L 6 VG 3894/98

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 6 VG 559/98
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 3894/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 6 VG 7/01 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Anspruch auf Entschädigung nach dem OEG wegen eines Schockschadens, den eine Mutter in Deutschland anlässlich der Ermordung ihrer Kinder in Mallorca erleidet.
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 8. September 1998 sowie der Bescheid des Beklagten vom 18. September 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 1998 aufgehoben.Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Entschädigungsleistungen nach dem OEG wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung seit 6. September 1996 zu gewähren.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen eines sog. Schockschadens.

Die am 21.05.1957 geborene Klägerin war seit 21.05.1987 mit dem Röntgenfacharzt (O.) verheiratet. Aus der Ehe gingen die am 12.08.1988 geborene Tochter K. und der am 02.03.1990 geborene Sohn M. hervor. Seit Anfang 1995 lebten die Eheleute getrennt. Durch Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - vom 02.05.1996 wurde die Ehe der Klägerin mit O. geschieden und ihr zugleich die elterliche Sorge für die beiden Kinder übertragen. Dagegen legte O. Berufung beim Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe ein. In der Verhandlung vom 02.05.1996 schlossen die Klägerin und O. eine Vereinbarung, wonach O. u.a. in der Zeit vom 22.08. bis 07.09.1996 die Kinder zu sich nehmen dürfe. O. hatte in seinem Antrag vom 03.04.1996 auf Regelung des Umgangsrechts in dieser Zeit im Wege der einstweiligen Anordnung u.a. vorgebracht, er wolle in dieser Zeit mit den Kindern, wie im Jahr zuvor, in Mallorca Urlaub machen und den Flug rechtzeitig buchen. Am 22.08.1996 nahm O. die Berufung gegen das Scheidungsurteil, die sich möglicherweise nur auf die Sorgerechtsregelung bezogen hatte, zurück und flog am folgenden Tag mit den Kindern nach Mallorca. Dort wohnten sie in Appartements. In der Nacht vom 03. auf 04. September 1996 brachte O. beide Kinder um. Die Leichen wurden am 06.09.1996 von Hotelangestellten aufgefunden. Ein Mitarbeiter des Reiseunternehmens Neckermann unterrichtete die Klägerin am 06.09.1996 fernmündlich von der Ermordung ihrer Kinder. Am 07.09.1996 wurde O. auf Mallorca von der spanischen Polizei verhaftet.

Am 11.11.1996 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt Freiburg (VA) Beschädigtenversorgung nach dem OEG, weil sie aufgrund der Ermordung ihrer Kinder an Nervosität, Angstzuständen, Schlaflosigkeit und weiteren allgemeinen Gesundheitsstörungen, z.B. Gastritis, leide und seitdem arbeitsunfähig krank sei. Das VA holte bei Dr. V., Internist, die Auskunft vom 04.06.1997 ein, wonach ihn die Klägerin seit 09.10.1996 wegen einer schweren reaktiven Depression konsultiert habe. Ob die von ihm angeratene psychotherapeutische Behandlung statgefunden habe, sei ihm nicht bekannt. Das VA ließ die Klägerin dann durch Dr. B., Nervenarzt, begutachten. Er diagnostizierte im Gutachten vom 29.06.1997 als Folge des Tötungsdelikts des O. an den gemeinsamen Kindern eine posttraumatische Belastungsstörung (PTB), weil eine vorbestehende, länger anhaltende Stresserkrankung aufgrund der ehelichen Situation sich wesentlich verstärkt habe. Die PTB habe über ein Jahr angehalten mit leicht abklingender Tendenz seitens der funktionellen Beschwerdesymptomatik. Die jetzige Symptombildung sei wesentlich überlagert von dem schon vor der Gewalttat bestehenden chronischen Konfliktfeld. Dr. B. bewertete die durch die PTB bedingte MdE vom 06.09.1996 bis 31.07.1997 mit 30 v.H., anschließend mit 20 v.H. Dr. K. stimmte dieser Beurteilung in seiner versorgungsärztlichen (vä) Stellungnahme vom 03.07.1997 zu. Mit Bescheid vom 18.09.1997 lehnte das VA die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab, weil die von der Verwaltung zu der Schockschadenrechtsprechung des BSG (BSGE 49, 98 f.) für die Entschädigung von Drittgeschädigten nach dem OEG aufgestellten Grundsätze einen unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und dem Schaden beim Dritten erforderten. Hierfür reiche das Überbringen der Todesnachricht nicht aus.

