L 10 R 1323/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 4400/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 1323/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Das Begehren, einen Antrag auf Befreiung von der in der geringfügigen Beschäftigung eintretenden Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zurücknehmen zu dürfen, ist als Antrag auf Rücknahme der als erteilt geltenden Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auszulegen.
2. Rechtsgrundlage für dieses Begehren sind die §§ 44 ff. SGB X, deren Voraussetzungen regelmäßig zu verneinen sind.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 15.03.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin möchte ihre antragsgemäße Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung in ihrer geringfügigen Beschäftigung rückgängig machen.

Die am.1961 geborene Klägerin ist seit dem 01.01.2018 bei einem Sport- und Gesundheitscenter als Aushilfe geringfügig (Bruttolohn anfangs monatlich 366,75 EUR, Bl. 37 LSG-Akte, zwischenzeitlich nach den Angaben der Klägerin 230,00 EUR) beschäftigt. Am 11.12.2017 beantragte sie für diese Beschäftigung die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und - so die weitere Erklärung - sie verzichtete auf den Erwerb von Pflichtbeitragszeiten. Die Hinweise im Merkblatt (zur Feststellung dessen Inhalts wird auf die Feststellungen im angefochtenen Gerichtsbescheid Bezug genommen) habe sie zur Kenntnis genommen und ihr sei bekannt, dass der Befreiungsantrag für die Dauer der Beschäftigung bindend und eine Rücknahme nicht möglich sei. Hinsichtlich der Einzelheiten des Antrages wird auf Bl. 4 SG-Akte Bezug genommen. Am 09.02.2018 meldete der Arbeitgeber bei der Beklagten (Eingang dort am 10.02.2018, Bl. 10 VA) den Beginn der geringfügigen Beschäftigung und dass die Klägerin einen Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung stellte (vgl. Bl. 33 SG-Akte).

Im Mai 2018 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, den Antrag zurücknehmen zu dürfen. Es sei ein Fehler gewesen, diesen Antrag zu stellen. Sie sei zuletzt 1998 in Vollzeit beschäftigt gewesen und sie brauche die Beiträge. Mit Bescheid vom 06.06.2018 und Widerspruchsbescheid vom 13.09.2018 lehnte die Beklagte das Begehren ab, weil der Antrag nicht zurückgenommen oder widerrufen werden könne. Dies sei für die Dauer der Beschäftigung ausgeschlossen.

Das hiergegen am 04.10.2018 mit der Begründung, es sei ja eigentlich nur ein einfacher Verwaltungsakt notwendig und die Alternativen dazu seien aufwändiger, angerufene Sozialgericht Freiburg hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.03.2019 abgewiesen und u.a. die Regelung des § 6 Abs. 1b Satz 4 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) zitiert, wonach - worauf schon die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden hingewiesen hatte - der Antrag für die Dauer der Beschäftigung bindend ist. Eine Rücknahme oder ein Widerruf des Antrages sei daher nicht möglich, ebenso wenig eine Anfechtung. Dass die Klägerin die Stellung des Antrages als Fehler bewerte, weil ihr noch Beitragszeiten für einen Rentenanspruch fehlten, sei ein unbeachtlicher Motivirrtum.

Gegen den ihr am 20.03.3019 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 17.04.2019 Berufung eingelegt. Sie hält die Rechtslage für unzureichend und meint, sie sei einem beachtlichen Motivirrtum unterlegen.

Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 15.03.2019 sowie den Bescheid vom 06.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die als erteilt geltende Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für rechtmäßig.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 06.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2018, mit dem die Beklagte das Begehren der Klägerin, für ihre geringfügige Beschäftigung Pflichtbeiträge zu erhalten und daher den Befreiungsantrag zurücknehmen zu dürfen, ablehnte. Dieses laienhaft formulierte Begehren ist vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelungen über diese Befreiung sachdienlich auszulegen. Nur so erschließt sich das eigentliche rechtliche Begehren.

In der gesetzlichen Rentenversicherung sind seit Inkrafttreten des Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigungen vom 05.12.2012 (BGBl. I, S. 2474) mit Wirkung ab dem 01.01.2013 (Art. 11 dieses Gesetzes) Personen, die eine geringfügige Beschäftigung nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IV; Entgeltgeringfügigkeit), wie es bei der hier in Rede stehenden Tätigkeit der Klägerin der Fall war, ausüben, anders als zuvor (§ 5 Abs. 2 SGB VI in der bis zum 31.12.2012 geltenden Fassung) nicht mehr versicherungsfrei, sondern grundsätzlich versicherungspflichtig (BT-Drs. 17/10773, S. 9). Sie werden auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit (§ 6 Abs. 1b Satz 1 SGB VI).

