L 11 KR 2795/19 B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 12 KR 239/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 2795/19 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Eine durch betrügerische Handlungen einer Pflegekraft verursachte oder ermöglichte Zweckverfehlung eines dem Versicherten bewilligten Persönlichen Budgets (hier: für Leistungen der häuslichen Krankenpflege) kann einen Schadensersatzanspruch der Krankenkasse (§ 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB) gegen die Pflegekraft begründen. Für die Geltendmachung eines solchen Schadensersatzanspruchs ist der Rechtsweg zu den ozialgerichten gegeben. Dem steht nicht entgegen, dass die Anbieter von Leistungen der häuslichen Krankenpflege bei einer Bewilligung dieser Leistung in Form eines Persönlichen Budgets systembedingt keine Verträge mit den Krankenkassen abschließen.
Die Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 01.08.2019 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Der Beklagte wendet sich mit seiner Beschwerde gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Ulm (SG), mit dem das SG einen Antrag des Beklagten auf Aufhebung eines vom SG erlassenen Aussetzungsbeschlusses abgelehnt hat.

Die Klägerin ist eine gesetzliche Krankenkasse. Der 1991 geborene M. E. (Berechtigter) ist bei Klägerin krankenversichert (Familienversicherung). Der Berechtigte leidet an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. Er ist pflegebedürftig und hatte auch in den Jahren 2010 bis 2013 aufgrund seiner Erkrankung einen Anspruch gegen die Klägerin auf Leistungen zur häuslichen Krankenpflege (§ 37 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V). Auf der Grundlage von § 4 Verordnung zur Durchführung des § 17 Abs 2 bis 4 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - SGB IX - (Budgetverordnung – BudgetV) vom 27.05.2004 (BGBl I S 1055) schloss die Klägerin mit dem Berechtigten ua die Zielvereinbarungen für die Bewilligung eines Persönlichen Budgets (PB) vom 15.04.2010 und vom 06.05./19.05.2011. Darin wurde als Leistungsziel vereinbart, dass mit dem PB die Behandlungspflege der häuslichen Krankenpflege durch den Versicherten eigenverantwortlich "mit entsprechenden Pflegekräften" sichergestellt wird (Nr 2.1. der Zielvereinbarungen). Unter Nr 4 wurde ua folgende Vereinbarung getroffen: "Für die Ermittlung der Budgethöhe legt der Budgetnehmer Nachweise über die Höhe der zu erwartenden Kosten vor (zB Honorarverträge, Arbeitsverträge mit den geplanten Pflegekräften)." Unter Nr 6 wurden Vereinbarungen zur Budgetanpassung getroffen. Die Zielvereinbarung vom 15.04.2010 wurde für den Zeitraum vom 01.05.2010 bis zum 30.04.2011 und die Zielvereinbarung vom 06.05./19.05.2011 für den Zeitraum vom 01.05.2011 bis 30.04.2012 geschlossen. Die Zielvereinbarungen wurden für die Jahre 2012 und 2013 verlängert. Die Klägerin bewilligte dem Leistungsberechtigten nach Abschluss der Zielvereinbarungen ab dem 01.06.2010 jeweils ein PB auf der Grundlage von § 17 SGB IX idF von Art 8 Verwaltungsvereinfachungsgesetz vom 21.03.2005, BGBl I 818 (SGB IX aF) in Höhe von monatlich 19.400 EUR.

Der Beklagte wurde von den Eltern des Versicherten (zumindest auch) in der Zeit von September 2012 bis April 2013 mit der Pflege des Berechtigten beauftragt. Die vom Beklagten ausgestellten Rechnungen dienten als Nachweis für die zweckentsprechende Verwendung der als PB ausgezahlten Geldbeträge.

Am 20.01.2012 ging bei der Klägerin ein Hinweis ein, wonach die häusliche Krankenpflege für den Berechtigten zum Großteil durch dessen Eltern und nicht durch Pflegekräfte durchgeführt werde und die Pflegekräfte zum Schein mehr Stunden in Rechnung stellten als sie tatsächlich erbracht hätten. Die Klägerin erstattete unter dem 10.02.2012 Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg (107 Js 1797/12).

