L 10 BA 3190/19 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
10
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 BA 2005/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 BA 3190/19 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 23.08.2019 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 25.01.2019 hinsichtlich der für die Zeit vor dem 01.05.2017 erhobenen Forderungen sowie hinsichtlich der für die Zeit vom 01.05. bis 30.11.2017 für namentlich nicht genannte Arbeitnehmer erhobenen Forderungen angeordnet wird.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird - auch für das Verfahren erster Instanz - auf 138.558,09 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin wendet sich mit dem Begehren auf einstweiligen Rechtsschutz gegen eine Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen und gegen Säumniszuschläge auf Grund einer Betriebsprüfung.

Die Antragstellerin betreibt in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) die Reinigung von Toilettenanlagen auf Autobahnraststätten und -tankstellen und setzt hierbei insbesondere bulgarische Staatsangehörige ein. Auf der Grundlage der Ergebnisse von Ermittlungen der Zollverwaltung fordert die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 25.01.2019 für den Zeitraum vom 01.01.2015 bis 30.11.2017 einen Gesamtbetrag von 554.232,37 EUR (Beiträge und Säumniszuschläge), wogegen die Antragstellerin Widerspruch eingelegt hat, über den noch nicht entschieden ist. Den Antrag, die Vollziehung des Bescheides auszusetzen, hat die Antragsgegnerin abgelehnt.

Das mit dem Begehren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung angerufene Sozialgericht Freiburg hat mit Beschluss vom 23.08.2019 festgestellt, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung habe. Hiergegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer am 20.09.2019 eingelegten Beschwerde II.

Die nach § 172 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte und gemäß § 173 SGG form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, in der Sache jedoch nur zu einem geringen Teil begründet.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Vorliegend hat der Widerspruch entgegen der Grundregel des § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG keine aufschiebende Wirkung, weil diese gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten und damit auch im Falle des hier streitigen Beitragsbescheides entfällt.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und der Antragstellerin ist § 7a Abs. 7 Satz 1 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IV) keine Sonderregelung zu § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG. Dies hat der Senat, ebenso wie der 11. Senat des Landessozialgerichts (Beschluss vom 11.05.2010, L 11 KR 1125/10 ER-B, in juris), bereits entschieden (Beschluss vom 13.10.2017, L 10 R 3551/17 ER-B, und vom 07.10.2017, L 10 R 4296/17 ER-B, nicht veröffentlicht). An dieser Auffassung, die die Mehrheit der Landessozialgerichte vertritt (s. die Übersicht in Pietrek, jurisPK-SGB IV, § 7a Rdnr. 145.1 ff.), hält der Senat fest.

Entgegen der Annahme des Sozialgerichts schließt schon der Wortlaut der Vorschrift eine Anwendung im Rahmen des § 28p SGB IV - danach prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen stehen, ordnungsgemäß erfüllen und sie erlassen nach Satz 5 dieser Vorschrift im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte, also gerade den hier streitigen Bescheid - aus. Denn § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV lautet: "Widerspruch und Klage gegen Entscheidungen, dass eine Beschäftigung vorliegt, haben aufschiebende Wirkung". Damit greift die Regelung Abs. 1 Satz 1 der Vorschrift ( ... Entscheidung ..., ob eine Beschäftigung vorliegt ...) wörtlich auf, sodass der Wortlaut des § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV den Geltungsbereich dieser Vorschrift auf Verfahren nach Abs. 1 Satz 1, also Statusfeststellungsverfahren, begrenzt. Bescheide auf Grund Betriebsprüfungen nach § 28p SGB IV sind aber keine Statusfeststellungsverfahren. Allein maßgebend ist ihr Verfügungssatz (Verwaltungsakt i.S. § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch), der sich in der Forderung der Beiträge und Säumniszuschläge erschöpft und - eben anders als die Statusfeststellung nach § 7a SGB IV - keine entsprechende förmliche Entscheidung zur Frage des versicherungsrechtlichen Status der eingesetzten Personen enthält. Soweit das Sozialgericht auf Grund der Regelung über die Fälligkeit des Gesamtsozialversicherungsbeitrages in § 7a Abs. 6 Satz 2 SGB IV (erst mit Unanfechtbarkeit der Statusentscheidung) keinen Anwendungsbereich des § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV für die Statusfeststellung als solche sieht (weil mangels Fälligkeit eine aufschiebende Wirkung keinen Sinn mache), verkennt es die Bedeutung der Regelung (s. hierzu Pietrek, a.a.O., Rdnr. 146): U.a. entstehen dadurch keine Leistungsansprüche des Arbeitnehmers gegen Sozialleistungsträger. Soweit es aus dem Fehlen einer Bezugnahme in § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG auf § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV kein Gegenargument erblickt, übersieht das Sozialgericht die historische Entwicklung. Während § 7a SGB IV mit Wirkung vom 01.01.1999 durch das Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit vom 20.12.1999 (BGBl. I, S. 2) eingeführt wurde, wurde § 86a SGG (und damit auch dessen Abs. 2 Nr. 1) durch das Sechste Gesetz zur Änderung des SGG vom 17.08.2001 (BGBl. I, S. 2144), also später, in das SGG eingefügt. Wenn der Gesetzgeber bei Einfügung des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG die in § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV enthaltene Regelung als Ausnahme zu § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG gesehen hätte, hätte nahegelegen, dies auch zum Ausdruck zu bringen. Dies widerlegt zugleich die Annahme, die vom Sozialgericht angeführte Passage aus der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 7a SGB IV (BT-Drs. 14/1855 S. 8: § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV gelte auch für Entscheidungen der übrigen Sozialversicherungsträger) bringe den tatsächlichen Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck. Denn ein im Jahre 1999 geäußerter Wille des Gesetzgebers zu § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV kann sich nicht auf eine erst im Jahre 2001 geschaffene Regelung beziehen. Damit ist die angeführte Textpassage durch die spätere Einführung des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG überholt. All dies schließt im Übrigen - mangels Lücke des Gesetzes (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG) - eine analoge Anwendung des § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV von vornherein aus.