Über die Befreiung entscheidet nach § 6 Abs. 3 SGB VI der Träger der Rentenversicherung (Satz 1). In den Fällen des Absatzes 1b - also bei Entgeltgeringfügigkeit - gilt die Befreiung als erteilt, wenn die nach § 28i Satz 5 SGB IV zuständige Einzugsstelle - dies ist die Beklagte - nicht innerhalb eines Monats nach Eingang der Meldung des Arbeitgebers nach § 28a SGB IV dem Befreiungsantrag des Beschäftigten widerspricht (Satz 2). Nach Satz 3 der Regelung gelten die Vorschriften des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) über die Bestandskraft von Verwaltungsakten und über das Rechtsbehelfsverfahren entsprechend.

Nach erfolgter Meldung der geringfügigen Beschäftigung und des von der Klägerin gestellten Befreiungsantrages durch den Arbeitgeber mit Eingangsdatum 10.02.2018 bei der Beklagten gilt somit - da die Beklagte dem Befreiungsantrag nicht widersprach - die Befreiung als erteilt. Diese Fiktion eines Befreiungsbescheides (BT-Drs. 17/10773, S. 13) steht - wie sich aus dem ausdrücklichen Verweis auf die Regelungen über die Bestandskraft ergibt - einem bekannt gegebenen Verwaltungsakt, wie ihn § 6 Abs. 3 Satz 1 SGB VI für die sonstigen Fälle eines Befreiungsantrages vorsieht, gleich. Vor diesem Hintergrund zielt das eigentliche rechtliche und damit auch das prozessuale Begehren der Klägerin darauf, diese Bestandskraft einer fiktiven Befreiung von der Versicherungspflicht zu durchbrechen und die Beklagte zu verpflichten, einen entsprechenden Bescheid über die Aufhebung der Befreiungsfiktion zu erteilen. Dass die Beklagte bei Erlass der angefochtenen Bescheide diese Überlegungen nicht erkennbar anstellte, ist unschädlich. Denn sie lehnte das von der Klägerin formulierte und durch Auslegung (s.o.) hinreichend konkretisierbare Verlangen umfassend ab. Damit kann die Klägerin ihr Anliegen zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage verfolgen.

Diese Klage ist indessen unbegründet, weil die Voraussetzungen keiner der Vorschriften, die eine Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsakten zulassen, erfüllt sind, sodass das Sozialgericht sie zu Recht abgewiesen hat. Die Berufung ist somit unbegründet und daher zurückzuweisen.

Auch ein fiktiver Verwaltungsakt - und für die in Rede stehende fiktive Befreiung ergibt sich dies unmittelbar aus der Verweisung des § 6 Abs. 3 Satz 3 SGB VI auf die Vorschriften des SGB X über die Bestandskraft (§§ 39 ff. SGB X, vgl. die Überschrift diese Titels "Bestandskraft des Verwaltungsaktes") - bleibt gemäß § 39 Abs. 2 SGB wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (§ 6 Abs. 3 Satz 3 SGB VI; allgemein u.a. BSG, Urteil vom 26.02.2019, B 1 KR 18/18 R, in juris). Da die Klägerin noch immer in derselben Beschäftigung steht, die sie zum 01.01.2018 aufnahm, kommt eine Erledigung der fiktiven Befreiung - die nur für die konkrete Beschäftigung gilt - nur über eine entsprechende Regelung der Beklagten (Verwaltungsakt i.S. § 31 SGB X) in Betracht. Solche Rechtsgrundlagen für die Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsakten enthalten die §§ 44 ff. SGB X. Deren Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.

Dabei kommen die §§ 45 und 44 SGB X im Falle rechtswidriger Verwaltungsakte zur Anwendung und unterscheiden danach, ob der Verwaltungsakt für den Adressaten begünstigende oder nicht begünstigende Wirkung hat, während § 48 SGB X die Aufhebung von Bescheiden mit Dauerwirkung bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse regelt. Schließlich erlaubt § 46 SGB X den Widerruf eines rechtmäßigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes, außer er müsste erneut erlassen werden, und § 47 Abs. 1 SGB X enthält unter bestimmten Voraussetzungen eine entsprechende Widerrufsmöglichkeit für rechtmäßige begünstigende Verwaltungsakte.

