L 8 SB 589/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 1856/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 589/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.11.2018 dahingehend abgeändert, dass bei der Klägerin der GdB seit 17.08.2016 mit 40 festzustellen ist. Im Übrigen werden die Klage der Klägerin und die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte erstattet der Klägerin 1/3 ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin gegen den Beklagten ein Anspruch auf höhere (Neu-)Feststellung des Grades der Behinderung (GdB; 50 statt 30) seit 17.08.2016 zusteht.

Bei der 1957 geborenen Klägerin war mit (Abhilfe-)Bescheid vom 08.11.2007 (Blatt 40/41 der Beklagtenakte) der GdB seit 01.03.2007 mit 30 festgestellt worden (zugrundeliegende Funktionsbehinderungen: Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Fibromyalgiesyndrom, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (GdB 20); seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom, funktionelle Organbeschwerden, psychovegetatives Erschöpfungssyndrom (GdB 20); Herzleistungsminderung, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Abhängigkeitserkrankung (GdB 10); Diabetes mellitus (mit Diät einstellbar) (GdB 10); hyperreagibles Bronchialsyndrom, Allergie (GdB 10); zur versorgungsärztlichen Stellungnahme vgl. Blatt 38/39 der Beklagtenakte). Spätere Neufeststellungsanträge waren erfolglos. Mit Bescheid der Agentur für Arbeit S. H. vom 28.08.2008 wurde die Klägerin gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.

Am 17.08.2016 beantragte die Klägerin beim Landratsamt H. (LRA) die höhere (Neu-)Feststellung des GdB (Blatt 129/131 der Beklagtenakte). Sie verwies hierzu auf Depressionen und darauf, dass sie wegen der Bandscheibenvorfälle im LWS-Bereich und Arthrose und Knochenmarksödem kaum laufen könne.

Das LRA zog vom Facharzt für Allgemeinmedizin D. Befundbeschreibungen (dazu vgl. Blatt 136/152 der Beklagtenakte), darunter den Rehaentlassungsbericht der M. B. Kliniken vom 15.07.2016, wo der Klägerin vom 31.05.2016 bis zum 12.07.2016 stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation seitens der Deutschen Rentenversicherung erbracht worden waren.

Der Versorgungsarzt Dr. S. schätzte in seiner Stellungnahme vom 07.11.2016 (Blatt 134/135 der Beklagtenakte) den GdB weiterhin auf 30 (zugrundeliegende Funktionsbehinderungen: Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, muskuläre Verspannungen (GdB 20); Depression, chronisches Schmerzsyndrom, funktionelle Organbeschwerden, psychovegetatives Erschöpfungssyndrom und Fibromyalgiesyndrom (GdB 20); Herzleistungsminderung, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Abhängigkeitserkrankung (GdB 10); Diabetes mellitus (GdB 10); hyperreagibles Bronchialsyndrom, Allergie (GdB 10); Mittelnervendruckschädigung (Carpaltunnelsyndrom), operiert, (GdB 10)).

Mit Bescheid vom 29.11.2016 (Blatt 156/157 der Beklagtenakte) lehnte das LRA die höhere (Neu)Feststellung des GdB sowie die Feststellung des Merkzeichens "G" ab.

Hiergegen erhob die Klägerin am 27.12.2016 (Blatt 160 der Beklagtenakte) Widerspruch mit dem sie einen GdB von mindestens 50 (Blatt 165/167 der Beklagtenakte) begehrte. Sie verwies auf die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule, eine schwere Osteochondrose, welche zu Spannungskopfschmerzen führten, Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule über die Hüfte bis ins Gesäß und das Bein, das Fibromyalgie-Syndrom, auch im Schulter-Arm- und Hüftbereich, seelische Erkrankungen, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine soziale Phobie mit Agoraphobie. Diese Störungen führten zu einem höheren GdB, zumal der episodische Spannungskopfschmerz und der Schwindel mit Gleichgewichtsstörungen nicht berücksichtigt worden seien. Auch die asthmatische Erkrankung mit hyperreagiblem Bronchialsyndrom sei zu gering bewertet.

Das LRA zog Befundbeschreibungen von Dr. H. , Internist, Pneumologe und Allergologe, vom 23.02.2017 (dazu vgl. Blatt 172 der Beklagtenakte) und vom Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. (dazu Blatt 177/178 der Beklagtenakte) vom 13.03.2017 bei.

Nachdem der Versorgungsarzt Dr. B. ins einer Stellungnahme vom 10.05.2017 (Blatt 180 der Beklagtenakte) an der bisherigen GdB-Einschätzung festhielt, wies der Beklagte durch das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – den Widerspruch der Klägerin zurück (Widerspruchsbescheid vom 26.05.2017, Blatt 182/184 der Beklagtenakte).

Hiergegen hat die Klägerin am 14.06.2017 beim Sozialgericht (SG) Heilbronn Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen auf den Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren Bezug genommen.