Dagegen legte die Klägerin am 06.10.1997 Widerspruch ein mit der Begründung, die zitierte Entscheidung des BSG betreffe gerade einen Fall, in dem der Schockschaden einer Mutter durch das Überbringen der Nachricht von der Ermordung der Tochter eingetreten sei; Rheinland-Pfalz und Bayern würden dem Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 06.08.1996, auf dem die vom VA genannten Einschränkungen beruhten, nicht folgen. Das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg vertrat daraufhin die Auffassung, dem Widerspruch der Klägerin solle abgeholfen werden und machte eine entsprechende Vorlage an das Sozialministerium Baden-Württemberg, das hierzu die Stellungnahme des BMA vom 20.01.1998 einholte. Das BMA ließ die Frage der "gewissen Nähe" im Fall der Klägerin dahinstehen, weil sich die Gewalttat außerhalb des Geltungsbereichs des OEG ereignet habe. Die staatlichen Sicherheitsorgane seien nicht dafür verantwortlich, dass sie die Klägerin nicht vor dem Überbringen der Todesnachricht geschützt hätten. Daraufhin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.02.1998 den Widerspruch der Klägerin zurück. In den Gründen stützte er sich auf die Argumentation des BMA.

Hiergegen erhob die Klägerin am 26.02.1996 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Sie beantragte Entschädigungsleistungen nach dem OEG wegen einer PTB. Zur Begründung führte sie aus, der tätliche Angriff durch Ermordung ihrer Kinder sei erst mit dem Eintritt ihres Gesundheitsschadens, also im Geltungsbereich des OEG, beendet worden. Die Todesnachricht sei ihr auch nicht von hierfür geeigneten Personen überbracht worden, sondern in äußerst gefühlloser Art und Weise durch den Mitarbeiter des Reisebüros. O. habe mit dem Tötungsdelikt auch direkt auf sie gezielt, weil er dadurch verhindern wollte, dass sie weiterhin das Sorgerecht für die Kinder habe. Im Übrigen habe der tätliche Angriff noch in Deutschland begonnen, weil O. die Ermordung der Kinder vor seiner Abreise vorbereitet habe, indem er z.B. das bei der Tat verwendete Gift von hier mitgenommen habe. Diese Vorbereitung ergebe sich auch aus dem Brief an Frau B. vom 21.08.1996, den sie dem SG vorlegte. Außerdem sei der Tod ihrer Kinder durch deutsche Behörden (Jugendamt und Amtsgericht Offenburg) mitverursacht, weil diese trotz der von ihr vorgebrachten erheblichen Bedenken die Reise der Kinder nach Mallorca mit O. erlaubt hätten; O. habe auf diese Weise die Kinder praktisch aus Deutschland entführt. Sie legte weiter einen Zeitungsausschnitt aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 13.06.1998 vor, wonach O. bei seiner Festnahme als Tatmotiv angegeben habe, er habe verhindern wollen, dass die Kinder zu seiner früheren Frau zurückkehrten, der nach der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen worden sei. Sie legte ferner einen Auszug aus einem Urteil des SG Frankfurt a.M. vor, wonach die vom BMA in dem genannten Rundschreiben aufgestellten Kriterien dem o.a. Urteil des BSG widersprechen.