Der antragsgemäße Erlass eines Verwaltungsaktes - hier die antragsgemäße Befreiung von der Versicherungspflicht in Form einer Fiktion - stellt einen begünstigenden Verwaltungsakt dar, wie der Senat unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG, Urteil vom 22.03.1984, 11 RA 22/83, in juris, Rdnr. 14 und BSG, Urteil vom 28.09.1999, B 2 U 32/98 R, in juris, Rdnr. 28) bereits entschieden hat (Urteil vom 21.02.2019, L 10 BA 1824/18, in juris). Ein späterer Sinneswandel des Antragstellers ist unerheblich, weil der Fortbestand eines Verwaltungsaktes nicht von der sich ggf. wandelnden Einschätzung des Bürgers abhängig sein soll (BSG, Urteil vom 22.03.1984, a.a.O., Rdnr. 15). Dem entsprechend scheiden die Regelungen der §§ 44 und 46 SGB X von vornherein aus. Darüber hinaus steht fest (s. nachfolgend), dass die fiktive Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 3 Satz 2 SGB VI rechtmäßig ist (was auch § 45 SGB X und zusätzlich wiederum § 44 SGB X ausschließt), keine Änderung seit Eintritt der Fiktion eingetreten ist (was § 48 SGB X voraussetzen würde) und diese Fiktion bei gleichgebliebenen Verhältnissen erneut einträte (was wiederum § 46 SGB X zusätzlich ausschließt). Die in § 47 Abs. 1 SGB X aufgestellte Kriterien (besondere Zulassung eines Widerrufs oder dessen Vorbehalt im Verwaltungsakt bzw. Nichterfüllung einer Auflage) liegen ebenfalls nicht vor. Selbst wenn die Klägerin auf den in dieser Vorschrift enthaltenen Vertrauensschutz für sich verzichten könnte, müsste doch dem betätigten Vertrauen des Arbeitgebers der Klägerin in den Bestand der fiktiven Befreiung Rechnung getragen werden. In jedem Fall aber stünde einem voraussetzungslosen Widerruf die gesetzgeberische Grundentscheidung entgegen, wonach der Antrag bindend ist, die fiktive Genehmigung also Bestand haben soll (s. sogleich).

Anknüpfungspunkt für einen Entzug der Grundlagen für den Eintritt der Befreiungsfiktion und damit einzig möglicher Anknüpfungspunkt für § 45 oder § 48 SGB X - von den Beteiligten und dem Sozialgericht zutreffend erkannt - ist der (rückwirkende oder mit Wirkung für die Zukunft eintretende) Wegfall des von der Klägerin gestellten Befreiungsantrages. Denn dann wäre die Fiktion mangels Antrages rechtswidrig (§ 45 SGB X) bzw. würde rechtswidrig (§ 48 SGB X). Indessen ist dieser Antrag noch immer wirksam und er kann von der Klägerin auch nicht beseitigt werden.

Der von der Klägerin gestellte Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht stellt eine Willenserklärung dar und unterliegt somit den Regeln über Willenserklärungen (vgl. Gürtner in KassKomm, Sozialversicherungsrecht, § 6 SGB VI Rdnr. 28). Es bedarf keiner Erörterung, ob - wie bei sonstigen Befreiungsanträgen (vgl. Gürtner, a.a.O.) - eine Rücknahme bis zur Eintritt der Bestandskraft des begehrten Verwaltungsaktes möglich gewesen wäre. Denn die Erklärung der Klägerin, ihren Antrag zurückzunehmen, ging erst lange nach Eintritt der Fiktion (spätestens nach Ablauf eines Monats nach am 10.02.2018 erfolgtem Eingang der Meldung des Arbeitgebers bei der Beklagten) und lange nach Ablauf der Widerspruchsfrist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 SGG: ein Monat), nämlich im Mai 2018, bei der Beklagten ein. Darüber hinaus regelt - und hierauf haben die Beklagte und das Sozialgericht zutreffend hingewiesen - § 6 Abs. 1b Satz 4 SGB VI ausdrücklich, dass der Antrag für die Dauer der Beschäftigung bindend ist. Er kann somit weder für die Zukunft und schon gar nicht für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Soweit die Klägerin diese Rechtslage für unzureichend hält, ist dies ohne Bedeutung. Gesetzliche Regelungen gelten für alle ihnen Unterworfenen gleichermaßen und damit auch für die Klägerin. Sie sind von den Behörden und den Gerichten zu beachten und ihre Anwendung unterliegt nicht dem Gutdünken der Betroffenen.

Soweit die Klägerin einen beachtlichen Motivirrtum ihrerseits behauptet, widerspricht sie insoweit lediglich der Beurteilung des Sozialgerichts, ohne tatsächliche oder gar rechtliche Substanz. Ob ein beachtlicher, weil zur Anfechtung berechtigender Irrtum vorliegt, richtet sich nach den Regeln der §§ 119 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Da die Klägerin damals wusste, was sie beantragte und dies damals auch wollte, scheidet sowohl ein Inhalts- als auch ein Erklärungsirrtum nach § 119 Abs. 1 BGB aus und ein Irrtum wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) ist angesichts des Wortlauts der von der Klägerin abgegebenen Erklärung (Verzicht auf Pflichtbeitragszeiten) und der ihr von der Beklagten erteilten Hinweise im Merkblatt ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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