L 9 R 1952/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 3418/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 1952/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 4. Mai 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens.

Die 1959 in der Türkei geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie lebt seit 1978 in der Bundesrepublik Deutschland und war seither in verschiedenen Bereichen versicherungspflichtig beschäftigt, u.a. als Portioniererin bei einem Fertiggerichte-Hersteller, als Reinigungskraft und als Küchenhilfe. Seit 1990 stand sie im Leistungsbezug der Bundesagentur für Arbeit, unterbrochen durch Zeiten des Krankengeldbezuges sowie kurzfristiger versicherungspflichtiger Beschäftigungen, zuletzt im Jahr 2004 als Küchenhilfe. Ab 2005 bezog die Klägerin bis Juli 2013 mit mehrmonatigen Unterbrechungen in den Jahren 2008 bis 2011 Arbeitslosengeld II. Bei ihr ist seit April 2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 und ab Oktober 2008 ein solcher von 70 festgestellt.

Erstmals im Jahr 2005 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Dies lehnte die Beklagte ab, den Widerspruch dagegen wies sie zurück. Die Klage hiergegen vor dem Sozialgericht Heilbronn (SG) blieb ohne Erfolg (S 10 R 3438/05).

Im Jahr 2007 beantragte die Klägerin erneut Rente wegen Erwerbsminderung. Auch diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 20.09.2007) und wies den Widerspruch dagegen zurück (Widerspruchsbescheid vom 09.05.2008). Die hiergegen gerichtete Klage wies das SG mit Urteil vom 02.02.2010 (S 3 R 1593/08) ab. Hierbei stützte es sich auf das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. vom 06.04.2009, der die Klägerin unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen für vollschichtig leistungsfähig erachtete. Nicht anzuschließen vermochte sich das SG der davon abweichenden Leistungseinschätzung des Facharztes für Psychiatrie Dr. G., der auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unter dem 23.10.2009 sein Gutachten erstattete und die Klägerin für nur noch unter drei Stunden täglich leistungsfähig erachtete. Hiergegen legte die Klägerin Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) ein (L 4 R 1358/10). Nach Einholung von Auskünften der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen holte das LSG ein Gutachten bei dem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des psychiatrischen Zentrums N., Dr. S. ein. In seinem Gutachten vom 11.07.2011 und einer ergänzenden Stellungnahme vom 08.11.2011 führte Dr. S. aus, dass die Klägerin weiterhin in der Lage sei, berufliche Tätigkeiten unter Beachtung qualitativer Einschränkungen vollschichtig zu verrichten. Dem folgend wies das LSG die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 17.02.2012 zurück. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung in diesem Urteil wies das Bundessozialgericht (BSG) mit Beschluss vom 11.10.2012 aus unzulässig zurück.

Vom 06.06.2012 bis 18.07.2012 befand sich die Klägerin zur stationären medizinischen Rehabilitation in der M.-Klinik in K. Laut Entlassungsbericht vom 24.07.2012 wurde die Klägerin dort als leistungsfähig im Umfang von mehr als sechs Stunden täglich in Bezug auf leichte körperliche Tätigkeiten erachtet. Hierbei sollten die Tätigkeiten ständig im Sitzen mit zeitweisem Gehen und Stehen verrichtet werden, in Tages-, Früh- und Spätschicht, nicht aber in Nachtschicht.