Mit Urteil vom 08.09.1998 wies das SG die Klage ab. In den Entscheidungsgründen, auf die im Übrigen Bezug genommen wird, verneinte das SG einen Anspruch der Klägerin, weil der tätliche Angriff nicht im Geltungsbereich des OEG stattgefunden und dort noch nicht begonnen habe. Die Mitnahme des Giftes aus Deutschland durch O. sei noch kein Tatbeginn im strafrechtlichen Sinne, zumal er vor der Ausführung der Tat noch fast zwei Wochen Urlaub mit den Kindern auf Mallorca verbracht habe. Das BSG habe aaO nicht darüber entschieden, inwieweit der Mörder des Kindes einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen die Mutter selbst führe, was hier zu verneinen sei. Denn ein solcher Angriff habe hier allein auf Mallorca stattgefunden; die Klägerin sei lediglich von den Auswirkungen der schrecklichen Todesnachricht psychisch betroffen gewesen.

Gegen das am 09.10.1998 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 29.10.1998 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Begründung hat sie ergänzend vorgebracht, die versorgungsrechtlich beachtliche Ursachenkette habe nach der o.a. Entscheidung des BSG erst mit dem Eintritt des Schadens in ihrer Psyche, also in Deutschland, geendet. Ein Versagen polizeilichen Schutzes sei nicht Voraussetzung nach dem OEG. Die Mitnahme des für die Ermordung der Kinder verwendeten Giftes sei sehr wohl ein Beginn des tätlichen Angriffs im Sinne des OEG. Dass O. die Tat bereits vor der Abreise in Deutschland beschlossen und geplant habe, ergebe sich weiter aus seiner Kündigung von Lebensversicherungen, die er zugunsten seiner Kinder abgeschlossen hatte, und der Kündigung seiner Bankkonten. Die spanische Anklagebehörde sei ausweislich der Anklageschrift an das zuständige spanische Gericht davon ausgegangen, dass O. zum Zwecke der Tötung seiner Kinder nach Mallorca gekommen sei. Für sich selbst habe er ausweislich eines spanischen Gerichtsgutachtens ein Gegengift mitgebracht gehabt. O. habe die Kinder auch deshalb getötet, um sich seiner ihr, der Klägerin, gegenüber bestehenden Unterhaltsverpflichtung zu entziehen, die auf die Zeit der Kindererziehung beschränkt gewesen sei. Sie hat noch Ausschnitte aus Berichten verschiedener mallorquinischer Zeitungen über die Tat und das Strafverfahren gegen O. vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 08. September 1998 sowie den Bescheid des Beklagten vom 18. September 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 1998 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung Beschädigtenrente nach dem OEG in gesetzlicher Höhe zu gewähren,

hilfsweise, beim Instituto Nacional de Toxicologia eine Auskunft darüber einzuholen, dass die vom Täter mitgeführten Medikamente deutsche Aufschriften tragen und in Deutschland gekauft worden sein müssen,

sowie vollständige Übersetzungen der Einlassungen des Täters gegenüber der spanischen Polizei und der spanischen Justiz zu beschaffen bzw. herzustellen,

sowie die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise die Revision zuzulassen.

Er weist ergänzend darauf hin, dass die vom BMA für den Fall der Klägerin erteilte Stellungnahme für ihn eine bindende Weisung sei. Ein Beginn des tätlichen Angriffs schon in Deutschland könne nicht festgestellt werden. Die von der Klägerin angeführten Vorbereitungshandlungen seien hierfür nicht konkret genug. Es sei nicht erwiesen, dass O. die Tötungsabsicht noch in Deutschland gefasst habe. Der Urlaub in Mallorca sei schon im April/Mai 1996 festgelegt worden, wie sich aus der am 02.05.1996 vor dem Amtsgericht Offenburg vereinbarten Um-gangsregelung für die Zeit vom 22.08. bis 07.09.1996 ergebe. Auch fehle die für die Anerken-nung eines Schockschadens nach dem OEG erforderliche örtliche und zeitliche Nähe bei der Klägerin.