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Der Orthopäde Dr. W. hat dem SG am 10.10.2017 (Blatt 23/24 der SG-Akte) geschrieben, er stimme mit der ihm überlassenen versorgungsärztlichen Stellungnahme überein. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. hat am 12.10.2017 (Blatt 25/28 der SG-Akte) mitgeteilt, dass die Schmerzen einen GdB von etwa 30 bedingten, auch seien die psychiatrischen Störungen in Ausmaß und Funktionsbeeinträchtigungen nicht ausreichend gewürdigt. Er hat einen GdB von 50 für begründbar gehalten. Der Facharzt für Allgemeinmedizin D. hat ausgeführt (Schreiben vom 29.10.2017, Blatt 29/32/119 der SG-Akte), die Wirbelsäulenschäden seien mit einem GdB von 50, die psychischen Beschwerden mit einem GdB von 40 und die bisher nicht berücksichtigten phobischen Störungen mit einem GdB von 60 zu bewerten. Die sonstigen Behinderungen seien vollständig erfasst.

Das SG hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens beim Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Suchtmedizin, L ... Dieser hat in seinem Gutachten vom 13.02.2018 (Blatt 123/157 der SG-Akte; Untersuchung der Klägerin am 16.01.2018) eine Dysthymia und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert. Die depressive Störung inklusive einer Dysthymia hätten ungünstigen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung, da sie zum Absinken der Schmerzschwelle führten. Die chronische Schmerzstörung gehe gehäuft mit einer depressiven Störung einher und erschwere deren Behandlung. Die Dysthymia und die anhaltende somatoforme Schmerzstörung bedingten einen GdB von 40, insgesamt sei ein GdB von 50 anzunehmen.

Unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. R. vom 11.07.2018 (Blatt 164/165 der SG-Akte), der die psychischen Störungen mit einem GdB von 30 bewertet hatte, ist der Beklagte dem Gutachten sowie der Klage entgegengetreten.

Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Anwesenheit der Klägerin hat das SG mit Urteil vom 27.11.2018 den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 29.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.05.2017 verurteilt, bei der Klägerin den GdB seit Antragstellung mit 50 festzustellen und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Gegen das ihm am 23.01.2019 zugestellte Urteil hat der Beklagte unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. vom 07.02.2019 (Blatt 3/4 der Senatsakte) am 20.02.2019 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Der Bewertung der somatoformen Schmerzstörung und der Dysthymia mit einem GdB von 40 könne nicht gefolgt werden. Im Hinblick auf die vom Gutachter mitgeteilten Aggravationstendenzen sei dessen Annahme ganz erheblich in Frage zu stellen. Der von der Klägerin beim Gutachter geschilderte Tagesablauf wäre bei den von ihr angegebenen andauernden schweren und quälenden Schmerzen nicht vorstellbar.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.11.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Der Einwand des Beklagten greife nicht. Der Umstand, dass sie angegeben habe, sehr viel zu lesen stehe nicht im Widerspruch zu der Annahme eines starken, andauernden Schmerzzustandes. Im Gegenteil. Sie versuche gerade so viel wie möglich zu lesen, um sich von den andauernden Schmerzen abzulenken. Das Lesen stelle für sie, die ansonsten praktisch keine sozialen Kontakte mehr pflege, eine Schmerzbewältigungsstrategie dar. Ergänzend sei zu erwähnen, dass sie sich zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den Gutachter in einer psychisch stabilen Lage befunden habe. Zu diesem Zeitpunkt habe sie noch die von Dr. H. verschriebenen Antidepressiva eingenommen. Im Nachgang habe sich jedoch herausgestellt, dass diese zu extrem schlechten Leberwerten geführt hatten, so dass sie diese auf ärztliche Empfehlung hin im Mai 2019 wieder abgesetzt habe. Die psychische Situation habe sich seit der gutachterlichen Untersuchung sogar noch verschlechtert. Sie habe kaum noch soziale Kontakte. Auch der damals noch bestehende Kontakt zur Rheumaliga bestehe nicht mehr. Sie verlasse nur noch das Haus, wenn dies unbedingt erforderlich sei, so beispielsweise zum Einkaufen einmal in der Woche. Im Haushalt verrichte sie nur die nötigsten Arbeiten. Bereits das Ausräumen der Geschirrspülmaschine verursache solche Schmerzen, dass sie sich danach länger ausruhen müsse. Das Staubsaugen verrichte sie im Sitzen. Das Laufen falle extrem schwer. Das führe dazu, dass sie kaum noch außer Haus gehe. Um zumindest die nötigen Einkäufe verrichten zu können, habe sie sich 2018 einen Rollator angeschafft. Zuweilen habe sie nicht einmal Energie sich zu waschen oder sich die Zähne zu putzen. Dies werde dann für einige Tage ausgelassen. Sie liege viel, weil ihr dies am wenigsten Schmerzen bereite. Insoweit dürfte die Tatsache, dass der Gutachter bezüglich bestimmte Punkte auch Aggregationstendenzen festgestellt habe vielmehr dafür sprechen, dass er sich vom psychischen Zustand ein genaues und durchaus differenziertes Bild gemacht habe. Er gehe nicht pauschal von einer starken Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit aus, sondern stelle diese trotz der von ihm erkannten Aggregationstendenz fest. Dies spreche für eine präzise und differenzierte Betrachtungsweise des Gutachters. Hinsichtlich der Diabeteserkrankung sei noch auszuführen, dass diese mit Tabletten (Metformin und Janovia) behandelt werde und sie Blutzuckermessungen morgens und abends selbst durchführe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte sowie die beigezogenen Akten des SG und des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig aber nur teilweise begründet.