Am 29.12.2015 hat die Klägerin beim Sozialgericht Würzburg gegen den Vater des Berechtigten sowie sieben Pflegekräfte, darunter den Beklagten, Klage erhoben. Mit der Klage begehrt die Klägerin vom Beklagten die Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 44.631 EUR wegen gemeinschaftlich begangener betrügerischer Abrechnung von tatsächlich nicht erbrachten Pflegestunden im Rahmen des dem Berechtigten bewilligten PB. Das Sozialgericht Würzburg hat zunächst mit Beschluss vom 31.03.2016 das Verfahren bis zur Erledigung des Strafverfahrens, das unter dem Aktenzeichen 107 Js 1797/12 als Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg anhängig war, ausgesetzt. Später hat es das Verfahren zur Klärung der örtlichen Zuständigkeit fortgesetzt, das Klageverfahren getrennt (Beschluss vom 26.04.2016) und schließlich mit Beschluss vom 03.05.2016 das gegen den Beklagten anhängige Klageverfahren an das Sozialgericht Ulm (SG) verwiesen. Dort ist die Klage (S 15 KR 1715/16) am 01.06.2016 eingegangen. Mit Beschluss vom 28.03.2018 hat das SG das Verfahren wie zuvor schon das Sozialgericht Würzburg bis zur Erledigung des Strafverfahrens, das unter dem Aktenzeichen 107 Js 1797/12 als Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg anhängig war, ausgesetzt und nach sechs Monaten gemäß der Aktenordnung erledigt.

Die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg hat mit Anklageschrift vom 11.05.2018 (Az.: 107 Js 1797/12) gegen den Vater des Berechtigten und die Inhaberin eines Pflegedienstes wegen gewerbsmäßigen Abrechnungsbetrugs Anklage zur Strafkammer des Landgerichts Aschaffenburg erhoben. Hinsichtlich der Pflegekräfte ist das Ermittlungsverfahren abgetrennt worden; das Verfahren gegen den Beklagten wird unter dem Az.: 107 Js 5111/1/18 geführt. Das Amtsgericht Obernburg hat gegen den Beklagten des vorliegenden Rechtsstreits einen Strafbefehl wegen Beihilfe zum Betrug erlassen (107 Js 5111/1/18). Dagegen hat der Beklagte Einspruch eingelegt; dieses Strafverfahren ist noch nicht abgeschlossen. In dem Strafbefehl wird dem Beklagten vorgeworfen, vor Beginn der beim Berechtigten erbrachten Pflegeleistungen mit dessen Eltern vereinbart zu haben, dass diese ihren Sohn zu nicht unerheblichen Zeiten selbst pflegen, der Beklagte jedoch die von den Eltern geleisteten Pflegestunden abrechnet und in Rechnungen, die an den Berechtigten adressiert sind, als eigene Pflegeleistungen geltend macht.

Den Antrag des Beklagten vom 25.10.2018 auf Wiederaufnahme des Klageverfahrens hat das SG mit Beschluss vom 30.11.2018 abgelehnt (S 12 KR 3227/18).

Am 12.12.2018 hat der Beklagte erneut die Fortführung des ausgesetzten Verfahrens beantragt. Auch diesen Antrag hat das SG schließlich abgelehnt, und zwar mit Beschluss vom 01.08.2019, dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten zugestellt mittels Empfangsbekenntnis am 07.08.2019. In den Gründen hat das SG ua ausgeführt, nach § 114 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) könne das Gericht, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen. Die Vorschrift sei entsprechend anzuwenden, wenn ein Ermittlungsverfahren bereits vor Klageerhebung anhängig sei. Die Entscheidung nach § 114 Abs 3 SGG und damit auch die Entscheidung über die Aufhebung stehe im Ermessen des Gerichts, das ua die zu erwartende Arbeitserleichterung, die besondere Fachkunde des anderen Gerichts, die Vermeidung von Doppelarbeit oder von sich widersprechenden Entscheidungen einerseits und Verzögerungen im sozialgerichtlichen Verfahren andererseits gegeneinander abzuwägen habe. Dabei sei auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen. Zudem hätten sich die Gerichte bei zunehmender Verfahrensdauer um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen. Eine Verzögerung des vorgreiflichen Rechtsstreits sei ebenfalls ein Gesichtspunkt, der in die Ermessenserwägung einzustellen sei.

