L 10 RA 4876/00

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 RA 2706/99
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 RA 4876/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Anwendung der Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs 2 SGB 6 (seit 02.02.2000 Abs 4) bei Altersrenten wegen Arbeitslosigkeit; gilt nicht für vor dem 14.02.1996 bewilligte und abgeschlossene arbeitsmarktpolitische Leistungen des Arbeitsamts (§ 237 Abs 2 S 1 Nr 1b, S 2 (seit 01.01.2000 Abs 4).
Das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 31. August 2000 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ohne Rentenabschlag nach Maßgabe der Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31. Dezember 1999 geltenden Fassung (a.F.). Der 1939 geborene Kläger arbeitete als freier Handelsvertreter; seine Tätigkeit stellte er zum 30. September 1992 gemäß einem mit seinem Arbeitgeber geschlossenen Aufhebungsvertrag vom 31. März 1992 ein. Danach bezog er vom 05. Juli 1993 bis 19. Juni 1994 Arbeitslosengeld. Am 20. Juni 1994 nahm der Kläger (erneut) eine selbständige Erwerbstätigkeit als freier Handelsvertreter auf, die er auch am 14. Februar 1996 (Stichtag des § 237 Abs. 2 SGB VI a.F.) noch (unbefristet) ausübte, Pflichtbeiträge zur Beklagten entrichtete und am 30. Juni 1997 beendete; seither war der Kläger erneut arbeitslos. Für die 1994 aufgenommene Handelsvertretertätigkeit hatte das Arbeitsamt V. dem Kläger mit Bescheid vom 11. Juli 1994 gemäß § 55a Arbeitsförderungsgesetz (AFG) für die Dauer von 10 Wochen (ab 20. Juni 1994) Überbrückungsgeld (2500,- DM) sowie Aufwendungen für die Krankenversicherung und Altersversorgung (833,33 DM) bewilligt. Auf den am 15. Dezember 1998 gestellten Antrag gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 30. Juni 1999 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nach § 38 SGB VI a.F. ab 1. Mai 1999 unter Anwendung eines wegen vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente auf 0,916 verminderten Zugangsfaktors (Zahlbetrag ab 1. August 1999: 2454,78 DM monatlich). Der Kläger legte Widerspruch ein; ihm stehe Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ohne Rentenabschlag nach Maßgabe des § 237 Abs. 2 SGB VI a.F. zu, weil man ihm vor dem maßgeblichen Stichtag (14. Februar 1996) Überbückungsgeld als befristete arbeitsmarktpolitische Maßnahme bewilligt habe. Den Widerspruch wies die Widerspruchsstelle der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 6. September 1999 zurück. Am 8. Oktober 1999 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Reutlingen. Er hielt an seiner Rechtsauffassung fest; ohne das Überbrückungsgeld hätte er sich nicht auf das "Abenteuer" einer - letztendlich erfolglosen - Tätigkeit als freier Handelsvertreter eingelassen. Mit Urteil vom 31. August 2000 änderte das Sozialgericht den Rentenbescheid der Beklagten vom 30. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. September 1999 ab und verurteilte die Beklagte, dem Kläger Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ohne Rentenabschlag zu gewähren. Zur Begründung wurde ausgeführt, für die Anwendung der Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 2 SGB VI a.F. genüge es, dass der Kläger vor dem maßgeblichen Stichtag (14. Februar 1996) Überbrückungsgeld als befristete arbeitsmarktpolitische Maßnahme erhalten habe. Für eine von der Beklagten befürwortete enge Gesetzesauslegung gebe es keine Handhabe. Das Urteil wurde der Beklagten am 16. November 2000 zugestellt. Am 15. Dezember 2000 hat die Beklagte Berufung eingelegt. Sie trägt vor, mit der Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 2 SGB VI a.F. habe der Gesetzgeber nur einen bestimmten, eng umschriebenen, Personenkreis von der Anhebung der Altersgrenze für Rente wegen Arbeitslosigkeit ausnehmen wollen. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen begründeten Vertrauensschutz nur dann, wenn der Empfänger am Stichtag (14. Februar 1996) noch gefördert worden sei; es genüge nicht, dass er irgendwann davor entsprechende Leistungen erhalten habe. Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 31. August 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Er verteidigt das angefochtene Urteil. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz, SGG). Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144, 151 SGG statthafte und zulässige Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist begründet. Das Sozialgericht hat der Klage des Klägers zu Unrecht stattgegeben; es hätte sie abweisen müssen, weil die Voraussetzungen des § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1b, Satz 2 SGB VI a.F., jetzt § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1b, Satz 2 SGB VI n.F., nicht erfüllt sind. Die Beteiligten streiten mit Recht nur noch darüber, ob der (am 14. Februar 1996 wegen seiner damals ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit im Rechtssinne nicht arbeitslose) Kläger mit Blick auf die Anhebung der Altersgrenzen für Rente wegen Arbeitslosigkeit Vertrauensschutz nach Maßgabe der genannten Vorschriften reklamieren kann. Das ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht der Fall, wie sich aus folgenden Erwägungen des Senats ergibt: Die Anhebung der Altersgrenze für Rente wegen Arbeitslosigkeit entfällt gemäß § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1b SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1b SGB VI n.F. unbeschadet weiterer Voraussetzungen für solche (rentennahe) Versicherte, deren Arbeitsverhältnis auf Grund einer Kündigung oder Vereinbarung, die vor dem 14. Februar 1996 erfolgt ist, nach dem 13. Februar 1996 beendet worden ist und die daran anschließend arbeitslos geworden sind. Einer vor dem 14. Februar 1996 abgeschlossenen Vereinbarung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses stellt § 237 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 2 SGB VI n.F. eine vor diesem Tag vereinbarte Befristung des Arbeitsverhältnisses oder Bewilligung einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme gleich. Mit Wortlaut, Systematik und Zweck dieser Bestimmungen ist es nicht vereinbar, Vertrauensschutz schon dann zuzubilligen, wenn einem Versicherten (irgendwann) vor dem Stichtag 14. Februar 1996 eine befristete arbeitsmarktpolitische Maßnahme gewährt worden war. Mit der Gleichstellungsklausel des § 237 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 2 SGB VI n.F. erweitert das Gesetz den durch § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1b SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1b SGB VI n.F. begründeten Vertrauensschutz. Die vertrauensschutzerweiternden Merkmale "Befristung des Arbeitsverhältnisses" und "Bewilligung einer befristeten arbeitsmarktpolitischen Maßnahme" kann man deshalb nicht anders auslegen als das vertrauensschutzbegründende Merkmal "Vereinbarung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses", dem sie gleichgestellt sind. Für letzteres folgt aber aus § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1b SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1b SGB VI n.F., woran Satz 2 der genannten Vorschriften jeweils anknüpft, dass nur solche Beendigungsvereinbarungen Vertrauensschutz begründen, die vor dem Stichtag 14. Februar 1996 geschlossen wurden und das Arbeitsverhältnis nach dem 13. Februar 1996 beenden. Der Vertrauensschutz wird daher nur auf solche Befristungen des Arbeitsverhältnisses erweitert, die vor dem Stichtag vereinbart wurden und das Arbeitsverhältnis, genauso wie Beendigungsvereinbarungen, nach dem 13. Februar 1996 auflösen. Nichts anderes kann für die der Beendigungsvereinbarung gemeinsam mit der Befristungsvereinbarung gleichgestellte Bewilligung befristeter arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen gelten. Den Vertrauensschutz erweitern sie nur dann, wenn sie vor dem Stichtag bewilligt wurden und nach dem 13. Februar 1996 geendet haben (vgl. dazu auch Klattenhoff, in: Hauck/Noftz, SGB VI, § 237 Rdn. 25; Recht, NZS 1996, 552, 559); ob es auch genügt, dass die Maßnahme vor dem Stichtag bei späterer Bewilligung nur "begonnen" hat, sei dahingestellt (in diesem Sinne LSG Bad.-Württ., Urt. v. 11. April 2000, - L 13 RA 1302/99 -). Hinzukommt, dass das Gesetz von vor dem Stichtag "bewilligten" Maßnahmen spricht, was über den Stichtag hinaus in die Zukunft weist; sollten auch bereits "abgewickelte" arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erfasst werden, hätte es nahe gelegen, (bspw.) von "gewährten" Maßnahmen oder von "in Anspruch genommener Förderung" zu reden. Insoweit bezieht der Senat das Stichtagserfordernis in § 237 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 2 SGB VI n.F. auch auf das Merkmal "Bewilligung einer befristeten arbeitsmarktpolitischen Maßnahme" (a.A.: LSG Bad.