Nicht Gegenstand des Rechtsstreits der Klägerin ist die Feststellung des Nachteilsausgleiches (Merkzeichen "G"). Gegen die Ablehnung der Feststellung des Merkzeichens "G" im Bescheid vom 29.11.2016 hat sich die Klägerin nicht gewandt, sondern nur gegen die Ablehnung der Neufeststellung eines höheren GdB. Damit ist die Ablehnung der Feststellung des Merkzeichens "G" bestandskräftig geworden.

Der angefochtene Bescheid vom 29.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.05.2017 war rechtswidrig. Die Klägerin wird hierdurch in ihren Rechten verletzt. Sie hat jedoch nur Anspruch auf Feststellung eines GdB von 40.

Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Neufeststellung eines höheren GdB ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 29 m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen, welche ihrerseits nicht zum sogenannten Verfügungssatz des Bescheides gehören, zugrunde gelegten GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG 10.09.1997 - 9 RVs 15/96 - BSGE 81, 50 ff.). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Einzel- oder Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss damit durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustands mit dem bindend festgestellten früheren Behinderungszustand ermittelt werden.

Rechtsgrundlage für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX (§ 152 SGB IX) in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl. I 2016, 3234), da maßgeblicher Zeitpunkt bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz ist, wobei es für laufende Leistungen auf die Sach- und Rechtslage in dem jeweiligen Zeitraum ankommt, für den die Leistungen begehrt werden; das anzuwendende Recht richtet sich nach der materiellen Rechtslage (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 12. Auflage, § 54 RdNr. 34). Nachdem § 241 Abs. 2 SGB IX lediglich eine (Übergangs-)Vorschrift im Hinblick auf Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz enthält, ist materiell-rechtlich das SGB IX in seiner derzeitigen Fassung anzuwenden.

Nach dessen § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderung solche Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt nach § 2 Abs.1 Satz 2 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.

Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, zuvor § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des Grades der Behinderung, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Soweit noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend. Damit gilt weiterhin die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2009 (BGBl. I, 2412), deren Anlage zu § 2 die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VG) beinhalten. Diese stellen – wie auch die zuvor geltenden Anhaltspunkte (AHP) - auf funktionelle Beeinträchtigungen ab, die im Allgemeinen zunächst nach Funktionssystemen zusammenfassend (dazu vgl. A Nr. 2 Buchst. e) VG) und die hieraus gebildeten Einzel-GdB (vgl. A Nr. 3a) VG) nach § 152 Abs. 3 SGB IX (zuvor: § 69 Abs. 3 SGB IX) anschließend in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen sind. Die Feststellung der jeweiligen Einzel-GdB folgt dabei nicht einzelnen Erkrankungen, sondern den funktionellen Auswirkungen aller derjenigen Erkrankungen, die ein einzelnes Funktionssystem betreffen.

Die Bemessung des Gesamt-GdB (dazu s. unten) erfolgt nach § 152 Abs. 3 SGB IX (zuvor: § 69 Abs. 3 SGB IX). Danach ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. Insoweit scheiden dahingehende Rechtsgrundsätze, auch solche, dass ein Einzel-GdB nie mehr als die Hälfte seines Wertes den Gesamt-GdB erhöhen kann, aus. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamt-beeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der VersMedV einschließlich der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3 3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP). Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft – gleiches gilt für alle Feststellungsstufen des GdB – nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 50 – oder anderer Werte - fest vorgegeben ist (BSG 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 18 = juris). Damit entscheidet nicht die Anzahl einzelner Einzel-GdB oder deren Höhe die Höhe des festzustellenden Gesamt-GdB, sondern der Gesamt-GdB ist durch einen Vergleich der im zu beurteilenden Einzelfall bestehenden Funktionsbehinderungen mit den vom Verordnungsgeber in den VG für die Erreichung einer bestimmten Feststellungsstufe des GdB bestimmten Funktionsbehinderungen – bei Feststellung der Schwerbehinderung ist der Vergleich mit den für einen GdB von 50 in den VG vorgesehenen Funktionsbehinderungen, bei Feststellung eines GdB von 60 ist der Vergleich mit den für einen GdB von 60 in den VG vorgesehenen Funktionsbehinderungen usw. vorzunehmen – zu bestimmen. Maßgeblich sind damit grds. weder Erkrankungen oder deren Schlüsselung in Diagnosemanualen an sich noch ob eine Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit aufgetreten ist, sondern ob und wie stark die funktionellen Auswirkungen der tatsächlich vorhandenen bzw. ärztlich objektivierten Erkrankungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) anhand eines abstrakten Bemessungsrahmens (Senatsurteil 26.09.2014 – L 8 SB 5215/13 – juris RdNr. 31) beeinträchtigen. Dies ist – wie dargestellt – anhand eines Vergleichs mit den in den VG gelisteten Fällen z.B. eines GdB von 30, 40, 50, 60 oder 70 festzustellen. Letztlich handelt es sich bei der GdB-Bewertung nämlich nicht um eine soziale Bewertung von Krankheit und Leid oder dem Bezug einer Rente, sondern um eine anhand rechtlicher Rahmenbedingungen vorzunehmende, funktionell ausgerichtete Feststellung.