Damit kommt es auf die von der Antragsgegnerin hervorgehobene Frage, inwieweit aus dem Umstand, dass § 7b SGB IV in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung ("Stellt ein Versicherungsträger außerhalb des Verfahrens nach § 7a fest, dass eine versicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt, tritt die Versicherungspflicht erst mit dem Tag der Bekanntgabe dieser Entscheidung ein, wenn der Beschäftigte 1. zustimmt, 2. für den Zeitraum zwischen Aufnahme der Beschäftigung und der Entscheidung eine Absicherung gegen das finanzielle Risiko von Krankheit und zur Altersvorsorge vorgenommen hat, die der Art nach den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht, und 3. er oder sein Arbeitgeber weder vorsätzlich noch grob fahrlässig von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen ist.") zum 01.01.2008 aufgehoben wurde (Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 19.12.2007, BGBl. I, S. 302), Rückschlüsse auf die vorliegende Frage gezogen werden können, nicht an.

Der einstweilige Rechtsschutz gegen Bescheide über Beitragsnachforderungen und Säumniszuschläge auf Grund Betriebsprüfungen beurteilt sich somit allein nach den § 86a Abs. 2 Nr. 1 und § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Damit hat der Senat über den ursprünglich von der Antragstellerin gestellten Antrag zu befinden.

Der Senat entscheidet auf Grund einer Abwägung des Interesses des Antragstellers am Nichtvollzug und des Interesses der Behörde an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts (vgl. z.B. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage, § 86b Rdnrn. 12 ff.). Im Rahmen seiner Entscheidung berücksichtigt der Senat auch die vom Gesetzgeber in diesem Zusammenhang getroffenen Grundentscheidungen. Zum einen gibt der Gesetzgeber mit dem bereits dargelegten Ausschluss der aufschiebenden Wirkung entgegen der Grundregel zu erkennen, dass er dem Vollziehungsinteresse grundsätzlich den Vorrang einräumt. Zum anderen ergibt sich aus § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG, dass die Aussetzung der Vollziehung in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG erfolgen soll, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Auch wenn sich diese Vorschrift an die den Verwaltungsakt erlassende Stelle wendet, kommt mit ihr eine gesetzgeberische Grundentscheidung zum Ausdruck. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts liegen vor, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als der Misserfolg (Keller, a.a.O., § 86a Rdnr. 27a m.w.N.). Eine unbillige Härte liegt vor, wenn dem Betroffenen durch die Vollziehung Nachteile entstehen, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und nicht oder nur schwer wiedergutgemacht werden können (Keller, a.a.O., Rdnr. 27b m.w.N.).