Ausgehend von diesen Grundsätzen sei nach billigem Ermessen eine Aussetzung des Verfahrens weiterhin gerechtfertigt. Das Gericht berücksichtige hierbei, dass das vorliegende Verfahren im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung seit 4 Jahren anhängig sei. Auch habe die Kammer hierbei berücksichtigt, dass das Ermittlungsverfahren bereits seit 2012 andauere und dies erst am 11.05.2018 in einer Anklage gegen den Vater des Leistungsberechtigten bzw in einem Strafbefehl gegen den hiesigen Beklagten gemündet habe. Demgegenüber sei der Anklageschrift vom 11.05.2018 im Verfahren 107 Js 1797/12 zu entnehmen, dass es sich bei dem dort angeklagten Sachverhalt auch um Pflegestunden handele, die in Zusammenwirken mit dem hiesigen Beklagten mutmaßlich unzutreffend abgerechnet worden seien (Seite 12 der Anklageschrift). In dem Verfahren werde damit - entgegen dem Vortrag des Beklagten - auch eine Beweiserhebung im Hinblick auf die Vereinbarungen bezüglich der Abrechnung von Pflegestunden, die durch den hiesigen Beklagten mutmaßlich erbracht worden seien, erfolgen. Die dort gewonnenen Ergebnisse könnten im vorliegenden Verfahren eingeführt und berücksichtigt werden, ohne dass eine erneute aufwändige Beweiserhebung erforderlich wäre, so dass die weitere Aussetzung auch der Vermeidung von Doppelarbeit diene. Zudem würden hierdurch die besondere Sachkunde und die weitergehenden Ermittlungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft für das SG nutzbar gemacht. Dieses Verfahren sei ab dem 12.09.2019 beim Landgericht Aschaffenburg terminiert, so dass nicht mit einer weiteren erheblichen Verzögerung zu rechnen sei. Zudem habe die Kammer berücksichtigt, dass die Weiterführung des vorliegenden Verfahrens die Gefahr widersprechender Entscheidungen im hiesigen Verfahren einerseits und dem Strafverfahren bzw dem ausgesetzten Verfahren beim Sozialgericht Würzburg andererseits in sich bergen würde.

Gegen den Beschluss vom 01.08.2019 hat der Beklagte am 12.08.2019 Beschwerde beim SG eingelegt. Das SG hat die Beschwerde dem Senat vorgelegt, wo sie am 19.08.2019 eingegangen ist.

Zur Begründung der Beschwerde trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, das SG berufe sich in seiner Entscheidung zu Unrecht auf die Anklageschrift vom 11.05.2018 im Verfahren 107 Js 1797/12. Dieses Verfahren betreffe nicht den Beklagten, sondern den Vater des Berechtigten. Wie das SG daher zu der "Erkenntnis" gelangt sei, es werde "auch eine Beweiserhebung im Hinblick auf die Vereinbarungen bezüglich der Abrechnung von Pflegestunden, die durch den hiesigen Beklagten mutmaßlich erbracht wurden, erfolgen", erschließe sich nicht. Denn derartige Vereinbarungen seien für den Tatnachweis hinsichtlich der angeklagten Taten offensichtlich unerheblich und würden daher wohl kaum Gegenstand einer Beweisaufnahme sein. Dass gegen den Beklagten - in einem anderen Strafverfahren - ein Strafbefehl erlassen worden sei, gegen den der Beklagte Einspruch eingelegt habe, rechtfertige es jedenfalls nicht, das sozialgerichtliche Verfahren wegen des beim Landgericht Aschaffenburg unter dem Aktenzeichen KLs 107 Js 1797/12 anhängigen Strafverfahrens auszusetzen.

Der Beklagte beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 01.08.2019 aufzuheben und das Sozialgericht Ulm anzuweisen, das mit Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 28.03.2018 ausgesetzte, inzwischen unter dem Aktenzeichen S 12 KR 239/19 beim Sozialgericht Ulm anhängige Klageverfahren fortzusetzen.