Der Senat ist nach eigener Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbehinderungen bei Antragstellung und seither ununterbrochen in ihrer Gesamtschau und unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit keinen Gesamt-GdB von mehr als 40 rechtfertigen.

Im Funktionssystem des Rumpfes, zu dem der Senat die Wirbelsäule einschließlich der Halswirbelsäule zählt, ist ein Einzel-GdB von 20 anzunehmen.

Hier konnte der Senat auf der Grundlage der sachverständigen Zeugenaussage des Dr. W. gegenüber dem SG feststellen, dass bei der Klägerin chronische rezidivierende Lumbalgien bei MRT gesicherten Bandscheibenprotrusionen L4/5 rechts und intraforaminal, L5/S1 sowie NPP L3/4 rechts dorsomedian bis intraforaminal, ein NPP L2/3 links medio-lateral, sowie degenerative LWS-Veränderungen, eine Facettensklerose L5/S1 links, L2/3 und L4/5 rechts, eine ausgeprägte Osteochondrose L2/3 und eine beginnende ISG-Arthrose beidseits bestehen. Eine Tumorerkrankung der Wirbelsäule wurde durch PD Dr. B. (Bericht vom, 27.06.2014, Blatt 69/72 der SG-Akte) ausgeschlossen.

Nach B Nr. 18.9 VG ist bei Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) ein GdB von 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) ein GdB von 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ein GdB von 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ein GdB von 30 bis 40 gerechtfertigt. Maßgebend ist dabei, dass die Bewertungsstufe GdB 30 bis 40 erst erreicht wird, wenn mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbel-säulenabschnitten vorliegen. Die Obergrenze des GdB von 40 ist danach erreicht bei schweren Auswirkungen in mindestens zwei Wirbelsäulenabschnitten (Senatsurteil 24.01.2014 - L 8 SB 2497/11 - juris und www.sozialgerichtsbarkeit.de). Erst bei Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst (z.B. Milwaukee-Korsett); schwere Skoliose (ab ca. 70° nach Cobb) ist ein GdB von 50 bis 70 und bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB von 80 bis 100 gerechtfertigt.

Dr. W. hat im Hinblick auf die vorliegenden und von ihm selbst erhobenen Befunde die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule mit einem GdB von 20 bewertet. Der Senat kann ebenfalls nicht feststellen, dass die Gesundheitsschäden der Wirbelsäule mit einem höheren GdB zu bewerten sind. Der Senat konnte nämlich angesichts der vorliegenden Befunde weder schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt noch mittelgradige Funktionsbeeinträchtigungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten feststellen. So ist z.B. dem Bericht des Orthopäden Dr. W. vom 19.01.2016 (Blatt 55 der SG-Akte) ein Finger-Boden-Abstand von 5 cm, keine sensomotorischen Beeinträchtigungen, ein beidseits negativer Lasègue-Test und lediglich Druckschmerzen an verschiedenen Stellen der Wirbelsäule zu entnehmen; der Gutachter L. hat einen positiven Lasègue-Test bei 80o links und 90o rechts dargestellt. Im Hinblick auf das relativ ausgedehnte Knochenmarksödem bei L2/3 und links medio-lateral, die Bandscheibenvorfälle (vgl. auch radiologischer Bericht H. vom 01.12.2014, Blatt 60 der SG-Akte) lässt sich jedoch ein GdB von 20 für mittelschwere Funktionsbeeinträchtigungen der LWS rechtfertigen. Einen höheren GdB als 20 kann der Senat aber für die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule nicht annehmen. Dr. W. hat diese Bewertung auch als zutreffend beschrieben.

Im Funktionssystem der Arme hat der Beklagte wegen des operierten Carpaltunnelsyndroms einen GdB von 10 angenommen. Dass dieser GdB zu Lasten der Klägerin zu niedrig festgesetzt ist, konnte der Senat nicht feststellen, denn auch der behandelnde Orthopäde Dr. W. und der Gutachter L. haben insoweit keine Beeinträchtigungen mehr mitgeteilt. Auch im Übrigen konnte der Senat im Funktionssystem Arme und auch demjenigen der Beine– auch wenn die Klägerin hier Schmerzen geschildert hatte – keine mit einem weitergehenden GdB zu bewertenden Funktionsbehinderungen feststellen. So konnte der Senat mit den vorliegenden Befunden, vor allem der Aussage des behandelnden Orthopäden Dr. W. weder an den Armen, Schultern, noch den Beinen, Hüften, relevante Erkrankungen und Funktionsbeeinträchtigungen feststellen. Soweit die geltend gemachten Schmerzen dem Fibromyalgie-Syndrom bzw. der chronischen Schmerzstörung zuzuschreiben sind, sind diese im Funktionssystem des Gehirns einschließlich der Psyche zu bewerten, da die Schmerzen über ein Funktionssystem hinausgehend, einheitlich bestehen.