Einen dritten Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung stellte die Klägerin am 17.07.2013. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch die Internistin und Sozialmedizinerin G., welche in ihrem Gutachten vom 30.08.2013 zu der Einschätzung gelangte, dass bei der Klägerin das seit Jahren bestehende depressive Syndrom mit somatoformen Schmerzstörungen im Vordergrund stehe. Es sei im Laufe der letzten Jahre zu einer deutlichen Verschlimmerung gekommen. Die Klägerin sei auch bei deutlicher Aggravation in Übereinstimmung mit dem behandelnden Nervenarzt nicht mehr in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Wegen Besserungsmöglichkeiten werde zunächst eine Befristung der Rente über einer Dauer von zwei Jahren empfohlen. Mit Bescheid vom 04.09.2013 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Zwar sei die Klägerin ab Antragstellung befristet voll erwerbsgemindert, sie erfülle aber die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht. Die für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung erforderliche Mindestzahl von Pflichtbeiträgen sei nicht erfüllt. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.12.2013 zurück. Hiergegen erhob die Klägerin erneut Klage zum SG (S 11 R 4389/13). Das SG holte auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG ein nervenärztliches Gutachten des Prof. Dr. B. ein. Dieser diagnostizierte in seinem Gutachten vom 07.06.2014 eine histrionische Persönlichkeitsstörung, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und eine rezidivierende depressive Störung mit aktuell mittelgradiger Episode. Für ihn stehe fest, dass die Klägerin erhebliche Defizite hinsichtlich eines übersichtlichen Handelns, ihrer Reaktionsfähigkeit, ihrer Aufmerksamkeitsleistungen, ihres Verantwortungsbewusstseins und vor allem ihrer Zuverlässigkeit aufweise. Sie sei schon seit Jahren nicht mehr in der Lage, irgendwelche Tätigkeiten im Rahmen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten. Auch er habe, wie Dr. S. bei seiner Begutachtung, erhebliche Aggravationstendenzen festgestellt. Allerdings begründe er deren Ursächlichkeit anders als Dr. S. Er habe bei seinen gutachtlichen Schlussfolgerungen vor allem auch die psychodynamischen Hintergründe für die krankheitsbedingten Fehlhaltungen der Klägerin erfragt und erforscht und diese dann auch in Relation gesetzt zu ihrer massiv reduzierten Leistungskapazität. Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 30.09.2014 wies das SG die Klage ab. In der Urteilsbegründung schloss es sich nicht der Einschätzung des Prof. Dr. B. an, sondern bezog sich insbesondere auf das im früheren Berufungsverfahren bei Dr. S. eingeholte Gutachten vom 11.07.2011. Dr. S. habe nachvollziehbar und schlüssig ein Leistungsvermögen der Klägerin von täglich sechs Stunden und mehr unter Beachtung qualitativer Einschränkungen angenommen. Er habe in seinem Gutachten deutliche Kompetenzen der Klägerin auf kognitiver, emotionaler, sozialer Ebene zum Untersuchungszeitpunkt herausgearbeitet. Dies alles spreche gegen eine Einschränkung des Leistungsvermögens auf unter sechs Stunden täglich selbst für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bereits ab 30.06.2010 oder früher. Die Klägerin sei zum maßgeblichen Zeitpunkt des letztmaligen Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (spätestens 30.06.2010) auch nicht berufsunfähig gewesen, da sie nach ihrem beruflichen Werdegang auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt breit verweisbar sei. Die hiergegen zum LSG eingelegte Berufung (L 2 R4415/14) nahm die Klägerin am 15.12.2014 zurück.

Am 19.12.2014 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Überprüfung der ergangenen Entscheidungen gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und die Feststellung, dass bei ihr spätestens am 30.08.2010 (gemeint: 30.06.2010) Erwerbsminderung eingetreten sei. Mit Bescheid vom 23.06.2016 lehnte die Beklagte die beantragte Änderung des Leistungsfalles ab. Es verbleibe bei dem bisher festgestellten Leistungsfall am 17.07.2013. In den fachärztlichen Befundberichten bzw. den Entlassungsberichten der 2011 und 2012 durchgeführten medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen werde eindeutig die vollschichtige Leistungsfähigkeit attestiert. Im Übrigen werde auf die Urteilsbegründung des SG verwiesen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.10.2016 zurück. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente seien nur bei einem Leistungsfall bis zum 30.06.2010 erfüllt.

Hiergegen hat die Klägerin am 03.11.2016 Klage zum SG erhoben. Zur Begründung der Klage hat sie ärztliche Bescheinigungen und Befundberichte aus den Jahren 2005, 2012, 2013 und 2016 vorgelegt. Das SG hat die Gerichtsakten aus den zuvor zwischen den Beteiligten geführten Klage- und Berufungsverfahren beigezogen. Weiter hat es Beweis erhoben durch schriftliche Vernehmung des behandelnden Hausarztes der Klägerin, Dr. M., als sachverständigen Zeugen zu den von ihm bei der Klägerin in den Jahren 2010 bis 2013 erhobenen Befunden.