Die Klägerin hat noch folgende Unterlagen vorgelegt: Video und Manuskript der Sendung Mona Lisa vom 29.10.2000 (Amoklauf aus Liebe, Der Fall O.); Antrag des O. vom 03.04.1996 an das Amtsgericht Offenburg auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Ausübung des Umgangsrechtes in der Zeit vom 22.08. bis 07.09.1996, Schreiben von Familie B. vom 28.04.1996 an sie, Urteil des Amtsgerichts Offenburg vom 02.05.1996 sowie die an diesem Tag getroffene Vereinbarung, Gedächtnisprotokoll von Richter am Amtsgericht Walter vom 02.05.1996, Schreiben von Rechtsanwältin L. vom 16.02.1998, Stellungnahme des Dipl.-Psychologen K. vom 24.03.1997, Bescheinigung von Dr. F., Chefarzt der Kinderklinik Offenburg, vom 16. (oder 18.)02.1998, Rücknahme der Berufung von O. gegen das Scheidungsurteil (Schriftsatz vom 22.08.1996), Beschluss des OLG Karlsruhe vom 15.08.1996, deutsche Übersetzung des Urteils des Landgerichts - Schwurgerichts - Palma de Mallorca vom 15.06.1998 sowie Teile der Hauptverhandlungsprotokolle dieses Gerichts mit u.a. Vernehmung der Mutter des O., des O., seiner Schwester S. und zahlreicher spanischer Zeugen, ihren Ehevertrag vom 15.11.1988, das Berufungsurteil des Obersten Gerichts der Balearen in Barcelona vom 05.10.1998 (in spanischer Sprache). Nach den Feststellungen des Landgerichts Palma de Mallorca hatte O. seinen Kindern mitgeteilt, sie würden am folgenden Tag exotische Vögel besuchen und müssten zur Vorbeugung gegen Moskitostiche einige Vitamine zu sich nehmen. Daraufhin habe er den Kindern Lendormin-Tabletten, ein Hypnotikum, verabreicht, woraufhin beide in einen tiefen Schlaf fielen. Dann habe O. den Kindern nacheinander mittels eines Katheters Hypnomidate in den Arm gespritzt, der Tochter zusätzlich Noctamid, weshalb der Tod nach etwa 15 bzw. 20 Minuten eingetreten sei. Diesen Sachverhalt habe O. fast zeitgleich in einem Tagebuch festgehalten. Das Landgericht verurteilte O. wegen Mordes an seinen Kindern zu zwei Haftstrafen von jeweils 17 Jahren, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Aberkennung der Fähigkeit zur Ausübung ärztlicher Tätigkeiten für den Haftzeitraum und zu Schadensersatz in Höhe von 25 Millionen Peseten an die Klägerin, die an dem Strafverfahren als Nebenklägerin beteiligt war. Auf die Berufung von O. hob der Oberste Gerichtshof der Balearen das Urteil des Landgerichts hinsichtlich des Verbots der Berufsausübung während der Strafzeit auf und wies die Berufung des O. im Übrigen zurück. Der von O. dagegen eingelegten Revision gab der Oberste Gerichtshof von Spanien mit Urteil vom 19.04.2000 nicht statt. Auf Antrag der Klägerin berichtigte der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 04.07.2000, ausgefertigt am 13.09.2000, sein Revisionsurteil vom 19.04.2000 insoweit, als darin die Klägerin als Nebenklägerin aufzuführen sei.

Der Senat hat von der A. Lebensversicherungs AG zu den von O. bei der früheren N.-Lebensversicherung abgeschlossenen Lebensversicherungen die Auskunft vom 25.05.2001 eingeholt. Danach hatte O. 1985 die Versicherung für sich abgeschlossen und am 16.12.1994 die Begünstigung auf seine Eltern und nach deren Tod auf seine Kinder geändert. Der Auskunft waren Schreiben der Nordstern-Versicherungen vom 12.06.1997 an H., Schwager des O., und vom 25.05.1998 an die Staatsanwaltschaft Offenburg beigefügt. Von der A. Lebensversicherungsgesellschaft hat der Senat die Auskunft vom 28.05.2001 eingeholt, wonach O. eine Versicherung auf sich selbst im Jahre 1990 abgeschlossen hatte, für die er im Oktober 1994 und im Januar 1995 die Bezugsrechte auf seine Kinder bzw. am 17.01.1995 auf seine Eltern und ab Volljährigkeit auf seine Kinder geändert hatte. Der Auskunft waren Schreiben vom 24.10.1994 und 17.01.1995 beigefügt.