Im Funktionssystem des Stoffwechsels/innere Sekretion besteht bei der Klägerin eine Diabetes mellitus-Erkrankung, die nach den eigenen Angaben der Klägerin mit Metformin und Janovia behandelt wird. Dass diese Medikation eine Hypoglykämie auslösen kann und die Klägerin durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt ist, konnte der Senat nicht feststellen (vgl. zur Metforminbehandlung Senatsurteil vom 20.07.2018 - L 8 SB 1348/18 -). Selbst wenn die Klägerin morgens und abends den Blutzuckerspiegel messen würde, hat keiner der behandelnden Ärzte eine solche Indikation mitgeteilt, auch besteht keine mit Insulin behandlungsbedürftige Erkrankung, sodass eine höhere GdB-Bewertung ausscheidet, zumal der vom Beklagten angenommene GdB von 10 zu Gunsten der Klägerin nicht den Maßstäben von B Nr. 15.1 VG entspricht. Hinsichtlich der beim Gutachter L. geschilderten chronischen Nierenkrankheit Stadium 3 liegen keine entsprechende nephrologische Befunde vor, sodass der Senat weder eine solche Erkrankung in seine Bewertung einstellen kann, noch zu weiteren Ermittlungen verpflichtet ist, denn solche stellten sich als Ermittlungen ins Blaue hinein dar, zumal die Klägerin insoweit auch keinen Arzt benennen konnte, der sie behandelt.

Im Funktionssystem des Herz/Kreislaufs hat der Beklagte eine geringe Herzleistungsminderung, Herzrhythmusstörungen und ein Bluthochdruck mit einem GdB von 10 bewertet; die vom Beklagten angenommene Abhängigkeitserkrankung stellt sich (Blatt 155, 124, 31/32 der Beklagtenakte) als Nikotinabusus dar, der nicht mit einem eigenständigen Teil-GdB zu bewerten war, vor allem nicht im Funktionssystem des Herz/Kreislaufs. Mit den Aussagen und Auskünften behandelnden Ärzten konnte der Senat im Funktionssystem des Herz/Kreislaufs keine Funktionsbehinderungen feststellen, die mit einem höheren GdB als 10 zu bewerten wären. Insbesondere konnte der Gutachter bei seiner orientierenden internistischen Untersuchung keine Herzrhythmusstörungen feststellen, auch hat Dr. R. zutreffend darauf hingewiesen, dass solche von den behandelnden Ärzten nicht mehr bestätigt worden seien. Auch ist eine Herzleistungsminderung zuletzt nicht mehr festgestellt worden, worauf Dr. R. ebenfalls zutreffend hingewiesen hat.

Im Funktionssystem der Atmung bestehen bei der Klägerin ein hyperreagibles Bronchialsystem (Mischform des Asthmas bronchiale) und eine Hausstaubmilben-Allergie, deren Bewertung mit einem GdB von 10 der behandelnde Arzt D. gegenüber dem SG nicht als zu niedrig gerügt hatte. Auch aus dem Bericht des Internisten, Pneumologen und Allergologen Dr. H. vom 23.02.2017 (Blatt 172 der Beklagtenakte) kann der Senat keine Befunde entnehmen, die einen höheren GdB in diesem Funktionssystem rechtfertigen, so war die pulmonale Seite stabil, es bestand lediglich der Verdacht auf ein Schlafapnoe-Syndrom. Dieser Verdacht ist aber nicht weiter bestätigt worden. Die Nikotinabhängigkeit begründet keine weitergehenden Funktionsbeeinträchtigungen, was der Senat dem besagten Bericht des Dr. H. entnimmt, der diese Diagnose gar nicht mehr gestellt hatte. Damit konnte der Senat im Funktionssystem der Atmung keinen höheren GdB als 10 feststellen.

Im Funktionssystem des Gehirns einschließlich der Psyche konnte der Senat bei der Klägerin mit dem Gutachter L. eine Dysthymia und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung feststellen; diese Diagnosen umfassen auch das von den behandelnden Ärzten angegebene Fibromyalgie-Syndrom. Die funktionellen Auswirkungen dieser Gesundheitsstörungen sind mit einem GdB von 30 zu bewerten.

Nach B Nr. 3.7 VG ist bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen oder Folgen psychischer Traumen mit leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen der GdB mit 0 bis 20, bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) der GdB mit 30 bis 40 und bei schweren Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB mit 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB mit 80 bis 100 zu bewerten.

Der Gutachter L. hat bei seiner Untersuchung der Klägerin als wach und zu allen Qualitäten orientiert beschrieben. Das Auffassungsvermögen war ungestört, es zeigten sich keine Störungen der Aufmerksamkeit. Die Klägerin zeigte sich während der gesamten Untersuchungssituation durchgängig gut konzentriert. Hinweise auf schwerere Merkfähigkeits- oder Gedächtnisstörungen ergaben sich bei der Klägerin nicht. Das formale Denken war geordnet. Es bestand kein Anhalt für inhaltliche Denkstörungen im Sinne einer Wahnsymptomatik. Es bestanden keine Wahrnehmungsstörungen (Halluzinationen) und keine Ich-Störungen. Es ergaben sich keine Hinweise auf Zwangssymptome wie z.B. Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen. Die Grundstimmung zeigte sich leicht gedrückt. Es bestand eine leicht reduzierte affektive Schwingungsfähigkeit. Der Antrieb zeigte sich ungestört, die Psychomotorik war unauffällig. Der Gutachter L. hat angegeben, dass sich Hinweise auf intermittierend auftretende passive Todeswünsche und Suizidgedanken ohne konkrete Handlungsabsichten, ohne Suizidpläne ergeben hätten. Es bestanden keine Suizidimpulse. Es bestand keine Fremdgefährdung.