Die Klägerin beantragt,

die Beschwerde des Beklagten zurückzuweisen.

Die Klägerin hält eine Aussetzung des Klageverfahrens für gerechtfertigt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

II.

Die Beschwerde des Beklagten ist zulässig.

Gegen die Entscheidung des Sozialgerichts, mit der der Antrag eines Prozessbeteiligten auf Weiterbetreibung eines ausgesetzten Verfahrens abgelehnt wurde, findet die Beschwerde an das Landessozialgericht statt (§ 172 Abs 1 SGG). Die Beschwerde ist nicht nach § 172 Abs 3 SGG ausgeschlossen, und es handelt sich bei einer Aussetzungsentscheidung auch nicht um eine prozessleitende Verfügung iSd § 172 Abs 2 SGG. Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt worden.

Die Beschwerde des Beklagten ist nicht begründet.

1. Der Rechtsweg für den von der Klägerin geltend gemachten Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist gegeben, obwohl zwischen der Klägerin und dem Beklagten im konkreten Fall keine vertraglichen Beziehungen bestehen.

Beim PB handelt es sich nicht um eine neue Leistungsart, sondern um eine alternative Leistungsform. Ziel des PB ist es, dem Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen (§ 17 Abs 2 Satz 1 SGB IX aF; seit 01.01.2018 § 29 Abs 1 Satz 1 SGB IX). Der Leistungsberechtigte erhält im Rahmen des PB einen Geldbetrag, mit dem er die erforderlichen Leistungen selbstbestimmt "einkaufen" kann. Das hat zur Folge, dass - im Gegensatz zum Sachleistungssystem - keine unmittelbaren Rechtsbeziehungen zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer entstehen (LSG Baden-Württemberg 08.11.2018, L 7 SO 1419/15 mwN). Die vertraglichen Beziehungen zwischen dem Leistungsberechtigten und den Pflegekräften (Leistungserbringern) sind entweder als Dienstvertrag (§ 611 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB) oder als Arbeitsvertrag (§ 611a BGB) zu qualifizieren (vgl LSG Baden-Württemberg 18.05.2018, L 4 KR 3961/15). Der im Rahmen des PB auszuzahlende Geldbetrag bestimmt sich gemäß § 17 Abs 3 Satz 3 SGB IX aF nach dem individuell festgestellten Bedarf; dabei soll gemäß § 17 Abs 3 Satz 4 SGB IX aF die Höhe des PB die Kosten aller bisher individuell festgestellten, ohne das PB zu erbringenden Leistungen nicht überschreiten. Voraussetzung für die Bewilligung eines PB ist der Abschluss einer Zielvereinbarung nach § 4 BudgetV (BSG 31.01.2012, B 2 U 1/11 R, BSGE 110, 83). Bei der Zielvereinbarung handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag iSd §§ 53 ff SGB X (LSG Nordrhein-Westfalen 22.06.2017, L 9 SO 474/12).

Die Klägerin leitet ihren Schadensersatzanspruch aus dem der Bewilligung des jeweiligen PB vorausgehenden Bedarfsfeststellungsverfahren ab, wobei sie sich in erster Linie auf einen Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung (§ 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB) stützen könnte. Die dem Beklagten vorgeworfene (und noch nicht nachgewiesene) unerlaubte Handlung wäre im Rahmen der Versorgung des Leistungsberechtigten mit häuslicher Krankenpflege und deren Abrechnung erfolgt. Dem Beklagten wird dabei zur Last gelegt, dass er gewusst habe, dass durch die Vorlage unzutreffender Rechnungen und durch Vorlage manipulierter Dienstpläne gegenüber der Klägerin habe vorgetäuscht werden sollen, dass der Berechtigte ausschließlich und dauerhaft durch den Beklagten und die anderen beauftragten Pflegekräfte gepflegt werde. Dass die Anbieter von Leistungen der häuslichen Krankenpflege bei einer Bewilligung dieser Leistung in Form eines PB systembedingt keine Verträge mit den Krankenkassen abschließen, steht der Einordnung des Schadensersatzanspruchs als Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung iSv § 51 Abs 1 Nr 2 Abs 2 SGG nicht entgegen.