Von der Staatsanwaltschaft Koblenz sind deren Ermittlungsakten gegen O. wegen Ermordung seiner Kinder beigezogen worden. Sie enthalten u.a. Vermerke über eine Durchsuchung im Haus der Eltern des O. in Breisach und den Hinweis, mehrere vorgefundene Geschenkpäckchen seien nach den Angaben der Eltern von O. bereit gelegt worden, um die Kinder bei der gemeinsamen Rückkehr zu überraschen. Nach einer Durchsuchung in der radiologischen Praxis von Dr. M., wo O. zuletzt gearbeitet hatte, sowie der Unterkunft des O. teilte das Polizeipräsidium Koblenz der Polizeidirektion F. am 24.09.1996 mit, im Rahmen der Durchsuchungen seien keine Beweismittel für die Tatplanung gefunden worden, abgesehen von dem als verfahrensrelevant angesehenen und beschlagnahmten Brief des O. an Frau B., der aus Mallorca übersandt worden sei. Die Akten enthalten ferner eine Niederschrift über die Vernehmung von Dr. M., B., Angestellte in der Praxis Dr. M., und K., Verwaltungsangestellter in der Praxis Dr. M., der sich mit O. und dessen Kindern am letzten Wochenende des August 1996 auf Ibiza getroffen hatte, ein Schreiben des Verteidigers von O. an den Untersuchungsrichter in Manacor zur Anklageschrift, in der er mitteilte, O. sei nicht in Tötungsabsicht nach Mallorca gereist, deutsche Übersetzungen von Auszügen aus dem Tagebuch des O., einen (übersetzten) gerichtlichen Beschluss über die Zulassung der Anklage, wonach O. bei der Einreise auf Mallorca subkutane Nadeln, Spritzen und Katheter dabei gehabt habe, ein Schreiben des Verteidigers von O., wonach dieser vor der Reise nach Mallorca in Koblenz eine Reise nach Hongkong für den 23.09.1996 einschließlich Hotelreservierung gebucht habe, die Anklageschrift an das Landgericht Palma de Mallorca und das Urteil des obersten Gerichtshofs von Spanien vom 19.04.2000 sowie den Berichtigungsbeschluss vom 04.07.2000.

Die Berichterstatterin des Senats hat W., und B. am 24.04.2001 als Zeugen vernommen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Akten des Beklagten, der Staatsanwaltschaft Koblenz, des SG und des erkennenden Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe stehen nicht entgegen (§ 144 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Denn sie hat, dem Grunde nach, Anspruch auf Versorgung nach dem OEG.

Nach § 1 OEG erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen deren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Nach Abs. 2 Nr. 1 OEG steht einem tätlichen Angriff im Sinne des Abs. 1 die vorsätzliche Beibringung von Gift gleich. Dabei muss sich der für den Angriff geforderte Vorsatz grundsätzlich nur auf die Angriffshandlung gegen eine Person beziehen. Nicht erforderlich ist ferner, dass sich der Angriff gegen das Opfer gerichtet hat, bei dem die Gesundheitsschädigung eingetreten ist (vgl. BSGE 81, 288 m.w.N.). Der Vorsatz des Täters braucht sich also nicht auf eine Mitbetroffenheit der Klägerin zu richten (BSGE 49, 98.100).