Die Klägerin selbst hatte ihm angegeben, sie könne sich über nichts mehr freuen, auch nicht so richtig darüber, dass ihre Nichte schwanger sei. Agoraphobe Ängste bestünden nicht mehr. Bis zu ihrem 40. oder 45. Lebensjahr habe sie ein reges Sozialleben gehabt, dann hätten die Schmerzen begonnen und sie habe sich zunehmend zurückgezogen. 2015/2016 habe sie sich einer Psychotherapie bei einer Psychologin unterzogen, dies habe ihr aber nichts gebracht. Es gebe Tage, Wochen in denen sie sich nicht wasche. Sie habe zuletzt eine Woche lang keine Zähne geputzt. Sie habe immer wieder Suizidgedanken ohne konkrete Suizidpläne, sie würde so etwas ihrer Tochter nie antun.

Im Beck-Depressions-Inventar (BDI) hat die Klägerin bei der gutachterlichen Untersuchung einen Summenwert von 40 erzielt, zu dem der Gutachter L. ausführt, dass dieser Wert von 40 einem sehr schweren depressiven Syndrom entspräche, welches zur Besserung in der Regel eine stationär-psychiatrische Behandlung erforderlich mache. Diese Werte ließen sich bei der Klägerin in Anbetracht der Ergebnisse der gutachterlichen Exploration und der Vorbefunde nur durch eine ausgeprägte Aggravation erklären.

Der Gutachter hat des Weiteren ausgeführt, dass die anhaltende somatoforme Schmerzstörung durch andauernde schwere und quälende Schmerzen, welche durch die physiologischen Prozesse und körperlichen Störungen nicht hinreichend erklärt werden könnten, bestehe. Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung trete in Verbindung mit den bei der Klägerin beschriebenen emotionalen Konflikten und psychosozialen Belastungen auf, denen die Hauptrolle für Beginn, Schweregrad, Exazerbation und Aufrechterhaltung der Schmerzen zukomme. Anhaltende somatoforme Schmerzstörungen gingen regelhaft mit einem beträchtlich gesteigerten medizinischen Hilfe- und Unterstützungsbedarf einher. Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung bestehe bei der Klägerin seit 1996. Sie entspreche einer stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Weiterhin bestehe eine Dysthymia, bei der es sich um eine chronische, mehrere Jahre andauernde depressive Verstimmung handele, die weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug sei, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder leichten rezidivierenden depressiven Störung zu erfüllen. Inwieweit zusätzlich in der Vergangenheit auch leichte oder mittelgradige depressive Phasen vorgelegen hätten, könne rückblickend nicht eindeutig geklärt werden, jedoch legten die Vorbefunde dies nahe. Die Schwierigkeiten der retrospektiven Beurteilung lägen wesentlich auch in der ausgeprägten Tendenz der Klägerin, depressive Symptome aggraviert darzustellen. Dies zeige sich eindrücklich in der Diskrepanz zwischen der Beantwortung des Beck-Depressions-Inventar (BDI) im Vergleich dazu wie sich die Klägerin in der unmittelbaren gutachterlichen Untersuchung präsentiert habe. Würde das Ergebnis des BDI das wahre Ausmaß der Depression darstellen, wäre die Klägerin in keinster Weise in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen. Sie wäre auch nicht in der Lage gewesen konzentriert die geforderten Fragebögen auszufüllen und ohne Konzentrationseinbußen einer mehrstündigen Untersuchung beizuwohnen.

Die depressiven Störungen inklusive einer Dysthymia hätten ungünstigen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung, da sie zu einem Absinken der Schmerzschwelle führten. Insofern führe die Dysthymia zu einer gewissen Verstärkung des Schmerzerlebens. Umgekehrt sei auch aus der klinischen Forschung bekannt, dass chronische Schmerzstörungen gehäuft mit depressiven Störungen einhergingen und dass sie die Behandlung depressiver Störungen erschwerten.

Bei der Dysthymia handele es sich – so der Gutachter L. - um eine leichtere psychische Störung. Bei der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung handele es sich um eine mittel- bis schwergradige Störung. Die chronische Schmerzstörung sei nicht nur durch dauerhaft vorhandene Schmerzen, multilokulär, mit wechselndem Schweregrad gekennzeichnet, sondern durch eine ausgeprägte gedankliche Einengung der Aufmerksamkeit auf diese Schmerzen und deren Bewältigung, was sich insgesamt in ausgeprägtem Maße ungünstig auf die Teilhabemöglichkeiten im beruflichen, sozialen und kulturellen Bereich auswirke.

