Leistung weiterhin ungeschmälert zu beziehen, sind besondere Umstände des Einzelfalles sowie persönliche Verhältnisse des Berechtigten einzubeziehen. Liegen beispielsweise persönliche Umstände vor, welche für die subjektive Zurechnung der fehlenden Mitwirkung erheblich sein können, sind diese bei der Abwägung im Rahmen der Ermessensbetätigung mitzuberücksichtigen (vgl. BSG SozR 3-1200 § 61 Nr. 1). Solche persönlichen Umstände des Klägers waren der Beklagten durch das arbeitsamtsärztliche Gutachten vom 22. Mai 2001 bekannt. Nach diesem Gutachten leidet der Kläger in der Hauptsache an einer seelischen Erkrankung i. S. einer blanden Psychose. Im Entlassungsbericht der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik der Universität F. vom 8. Dezember 2000 über die stationäre Behandlung vom 27. November bis 6. Dezember 2000 ist als Diagnose von wahnhafter Störung die Rede. Schon im arbeitsamtsärztlichen Gutachten ist im Beiblatt zum Befundbogen aufgeführt, dass der Kläger sich - entgegen den objektiven Befunden - für gesund hält, vor diesem Hintergrund eine ärztliche Behandlung nicht für erforderlich erachtet und zur Zeit auch bei keinem Arzt in Behandlung ist. Auch im Entlassungsbericht der Uniklinik Freiburg wird hervorgehoben, dass es nicht gelungen war, den Kläger zu einer Behandlung zu motivieren, obwohl eine medikamentöse Therapie sowie eine Psychotherapie dringend indiziert war. Auch im weiteren Verlauf des Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahrens bis zum Zeitpunkt der Ermessensbetätigung durch die Beklagte mit Bescheid vom 15. Oktober 2001 hat der Kläger immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass er sich für gesund hält und vor diesem Hintergrund eine ärztliche Behandlung bzw. einen Arztbesuch zur Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ablehnt. Weiterhin ist im ärztlichen Entlassungsbericht der Uniklinik F. davon die Rede, dass der Kläger im Rahmen seiner seelischen Erkrankung eine "extreme Einengung" auf die ihn zum 1. Februar 2001 erwartende Arbeitslosigkeit sowie die dringende Notwendigkeit einer erneuten Arbeitssuche erlebte, wobei er die drohende Arbeitslosigkeit mit einem zwangsläufigen Abstieg bis hin zur Obdachlosigkeit verbunden hat. Gerade diese gedankliche Einengung verhinderte eine Motivation des Klägers für eine Behandlung. Aus alldem wird deutlich und war der Beklagten bekannt, dass die seelische Erkrankung des Klägers u.a. darin zum Ausdruck kommt, dass er sich - entgegen seinem tatsächlichen Gesundheitszustand - für gesund hält und deswegen vor allem darauf aus ist, alsbald wieder in ein Arbeitsverhältnis zu gelangen. Dies wird auch in seinen "Eigenbemühungen" mit mehreren Vorstellungsgesprächen deutlich, die er jeweils dem ArbA mitgeteilt hat. Aufgrund dieser persönlichen Umstände des Klägers musste das ArbA bei seiner Ermessensausübung berücksichtigen, ob die fehlende Mitwirkung - Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung - des Klägers nicht gerade in seiner seelischen Erkrankung (mit) begründet ist und somit ihm subjektiv überhaupt zurechenbar war. Stattdessen hat das ArbA im Rahmen seiner Ermessensausübung im Bescheid vom 15. Oktober 2001 ausgeführt, dass keine Gründe erkennbar seien, die aus Sicht des Klägers entgegenstünden, seinen behandelnden Arzt aufzusuchen und eine entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Die Beklagte hat es versäumt, in die Abwägung einzubeziehen, ob solche Gründe nicht gerade in der seelischen Erkrankung des Klägers liegen. Im Rahmen der Ermessensausübung hätte die Beklagte ferner auch zugunsten des erkrankten und behandlungsbedürftigten Klägers berücksichtigen müssen, dass dieser durch ihre Entscheidung der völligen Entziehung des Alg den Krankenversicherungsschutz verliert. Da die angefochtenen Bescheide somit auch an einem Abwägungsdefizit im Rahmen der Ermessensausübung leiden, sind sie rechtswidrig und zu Recht vom SG aufgehoben worden. Der Bescheid vom 17. Juli 2001 ist auch nicht - im Wege der Umdeutung nach § 43 SGB X - als Aufhebung der bestandskräftigen Alg-Bewilligung gemäß § 45 oder § 48 SGB X rechtmäßig. Abgesehen davon, dass schon nicht feststeht, ob der Kläger schon zu Beginn des Leistungsbezugs arbeitsunfähig war, also nicht verfügbar (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 SGB III) er deshalb auch keinen Anspruch auf Leistungsfortzahlung (vgl. § 126 Abs. 1 Satz 1 SGB III) hatte. und damit die Alg-Bewilligung von Anfang an rechtswidrig war (vgl. § 45 SGB X) bzw. ob und wann im Sinne einer Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse (vgl. § 48 SGB X) die Verfügbarkeit wegen Arbeitsunfähigkeit entfallen ist, steht einer Umdeutung § 43 Abs. 2 SGB X entgegen. Danach ist eine Umdeutung nicht möglich, wenn nach Umdeutung die Rechtsfolgen des Verwaltungsakts für den Betroffenen ungünstiger wären. Dies wäre hier so. Der Kläger verlöre nämlich die Möglichkeit, die Mitwirkungshandlung nachzuholen und so gemäß § 67 SGB I die Leistung nachträglich noch zu erhalten. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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