Vorsätzlicher tätlicher Angriff im Sinne dieser Vorschriften ist hier die Ermordung der Kinder der Klägerin durch O. in der Nacht zum 04.09.1996 auf Mallorca. Die Klägerin hat als Reaktion auf die Nachricht von diesem Gewaltverbrechen an allen ihren Kindern einen schweren seelischen Schock erlitten, der zu einer länger anhaltenden posttraumatischen Belastungsstörung und einer hierdurch bedingten MdE jedenfalls im rentenberechtigenden Mindestausmaß von 25 v.H. für mindestens etwa ein Jahr geführt hat, wie der Senat dem urkundenbeweislich verwerteten Gutachten von Dr. B. entnimmt. Dass ein derartiges psychisches Leiden eine gesundheitliche Schädigung i.S. von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG sein kann, ebenso wie im Recht der Kriegsopferversorgung (KOV), ist aufgrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BSGE 49,98), der sich der Senat anschließt, auch zwischen den Beteiligten unstreitig. Allerdings beurteilt der Beklagte den sog. Schockschaden als sog. Drittschaden, d.h. als mittelbare Schädigung, während das BSG aaO diesen gesundheitlichen Schaden als unmittelbare Schädigung ansieht, wenn eine gewisse Nähe zwischen Tat und Schaden, vor allem in zeitlicher Hinsicht, besteht. Für die Annahme eines derartigen Schockschadens ist dabei entscheidend, dass der durch die Schockwirkung erkrankte Mensch selbst durch die Gewalttat betroffen ist und nicht nur deren Rückwirkung spürt (so wörtlich BSGE 49,102). Dem steht auch nicht entgegen, dass die Kausalkette in derartigen Fällen über den tätlichen Angriff gegen nahe Familienangehörige als notwendiges Glied der Kausalkette führt und der zeitliche Zusammenhang zwischen diesem Angriff und dem Eintritt des Schockschadens in vielen Fällen, d.h. wenn der Schockgeschädigte nicht unmittelbarer Augenzeuge ist, gelockert ist. Hierfür spricht, dass der Gesetzgeber in § 5 BVG bestimmte Fälle von nach Beendigung der eigentlichen Kriegshandlungen durch deren Nachwirkungen eingetretenen gesundheitlichen Schäden der unmittelbaren Schädigung durch die Kriegshandlungen ausdrücklich gleichgestellt hat. Die versorgungsrechtliche Kausalitätsnorm gilt auch für das OEG (vgl. BSGE 49 aaO).

Die Frage der Unmittelbarkeit im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem betrifft allerdings nicht diese versorgungsrechtliche Kausalitätsnorm, sondern die Abgrenzung des nach dem OEG berechtigten Personenkreises (vgl. BSGE 49, 103). Dabei ist das schadenstiftende Ereignis gegenüber der Klägerin für sich und unabhängig von dem Ende der Gewalttat an ihren Kindern zu betrachten. Die versorgungsrechtlich beachtliche Ursachenkette endet erst mit der Auswirkung des Angriffs auf ihre Psyche, die in Deutschland eingetreten ist. Damit steht das sog. Territorialprinzip, auf das sich der Beklagte beruft, einer Entschädigung der Klägerin nach dem OEG nicht entgegen. Auch nach dem Wortlaut des § 1 OEG kommt es auf den Ort des Eintritts der Schädigung und nicht auf den Ort der Begehung der Tat an (vgl. Kunz/Zellner, OEG 4. Aufl. Rd. Nr. 6 zu § 1). Der Senat kann deshalb der Rechtsauffassung des Beklagten (vgl. Rundschreiben des BMA vom 06.08.1996, abgedruckt in Kunz/Zellner aaO, Rd.Nr. 5 zu § 1 OEG, S. 25) nicht folgen, dass die Übermittlung der Nachricht von der Ermordung eines Kindes im Ausland an die Mutter wegen des Territorialprinzips eine Entschädigung nach dem OEG ausschließe.

Die nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 49, 98, 101 f.) für den Nachweis eines eigenen seelischen Schadens der Klägerin erforderliche Nähe zwischen Tat und Schaden liegt bei der Klägerin vor. Der Senat folgt auch insoweit dieser Rechtsprechung, dass für die entscheidungserhebliche Nähe zwischen Tat und (Schock-)Schaden die Übermittlung der Nachricht von dem besonders schrecklichen Geschehen an ihren Kindern ausreicht. Auch war die Art und Weise ihrer Benachrichtigung, wie die Klägerin glaubhaft vorgetragen hat, durch den Mitarbeiter des Reiseunternehmens Neckermann äußerst gefühllos im Vergleich mit der Übermittlung einer solchen Nachricht durch hierfür geschulte Mitarbeiter der Polizei. Die Klägerin hat diese Nachricht noch am Tag der Entdeckung (06.09.1996) des am 04.09.1996 begangenen Verbrechens erhalten, also in engem zeitlichen Zusammenhang.

Da der Senat den Ort der Ermordung der Kinder der Klägerin im Ausland für die Abgrenzung des nach dem OEG berechtigten Personenkreises als unerheblich ansieht und nur auf den Eintritt des Schadens bei der Klägerin in Deutschland abstellt, kann dahingestellt bleiben, ob der tätliche Angriff gegen die Kinder der Klägerin schon in Deutschland begonnen hat und ob diese Vorbereitungshandlungen, abweichend von der strafrechtlichen Beurteilung, im Sinne des OEG bereits einen Beginn des tätlichen Angriffs darstellen. Der Senat trifft deshalb keine Feststellungen dazu, ob O. die Absicht, seine Kinder zu töten, in Deutschland gefasst hatte, wofür die (im Urteil des Landgerichts Palma de Mallorca festgestellte) Mitnahme von Spritzen und Kathetern sowie des verwendeten tödlichen Giftes und ferner O´s Brief an die Zeugin B. vom 21.08.1996 sprechen. Allerdings hat O. eine schon in Deutschland gefasste Tötungsabsicht in der Entgegnung auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft in Palma de Mallorca durch seinen Verteidiger bestreiten lassen; bei der im Auftrag der StA Koblenz durchgeführten Hausdurchsuchung bei den Eltern des O. wurden auch Geschenkpäckchen gefunden, die O. für die Kinder nach der Rückkehr aus Mallorca besorgt habe. Weitere Umstände, die eine bereits in Deutschland gefasste Absicht der Tötung der Kinder belegen könnten, wie die Kündigung von Lebensversicherungen und Bankkonten, sind nicht nachgewiesen. Nach den Auskünften der A. und der L. Versicherung hatte O. Lebensversicherungen für seine Person abgeschlossen, für die er die Bezugsberechtigungen zuletzt im Jahre 1995, also nicht im Zusammenhang mit der Reise nach Mallorca im August 1996, geändert hatte.

Der Eintritt eines sog. Schockschadens bei der Klägerin durch die Nachricht von dem Gewaltverbrechen an ihren beiden einzigen Kindern mit einer länger anhaltenden posttraumatischen Belastungsstörung steht für den Senat fest aufgrund der Darlegungen im Gutachten von Dr. B ... Der Gutachter hat bei seiner Beurteilung auch berücksichtigt, dass die Klägerin aufgrund der ehelichen Probleme bereits vorher in ihrer seelischen Gesundheit erheblich beeinträchtigt war. Wielange und in welchem Ausmaß sich der zu entschädigende Schockschaden ausgewirkt hat bzw. welche Leistungen sie im einzelnen zu beanspruchen hat, wird der Beklag-

ten noch festzustellen haben. Da nach der Beurteilung von Dr. B. die Voraussetzungen zumindest für eine vorübergehende Beschädigtenrente nach einer MdE um 30 v.H. vorliegen, konnte sich der Senat auf den Erlass eines Grundurteils beschränken.

Das angefochtene Urteil des SG und die Bescheide des Beklagten wurden deshalb aufgehoben. Der Beklagte hat der Klägerin Beschädigtenversorgung nach dem OEG dem Grunde nach seit 06.09.1996 wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Sie wird darin gesehen, dass bisher eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage nicht vorliegt, ob bei sog. Schockschäden allein auf den Ort des Eintritts der gesundheitlichen Schädigung abzustellen ist, wenn der tätliche Angriff außerhalb des Geltungsbereichs des OEG stattgefunden hat.
Rechtskraft
Aus
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