Ursache der chronischen Schmerzen, die bereits im Jahre 1996 begonnen hätten, seien nicht die erst später hinzugetretenen degenerativ bedingten Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, vielmehr liege die Ursache der Schmerzen überwiegend im psychosozialen Bereich, sodass keine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, sondern eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung vorliege. Das zusätzliche Stellen der Diagnose eines Fibromyalgiesyndroms führe zu keinem zusätzlichen Erkenntnisgewinn, so der Gutachter, zumal seit Modifikation der Diagnosekriterien der Fibromyalgie in den neuesten AWMF-Leitlinien eine weitestgehende Übereinstimmung in den Diagnosekriterien und Behandlungsansätzen bei der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und der Fibromyalgie bestehe.

Es bestehe jetzt keine Agoraphobie mehr, so der Gutachter L ... Die Klägerin habe während der gesamten gutachterlichen Untersuchung, die in für sie unbekannter Umgebung stattgefunden habe, keine Angstsymptome gezeigt, auch habe sie keine relevanten Angstsymptome für die Fahrt zur gutachterlichen Untersuchung berichtet und angegeben, dass sie einmal pro Woche zu Fuß einkaufen gehe, mit einer einfachen Wegstrecke von 300 bis 400 Metern.

Vor diesem Hintergrund der gutachterlichen Ausführungen und auch im Hinblick auf die von den behandelnden Ärzten mitgeteilten Befunde konnte der Senat die funktionellen Auswirkungen der vorhandenen Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet unter Einschluss der bestehenden Schmerzen allenfalls mit einem GdB von 30 bewerten. Ein GdB von 40, der erst erreicht ist, wenn bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) eine gegenüber dem Durchschnitt der von dieser Bewertungsgruppe erfassten Fälle gesteigerte Funktionsbeeinträchtigung, mithin eine eher schwere depressive Erkrankung, vorliegt, konnte der Senat angesichts der Angaben des Gutachters und der behandelnden Ärzte sowie der Klägerin nicht feststellen. Denn ausgeschlossen sind sowohl schweren Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit), was der Senat dem Gutachten L. entnimmt, als auch eine anhaltende schwere depressive Erkrankung. Die in Richtung einer solchen Erkrankung deutenden Testergebnisse aus dem BDI hat der Gutachter zutreffend als Folge einer Aggravation beschrieben, sodass hieraus keine Schlussfolgerungen auf die Art und das Ausmaß der tatsächlich bestehenden funktionellen Beeinträchtigungen gezogen werden können.

Zutreffend hat Dr. R. in seiner Stellungnahme zum Gutachten L. auch darauf hingewiesen, dass auch hinsichtlich der geschilderten Schmerzsituation, der eine visuelle Analogskala zugrunde liegt (VAS 0 - 10) nicht nachvollziehbare Ergebnisse erhoben worden seien. So habe Klägerin einen dauerhaften Schmerz von 8-10 angegeben. Letzteres entspreche einem Vernichtungsschmerz wie bei einem tödlichen Herzinfarkt und sei daher in keiner Weise nachvollziehbar, auch nicht unter Hinweis auf die aktuelle Medikation.

Auch Dr. W. hat in der mit der Berufung vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme darauf hingewiesen, dass andauernde schwere und quälende Schmerzen nicht zu dem von der Klägerin beim Gutachter angegebenen vielen und teilweise stundenlangen Lese - bis zu 1000 Seiten pro Tag – und der längeren Beschäftigung mit dem PC passe. Dr. W. hat insoweit ausgeführt, dass es medizinisch gesehen nicht vorstellbar sei, wie es bei andauernden quälenden Schmerzen möglich sein solle, sich stundenlang mit Lesen zu beschäftigen. Lesen erforderte, auch bei einfachen Inhalten, eine gewisse Konzentration, und eine solche sei bei andauernden quälenden Schmerzen nicht möglich. Auch der Gutachter hat aus seiner Untersuchung gerade nicht berichtet, dass die Klägerin von den Schmerzen beeinträchtigt war. Vielmehr war sie aufmerksam, konzentriert und sogar im Antrieb und in der Psychomotorik ungestört.

Dazu hat die Klägerin einen Tagesablauf geschildert, der zwar einen sozialen Rückzug beschreibt, als sie nur einmal in der Woche die Wohnung zum Einkaufen verlasse (das Verlassen der Wohnung zwecks Arztbesuchen hat die Klägerin nicht angegeben), zweimal im Jahr kämen Freundinnen, zu deren Besuch sie die Wohnung richtig aufräume, alle zwei Wochen käme ihre Tochter. Auch hat die Klägerin beschrieben, dass sie sich bei der Hausarbeit trotz der Schmerzen z.B. beim Staubsaugen durch Sitzen auf dem Boden die Möglichkeit eröffnet hat, solche Arbeiten zu erledigen.