Der Senat hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides. Denn mit diesem Bescheid nimmt die Antragsgegnerin die GbR für den Zeitraum vom 01.01.2015 bis 30.11.2017 mit einer Forderung in Höhe von 554.232,37 EUR (Beiträge und Säumniszuschläge) in Anspruch. Tatsächlich aber existiert diese GbR nach den von der Antragsgegnerin selbst vorgelegten Unterlagen (Schlussbericht des Hauptzollamtes Lörrach vom 14.06.2018, Gliederungspunkt I.) erst seit dem 01.05.2017. Eine rechtliche Grundlage für eine Haftung der GbR für die Zeit vor dem 01.05.2017 ist dem Senat nicht ersichtlich.

Rechtliche Bedenken hat der Senat auch in Bezug auf die Forderung von Beiträgen und Säumniszuschlägen für eine "unbekannte Anzahl von Arbeitnehmern". Die Antragsgegnerin geht ausweislich der Ausführungen im Bescheid davon aus, dass über die bekannten eingesetzten Personen hinaus solche Arbeitnehmer "aufgrund des objektiv notwendigen Arbeitsanfalls vor Ort sein mussten". Sie schließt dies augenscheinlich aus "der Anzahl der betreuten Toilettenanlagen" und den "Öffnungszeiten". Nähere Ausführungen enthält der Bescheid u.a. zur Frage, welchen "objektiv notwendigen Arbeitsanfall" die Antragsgegnerin wie und auf Grund welcher belastbaren Tatsachen ermittelt hat und wie der Einsatz der bekannten Personen hierzu ins Verhältnis gesetzt worden ist, nicht, sodass der Senat in diesen Ausführungen reine Spekulationen sieht. Auf Spekulationen aber kann ein Beitragsbescheid nicht gestützt werden.

Die gilt indessen nicht für die ab 01.05.2017 namentlich bekannten eingesetzten und in den Anlagen zum Bescheid aufgeführten Personen. Soweit die Antragstellerin insoweit einwendet, es handle sich teilweise um Gesellschafter einer bulgarischen GmbH, hat sie diese Behauptung nicht substanziiert. Auch ist nicht erkennbar, dass Subunternehmerverträge mit solchen Gesellschaften geschlossen wurden. Soweit die Antragstellerin einwendet, teilweise hätten die eingesetzten Personen ein Gewerbe betrieben, gilt Gleiches, wobei die Antragsgegnerin in der Begründung des Bescheides zutreffend darauf hinweist, dass die Anmeldung eines Gewerbes für die Frage, ob ein konkreter Einsatz als selbstständige Tätigkeit oder als Beschäftigung anzusehen ist, nichts aussagt. In Bezug auf die namentlich aufgeführten Personen und die für die Zeit vom 01.05. bis 30.11.2017 erhobenen Forderungen bestehen somit keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides, auch wenn die Antragsgegnerin - unter Heranziehung gerade der Antragstellerin - noch zu klären haben wird, welche vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Antragstellerin und den eingesetzten Personen wann getroffen wurden, insbesondere welche schriftlichen Vereinbarungen bestanden oder nicht und - falls nein - wie dann der wesentliche Inhalt der Tätigkeit (Art, Beginn der Tätigkeit als solche, täglicher Beginn und Ende der Arbeit, Vergütung u.s.w.) vereinbart wurde. Hinweise für eine unbillige Härte in Bezug auf diesen Teil der Forderung sind nicht erkennbar. Insoweit ist der Antrag daher abzulehnen.

Es steht der Antragsgegnerin frei, eine Berechnung der vollziehbaren Forderungen (Nachforderungen vom 01.05.2017 bis 30.11.2017 in Bezug auf die in den Anlagen zum Bescheid namentlich genannten Personen nebst Säumniszuschlägen) vorzunehmen, also einen Ausführungsbescheid zu dieser Anordnung zu erlassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2, § 155 Abs. 1 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung. Zwar unterliegt die Antragstellerin mit ihrem Begehren teilweise. Da sie aber weit überwiegend - geschätzt zu weit mehr als 90% - obsiegt, sieht der Senat von einer Quotelung bei der Kostenentscheidung ab.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 1 bis 3, 47 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG), hinsichtlich der Festsetzung für das erstinstanzliche Verfahren auf § 63 Abs. 3 GKG (vgl. BSG, Urteil vom 05.10.2006, B 10 LW 5/05 R), wobei der Senat in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ein Viertel der streitigen Forderung festsetzt.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG; § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Rechtskraft
Aus
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