Nach vorherigem Hinweis hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 04.05.2018 abgewiesen. Die Klage sei zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin habe gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rücknahme der Ablehnungsbescheide im Hinblick auf die Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung. Rechtsgrundlage für eine solche Rücknahme sei die – näher dargelegte - Regelung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Die Beklagte sei bei der Ablehnung der wiederholten Rentenanträge der Klägerin weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen noch habe sie das Recht bei Erlass der Ablehnungsbescheide unrichtig angewandt. Die Klägerin habe unter Anwendung der - näher dargestellten – Regelungen in § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Ausweislich des vorliegenden Versicherungsverlaufs der Klägerin seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Sinne des § 43 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI zuletzt im Juni 2010 erfüllt gewesen. Dass bei der Klägerin spätestens am 30.06.2010 eine rentenrelevante quantitative Leistungsminderung eingetreten wäre, lasse sich jedoch auf der Grundlage des vorliegenden medizinischen Sachverhalts nicht feststellen. Die Kammer schließe sich diesbezüglich den schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des im vorangegangenen Klageverfahrens ergangenen Urteils vom 30.09.2014 an. Neue bislang unbekannte Befunde, die zu einer anderen Beurteilung bis zum hier maßgeblichen Zeitpunkt, dem 30.06.2010, führen würden, seien dem Akteninhalt nicht zu entnehmen. Gleiches gelte in Bezug auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI. Die Klägerin sei auch nicht spätestens bis zum 30.06.2010 berufsunfähig geworden. Die Klägerin sei noch in der Lage gewesen, leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Die Klägerin sei aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit als ungelernte Arbeiterin einzustufen. Damit sei eine Verweisung auf sämtliche ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes möglich.

Hiergegen richtet sich die am 30.05.2018 beim LSG eingelegte Berufung der Klägerin. Zur Begründung macht sie geltend, sie habe rechtzeitig vor dem 31.12.2014 bei der Beklagten die Überprüfung beantragt, ob sie bereits am 30.06.2010 erwerbsgemindert gewesen sei. Dies habe die Beklagte zu Unrecht abgelehnt. Auch das SG habe verkannt, dass Prof. Dr. B. in seinem Gutachten vom 07.06.2014, bereits ausgeführt habe, dass sie erwerbsunfähig sei und dieser Zustand gewiss schon seit vielen Jahren bestanden habe.

Die Klägerin beantragt (teilweise sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 4. Mai 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des Bescheides vom 20. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 2008 sowie des Bescheides vom 4. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2013 unter Zugrundlegung des Eintritts eines Leistungsfalls spätesten am 30. Juni 2010 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, hilfsweise auch wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung weist sie darauf hin, dass bis 30.06.2010 ein vollschichtiges Leistungsvermögen vorgelegen habe. Dem Gutachten des Prof. Dr. B. vom 07.06.2014 könne nicht gefolgt werden, wenn es im Jahr 2014 eine Leistungsminderung im Jahr 2010 feststelle. Überzeugender sei das zeitnähere Gutachten des Dr. S. vom 11.07.2011, das für diesen Zeitpunkt ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr festgestellt habe. Zu dem gleichen Ergebnis seien auch die Reha-Entlassungsberichte aus den Jahren 2011 und 2012 gelangt.

Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat der Senat bei dem Chefarzt der S.klinik Neurologie Dr. B. ein neurologisches Gutachten eingeholt. In seinem Gutachten vom 06.06.2019 diagnostiziert er eine chronische Schmerzstörung/somatische Belastungsstörung mit überwiegend Schmerz (multilokullärer Körperschmerz mit mittelschwerer funktioneller Beeinträchtigung, double depression mit Dysthymie und aktuell remittierter depressiver Episode), eine Schlafstörung, eine Gangstörung bei somatoformem phobischem Schwankschwindel, einen Ehekonflikt, eine nicht auf seinem Fachgebiet liegende vordiagnostizierte Hypothyreose (substituiert) und eine Hysterektomie vor Jahren. Der Klägerin seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte Arbeiten mit Einschränkungen ohne Heben und Tragen von Lasten mehr als 10 Kilogramm möglich. Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten oder im unebenen Gelände, Zwangshaltungen, dauerndes oder überwiegendes Stehen, häufiges oder länger dauerndes Bücken, Arbeiten in Kälte, Nässe und Zugluft sowie unter Zeitdruck seien nicht mehr möglich. Aufgrund einer geminderten Stressbelastbarkeit seien Akkordarbeiten sowie Tätigkeiten unter Einfluss von Staub, Gasen oder Dämpfen, vermehrter Publikumsverkehr oder Schichtarbeit nicht zumutbar. Eine besondere nervliche Beanspruchung sollte vermieden werden. Grundsätzliche Motivations- und Antriebsfunktionen seien aktuell ungestört. Sowohl die Schmerzerkrankung wie auch die psychische Symptomatik seien nicht so schwer ausgeprägt, dass eine grundsätzliche Ausdauerleistungsminderung bestehe. Die Klägerin könne daher aufgrund ihres Gesundheitszustandes regelmäßig einer Erwerbstätigkeit mehr als sechs Stunden arbeitstäglich nachgehen. Diese Leistungsfähigkeit bestehe sicher nach seiner Begutachtung, wahrscheinlich jedoch bereits seit Januar 2010. Eine wesentliche Änderung der Leistungsfähigkeit sei bezüglich der Schmerzerkrankung nicht dokumentiert und plausibel. Auch bezüglich der offenbar wechselhaft ausgeprägten depressiven Symptomatik sei seit 2004 bislang keine Episode mit schwerer Symptomatik und länger anhaltender zusätzlicher Leistungsminderung dokumentiert, entsprechend der Beurteilung durch die M. Klinik im Jahr 2012. Wesentliche Abweichungen zu dem ausführlichen Vorgutachten von Dr. S. aus dem Jahre 2011 sehe er nicht. Im Gegensatz zu dem Gutachten von Prof. Dr. B. gehe er nicht davon aus, dass eine massiv eingeschränkte Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bestehe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der beigezogenen Gerichtsakten des SG (S 3 R 1593/08 und S 11 R 4389/13) und des LSG (L 4 R 1358/10 und L 2 R 4415/14) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist nach § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgerecht eingelegt und insgesamt zulässig. Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor (§ 144 SGG).