Die gesetzliche Ausgestaltung der Versorgung der Versicherten bei der Bewilligung eines PB nach dem Kostenerstattungsprinzip statt dem sonst üblichen Sachleistungsprinzip und dem dadurch bedingten Fehlen unmittelbarer Vertragsbeziehungen zwischen den Leistungserbringern und den Krankenkasse schließt zwar Erstattungs- und Schadensersatzansprüche wegen Verletzung vertraglicher Pflichten aus, hindert aber nicht an der Prüfung, ob hier Ansprüche aus Pflichtverletzungen im Rahmen "geschäftsähnlicher Kontakte" aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Sonderverbindung zwischen den Leistungserbringern und der Klägerin analog § 311 Abs 2 Nr 3 und § 241 Abs 2 BGB in Betracht kommen könnten. Auch ein solcher Anspruch beträfe eine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung. Auf die Einordnung der denkbaren Ansprüche als eher zivilrechtlich oder eher öffentlich-rechtlich geprägt kommt es nicht an, weil das Gesetz in § 51 Abs 1 Nr 2 und Abs 2 SGG beide Arten von Anspruchsgrundlagen den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zuweist, solange es sich jedenfalls um eine "Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung" handelt (vgl zum Ganzen BSG 21.07.2016, B 3 SF 1/16 R, SozR 4-1500 § 51 Nr 16).

2. Rechtsgrundlage für die Entscheidung des SG ist § 114 Abs 3 SGG. Danach kann das Gericht, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen. Die Vorschrift ist auch maßgebend, wenn es nicht um eine Aussetzung, sondern um die Ablehnung der Fortführung eines bereits ausgesetzten Verfahrens geht.

Einer Aussetzung bzw der Ablehnung eines Antrags auf Fortführung des Verfahrens steht der Wortlaut der Norm, wonach das Gericht aussetzen kann, wenn sich "im Laufe eines Rechtsstreits" der Verdacht einer Straftat ergibt, nicht entgegen. Denn die Norm richtet sich an das Sozialgericht und ermächtigt es, nach eigenständiger Prüfung das Verfahren unter den näher beschriebenen Voraussetzungen auszusetzen. Die Wendung "im Laufe des Rechtsstreits" ist im Kontext mit dem Adressaten der Norm daher so zu verstehen, dass es auf den - naturgemäß erst nach Beginn des sozialgerichtlichen Verfahrens - entstehenden Verdacht des mit der Sache befassten Sozialgerichts ankommt. Dies entspricht auch Sinn und Zweck des Gesetzes. Denn der Normzweck besteht darin, es dem Sozialgericht zu ermöglichen, die Ermittlungen und den Ausgang eines Strafverfahrens abzuwarten, um abweichende Entscheidungen und nicht prozessökonomische Mehrarbeit zu vermeiden. Diese Gesichtspunkte greifen aber unabhängig davon Platz, ob der Verdacht einer Straftat vor oder erst nach Beginn eines Sozialgerichtsrechtsstreits entsteht (BGH 24.04.2018, VI ZB 52/16 zu § 149 Abs 1 Zivilprozessordnung - ZPO).

Der Verdacht einer Straftat kann einen Beteiligten, Zeugen oder Sachverständigen betreffen. Das SG muss nach Abwägung aller Umstände davon überzeugt sein, dass strafprozessual erhebliche Verdachtsgründe vorliegen. Die bloße Verdächtigung durch einen Beteiligten des Rechtsstreits genügt nicht (vgl BSG 03.12.1996, SozR 3-1750 § 328 Nr 1). Der Verdacht einer Straftat des Beklagten ist bereits durch die von der Staatsanwaltschaft durchgeführten Ermittlungen belegt. Das SG wird allerdings zu erwägen haben, ob es das Klageverfahren weiterbetreibt, wenn zwar das Strafverfahren gegen den Vater des Leistungsberechtigten noch nicht abgeschlossen ist, wohl aber dasjenige gegen den Beklagten. Denn der Vater des Leistungsberechtigten ist - worauf der Beklagte zutreffend hinweist - nicht Beteiligter des Klageverfahrens. Die Trennung des ursprünglich gegen mehrere Verdächtige (darunter auch den Beklagten) geführten Ermittlungsverfahrens begründet allein noch keine Verpflichtung, das Klageverfahren fortzuführen, wenn und solange das Strafverfahren gegen den Beklagten noch nicht abgeschlossen ist.