- Württ., Urt. v. 11. April 2000, aaO). Dass es dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, diesen sachlichen Bezug sprachlich einwandfrei auszudrücken - man hätte "erfolgte Bewilligung" schreiben müssen - schadet nicht, nachdem man im Gesetzgebungsverfahren offenbar davon ausgegangen ist, das Stichtagserfordernis gelte (auch) für Bewilligung - oder Beginn - arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. In der Stellungnahme des Bundesrats zum Gesetzentwurf der Bundesregierung tritt das klar hervor, wenn dort unter Nr. 3 gefordert wird, man möge im Gesetzestext klarstellen, dass der vorgesehene Vertrauensschutz sich auf Personen erstrecke, die vor dem Stichtag eine Befristung ihres Arbeitsverhältnisses vereinbart oder eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme begonnen hätten (BT-Drs. 13/4719). Insoweit ist in der Gegenäußerung der Bundesregierung zwar von "bewilligten" (nicht "begonnenen") Maßnahmen die Rede; die Bewilligung ist jedoch ebenfalls auf den Stichtag bezogen. Schließlich bestätigt der Zweck der in Rede stehenden Vorschriften die Richtigkeit des Auslegungsergebnisses. Das Gesetz will das Vertrauen der Versicherten rentennaher Jahrgänge schützen, die bereits arbeitslos sind (§ 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1a SGB VI n.F.) oder aber in der Aussicht und im Vertrauen auf eine (volle) Altersrente wegen Arbeitslosigkeit Dispositionen getroffen haben, die zur Arbeitslosigkeit führen werden (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BR-Drs. 208/96 S. 28 sowie Binne, DRV 1996, 145). Bis zum Stichtag 14. Februar 1996, an dem das Bundeskabinett das dem Entwurf des Gesetzes zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand zugrundeliegende so genannte "Eckpunktepapier" beschloss, konnte man - als bereits Arbeitsloser - (noch) auf den Bestand der ursprünglichen Regelung vertrauen und sich in diesem Vertrauen (meist notgedrungen) auf die Zeit der Arbeitslosigkeit bis zur erwarteten (Voll)rente wegen Arbeitslosigkeit einrichten oder - als im Arbeitsleben Stehender - im gleichen Vertrauen über sein Arbeitsverhältnis disponieren, etwa eine Kündigung aussprechen oder die Auflösung bzw. Befristung des Arbeitsverhältnisses vereinbaren. Hier liegt der Kern des geschützten Vertrauens. Den Versicherten rentennaher Jahrgänge, die entsprechend disponiert haben, wäre die durch Übergangsregelungen nicht abgemilderte Schmälerung der Rente wegen Arbeitslosigkeit schwerlich zuzumuten und womöglich als unverhältnismäßiger Eingriff in durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rentenanwartschaften unzulässig (dazu: BVerfGE 76, 256, 349 f., 359). Wer indessen mit Hilfe befristeter arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen (zunächst) den Weg aus der Arbeitslosigkeit zurück ins Arbeitsleben findet, kann den in Rede stehenden Vertrauensschutz auch dann nicht reklamieren, wenn sich diese "Disposition" wegen erneuter Arbeitslosigkeit nach dem Stichtag 14. Februar 1996 jetzt als unvorteilhaft erweist. Denn er hat sich nicht auf bereits bestehende und nicht mehr überwindbare oder wegen vor dem Stichtag getroffener Dispositionen nunmehr eintretende Arbeitslosigkeit eingerichtet und dabei auf den Fortbestand des alten Rechts vertraut, sondern den - wenn auch nur vorübergehend erfolgreichen - Versuch unternommen, die Arbeitslosigkeit zu überwinden, um später nach Möglichkeit Regelaltersrente zu beziehen. Sollte der Kläger also - was in seinem Vorbringen anklingt - darauf abstellen wollen, ohne die befristet durch Überbrückungsgeld geförderte und nach 3 Jahren mangels Erfolgs beendete Tätigkeit als freier Handelsvertreter wäre er arbeitslos geblieben und bekäme deshalb als am Stichtag Arbeitsloser gemäß § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1a SGB n.F. ungekürzte Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, könnte er damit nicht durchdringen, auch nicht unter Hinweis auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, nachdem der Gesetzgeber, dem grundsätzlich und erst Recht für Übergangsregelungen ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt (vgl. BVerfGE 75, 78, 98), wegen der beschriebenen Unterschiede der Verhältnisse nicht verpflichtet ist, diese Fallkonstellation in die Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a SGB VI a.F. bzw. § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1a SGB VI n.F. einzubeziehen. Das Sozialgericht hat der Klage damit zu Unrecht stattgegeben, weshalb sein Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen ist. Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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