Die Berufung der Klägerin ist aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der streitbefangene Bescheid der Beklagten vom 23.06.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Zu Recht hat die Beklagte den Überprüfungsantrag der Klägerin vom 23.12.2014 abgelehnt. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Abänderung bzw. Aufhebung des Bescheides vom 20.09.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2008 sowie des Bescheides vom 04.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2013 und Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, auch nicht wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Gerichtsbescheides zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die von der Klägerin beantragte Überprüfung nach § 44 SGB X sowie der von ihr beanspruchten Rente gemäß § 43 SGB VI bzw. § 240 SGB VI dargelegt. Weiter hat es zutreffend ausgeführt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit, hat, weil letztmals im Juni 2010 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die beanspruchte Rente vorlagen und bei der Klägerin nicht bis spätestens Juni 2010 volle oder teilweise Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit eingetreten ist. Das SG hat zu Recht ausgeführt, dass die Klägerin mindestens bis Juni 2010 in der Lage war, zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts bei Beachtung qualitativer Einschränkung sechs Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten. Der Senat schließt sich dem nach eigener Überprüfung und unter Berücksichtigung des gesamten Vorbringens der Klägerin uneingeschränkt an und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück.

Lediglich ergänzend ist im Hinblick auf das Berufungsvorbringen und die auf Antrag der Klägerin durchgeführte Beweiserhebung auf Folgendes hinzuweisen:

Soweit sich die Klägerin darauf beruft, dass das SG sich nicht mit dem Gutachten des Prof. Dr. B. auseinandergesetzt habe, ist dem entgegenzuhalten, dass das SG insoweit auf das frühere Urteil des SG vom 30.09.2014 verwiesen hat. Im Urteil vom 30.09.2014 hat das SG dargestellt, dass es sich nicht der Einschätzung der Prof. Dr. B. anschließt, sondern sich auf das im früheren Berufungsverfahren bei Dr. S. eingeholte Gutachten stützt. Auch insoweit schließt sich der Senat den Ausführungen des SG an. Dr. S. hat in seinem Gutachten und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 08.11.2011 auf psychiatrisch-psychotherapeutischem Fachgebiet eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine dysthyme Störung und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert, diagnostiziert und ist zu der Einschätzung gelangt, dass diese Gesundheitsstörungen zu einer Minderung der Leistungsfähigkeit der Klägerin führen, der durch näher beschriebene qualitativen Leistungseinschränkungen ausreichend begegnet werden kann, nicht aber das Ausdauerleistungsvermögen der Klägerin einschränken. Dies ist sowohl hinsichtlich der Diagnosestellung als auch der daraus abgeleiteten nur qualitativen Leistungseinschränkungen für den Senat widerspruchsfrei, nachvollziehbar und schlüssig anhand der von Dr. S. erhobenen Befunde, des von ihm erhobenen Tagesablaufs und der von ihm aufgezeigten Diskrepanzen zwischen den Schilderungen der Klägerin und der im Rahmen der Begutachtung gezeigten Fähigkeiten. Insoweit verweist der Senat auch zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen des 4. Senats im Urteil vom 17.02.2012 im früheren Berufungsverfahren L 4 R 1358/10, denen der Senat sich vollumfänglich anschließt.