Insoweit musste der Senat feststellen, dass der Alltag der Klägerin zwar durch Schmerzen und auch die psychischen Erkrankungen beeinträchtigt ist, dass diese aber in der Lage ist, den Alltag mit und um diese Erkrankungen herum zu gestalten. Auch die doch vielseitigeren Interessen mit langem Lesen, Fernsehschauen (z.B. "Navy CIS", "Haus im Glück") zeigen, dass die Klägerin nicht vollständig von Schmerzen und psychischer Erkrankung dominiert wird, was die Klägerin auch dadurch bestätigt hat, als sie zuletzt angegeben hatte, durch das Lesen die Schmerzen vergessen und sich ablenken zu können. Damit kann der Senat nicht annehmen, dass die funktionellen Auswirkungen der Schmerzen und der psychischen Erkrankungen der Klägerin – auch wenn sich diese gegenseitig negativ beeinflussen – dauerhaft und im Durchschnitt (vgl. A Nr. 2 Buchst. f) VG) am oberen Rand des für stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorgesehenen Bewertungsrahmens zu bewerten sind. Insoweit konnte sich der Senat lediglich von der Bewertung mit einem GdB von 30 überzeugen. Soweit die behandelnden Ärzte Dr. H. und D. einen höheren GdB angenommen haben, lässt sich dieser weder den von diesen mitgeteilten Befunden entnehmen noch im Hinblick auf die anzuwendenden gesetzlichen Regelungen rechtfertigen. Die Bewertung des Einzel-GdB im Funktionssystem des Gehirns einschließlich der Psyche mit 30 entspricht auch der Einschätzung der Versorgungsärzte Dr. R. und Dr. W ...

Soweit die Klägerin zuletzt hat vortragen lassen, bei der Begutachtung habe sie Antidepressiva eingenommen, die sie seither wegen schlechter Leberwerte nicht mehr nehmen könne, ändert das an der Bewertung des GdB durch den Senat nichts. Vielmehr zeigt sich, dass der durch die Schmerzen und psychischen Erkrankungen bestehende Leidensdruck nicht so groß ist, dass die Klägerin zu schmerzlindernden und depressionsvermeidenden Therapien greifen müsste. Auch der pauschale Hinweis darauf, dass sich die psychische Situation seit der Begutachtung noch verschlimmert habe, ist durch die rechtlich vertretene Klägerin nicht ausreichend substantiiert vorgetragen, sodass der Senat diesen Hinweis auch nicht zum Anlass nehmen musste, in weitere Ermittlungen einzutreten.

Weitere - bisher nicht berücksichtigte - GdB-relevante Funktionsbehinderungen, die einen Einzel- bzw. Teil-GdB von wenigstens 10 bedingen, wurden weder geltend gemacht noch konnte der Senat solche feststellen.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht für erforderlich. Einen Antrag nach § 109 SGG hat der Kläger nicht gestellt. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben mit dem Gutachten des SG dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der medizinische festgestellte Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 30, 40 oder 50 fest vorgegeben ist (BSG 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 18 = juris).

Nach Überzeugung des Senats ist der Gesamt-GdB unter integrierender Bewertung der Funktionsbehinderungen und unter Beachtung ihrer gegenseitigen Auswirkungen der Gesamt-GdB zu bilden aus Einzel-GdB-Werten von - 20 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem des Rumpfes (Wirbelsäule), - 10 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem der Arme - 10 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem des Stoffwechsels/innere Sekretion, - 10 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem der Atmung, - 10 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem des Herz/Kreislaufs und - 30 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem des Gehirns einschließlich der Psyche. Nachdem bei der Klägerin vorliegend von einem zu berücksichtigenden höchsten Einzel-GdB von 30 und einem GdB-Wert von 20 auszugehen ist, und kein Fall vorliegt, in denen ausnahmsweise GdB-Werte von 10 erhöhend wirken, konnte der Senat einen GdB von mehr als 40 nicht feststellen.

Insgesamt ist der Senat unter Berücksichtigung eines Vergleichs der bei der Klägerin insgesamt vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren gegenseitigen Auswirkungen einerseits und derjenigen Fälle, für die die VG einen GdB von 50 vorsehen andererseits, zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin nicht entsprechend schwer funktionell in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist. In seiner Gesamtheit entsprechen die Erkrankungen der Klägerin weder einzeln noch in ihrer Zusammenschau den nach den VG in Teil B mit einem GdB von 50 oder mehr bewerteten Gesundheitsstörungen. Der Senat vermag daher nicht der Auffassung des SG zu folgen, dass der Gesamt-GdB mit 50 anzunehmen sei.

Jedoch ist der Senat der Überzeugung, dass die mit einem GdB von 20 bewerteten Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule sich nicht wesentlich durch vorhandene Schmerzen, vielmehr durch vorhandene sonstige Beeinträchtigungen – z.B. in der Beweglichkeit – begründen, sodass sich keine wesentlichen Überschneidungen mit den mit einem GdB von 30 bewerteten Störungen im Funktionssystem des Gehirns einschließlich der Psyche ergeben. Daher ist der Senat – anders als die Versorgungsärzte Dr. R. und Dr. W. – der Überzeugung, dass der Einzel-GdB von 30 um 10 zu einem Gesamt-GdB von 40 zu erhöhen ist.

Damit konnte der Senat feststellen, dass im Verhältnis zu der früheren GdB-Feststellung zwar eine wesentliche Änderung i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist, als der GdB nunmehr mit 40, nicht jedoch mit 50 zu bewerten ist. Auf die Berufung des Beklagten war daher das Urteil des SG abzuändern.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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