Voraussetzung für eine Aussetzung ist, dass die Ermittlungen im Strafverfahren auf die Entscheidung des SG Einfluss haben können. Auch dies ist hier der Fall. Das PB bezweckt, dem Berechtigten Leistungen zu gewähren, um seinen individuell festgestellten Bedarf zu decken. Es gibt dem zuständigen Träger ein rechtliches Instrument für die Versorgung des Berechtigten mit von ihm selbst zu beschaffenden Sach- und Dienstleistungen an die Hand, um diesem eine möglichst selbstbestimmte, effektive, bedarfsgerechtere Organisation der benötigten Leistungen (hier: häusliche Krankenpflege) zu ermöglichen. Die Dispositionsmöglichkeiten des Berechtigten bestehen aber nur im Rahmen der Deckung des Individualbedarfs. Das PB unterliegt insoweit einer strikten Zweckbindung. Ist es ausgeschlossen, dass gezahlte Geldleistungen noch für die Deckung eines festgestellten Bedarfs verwendet werden können, gibt das PB keinen Rechtsgrund zum Behaltendürfen dieses Geldes (BSG 08.03.2016, B 1 KR 19/15 R, BSGE 121, 32 = SozR 4-3250 § 17 Nr 4 zur unzulässigen Bewilligung eines PB für einen vollständig in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Zeitraum). Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass auch eine durch (hier noch nicht nachgewiesene) betrügerische Handlungen einer Pflegekraft verursachte bzw ermöglichte Zweckverfehlung des PB einen Anspruch auf Schadensersatz der Krankenkasse begründen kann, selbst wenn der Bedarf des Berechtigten in dem vom PB zugrunde gelegten Umfang bestanden hätte.

Der Umstand, dass dem geltend gemachten Schadensersatzanspruch und dem Strafverfahren 107 Js 5111/18 derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liegt, steht einer Aussetzung nicht entgegen. Im Gegenteil. Das Gesetz geht davon aus, dass die Ermittlungen im Strafverfahren auf die Entscheidung des Sozialrechtsstreits von Einfluss sein können. Der Gesetzgeber hat mit den Vorschriften des §§ 411a ZPO, die im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden sind (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG), bewusst weitere Verzahnungen zwischen den Verfahren geschaffen. Gerade mit dem 2006 ergänzten § 411a ZPO sollen Ergebnisse des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens in Form von Sachverständigengutachten im Sozialgerichtsverfahren verwertet werden können (vgl BT-Drs 16/3038, S. 38). Daher ist bei Sachverhaltsidentität eine Aussetzung nicht unzulässig, sondern regelmäßig geboten (BGH 24.04.2018, VI ZB 52/16). Deshalb kann offenbleiben, ob bei einer Beschwerde gegen einen Aussetzungsbeschluss nach § 114 Abs 3 SGG das Beschwerdegericht überhaupt zur Prüfung der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Sozialgerichts hinsichtlich der Frage befugt ist, ob die Ermittlungen im Strafverfahren auf die Entscheidung des Sozialgerichts Einfluss haben können (vgl LSG Baden-Württemberg 23.05.2014, L 4 KR 553/14 B).

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen für eine (weitere) Aussetzung des Klageverfahrens vor, steht die Aussetzung ebenso wie die Ablehnung einer Fortführung des Klageverfahrens im Ermessen des SG. Das SG hat von dem ihm zustehenden Ermessen sachgerecht Gebrauch gemacht.

3. Eine Kostenentscheidung hat nicht zu ergehen, da das Beschwerdeverfahren gegen einen Aussetzungsbeschluss kein eigenes Verfahren und auch kein eigener Verfahrensabschnitt, sondern nur ein Zwischenstreit im noch anhängigen Rechtsstreit ist.

4. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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