Soweit Prof. Dr. B. demgegenüber in seinem Gutachten vom 07.06.2014 darlegt, dass er von einem völlig aufgehobenen Leistungsvermögen der Klägerin ausgehe und ein solches schon seit Jahren vorliege, ist dies für den Senat nicht nachvollziehbar. Prof. Dr. B. begründet dies im Wesentlichen mit seiner psychodynamischen Betrachtung und der von ihm diagnostizierten Persönlichkeitsstörung. Zum einen habe sich die Klägerin bei ihm gänzlich anders dargestellt als in dem Gutachten von Dr. S. beschrieben. Zum anderen habe zwar auch er erhebliche Aggravationstendenzen bei der Klägerin festgestellt. Für seine Schlussfolgerungen spiele es aber keine Rolle, ob die bei der Begutachtung gezeigten massiven Defizite von der Klägerin bewusst dargestellt worden seien oder nicht. Er erkenne die Störungen als den unbewussten Ausdruck einer sehr krankheitswertigen Störung im Sinne einer hysterischen Persönlichkeitsstörung an. Es bestehe eine massive Tendenz der Klägerin zur Somatisierung intrapsychischer Beschwerden und ein sehr ausgeprägter sog. sekundärer Krankheitsgewinn. In erster Linie habe man bei der Klägerin eine hysterische Struktur mit all den daraus resultierenden Folgen zu respektieren. Dies bedeute auch, dass die Klägerin selbst nur sehr punktuell ihr Fehlverhalten als solches erkenne bzw. erkennen könne. Aufgrund dieser psychodynamischen Überlegungen gelange er im Gegensatz zu Dr. S. zu dem Ergebnis, dass die Klägerin schon seit vielen Jahren seelisch schwer krank sei im Sinne der spezifischen Persönlichkeitsstörung. Dies ist für den Senat bereits nicht anhand des von Prof. Dr. B. erhobenen Befundes und der Anamnese nachvollziehbar. Überdies steht es sowohl hinsichtlich der Diagnosestellung als auch der Leistungseinschätzung in deutlichem Widerspruch zu dem für den Senat nachvollziehbaren und schlüssigen Gutachten des Dr. S.

Auch der auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG beauftragte Sachverständige Prof. Dr. B. gelangt in seinem Gutachten vom 06.06.2019 in Übereinstimmung mit Dr. S. zu der Einschätzung, dass die Klägerin trotz der vorliegenden Gesundheitsstörungen noch immer und auch durchgehend seit dem Jahr 2010 in der Lage ist, bei Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen regelmäßig einer Erwerbstätigkeit von mehr als sechs Stunden arbeitstäglich nachzugehen. Er hat für den Senat nachvollziehbar anhand der erhobenen Befunde und in Auseinandersetzung mit dem Akteninhalt einschließlich des Gutachtens des Prof. Dr. B. dargelegt, dass sowohl die Schmerzerkrankung als auch die psychische Symptomatik nicht so schwer ausgeprägt sind, dass eine grundsätzliche Ausdauerleistungsminderung der Klägerin bestehen würde. Auch teilt er nicht die nur von Prof. Dr. B. gestellte Diagnose einer Persönlichkeitsstörung, sondern sieht die grundsätzlichen Motivations- und Antriebsfunktionen der Klägerin als ungestört an. Seine Übereinstimmung mit Dr. S. und sein Abweichen von Prof. Dr. B. begründet Prof. Dr. B. für den Senat überzeugend anhand der von ihm erhobenen Befunde. So berichtete die Klägerin ihm gegenüber über eine basale Funktionalität im Alltag bei der Versorgung der Haushaltsaktivitäten, ihre Steuerungsfähigkeit erschien nicht beeinträchtigt. Die auch ihm gegenüber sichtbare Aggravation spricht seines Erachtens entgegen der psychodynamischen Interpretation von Prof. Dr. B. sogar für erhaltene Motivations- und Antriebsfunktionen der Klägerin. Diese Einschätzung teilt der Senat.

Damit ist der Senat wie auch das SG der Überzeugung, dass die Klägerin unter Berücksichtigung der bei ihr im Vordergrund stehenden Erkrankungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sowie ihrer weiteren Erkrankungen auf anderen Fachgebieten insgesamt nicht seit mindestens 30.06.2010 voll oder teilweise erwerbsgemindert oder berufsunfähig ist. Mithin hat die Beklagte in den von der Klägerin zur Überprüfung gestellten Bescheiden einen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit, zu Recht verneint und eine Abänderung bzw. Aufhebung dieser Bescheide zu Recht abgelehnt.

Die Berufung ist mithin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved