L 6 SB 3637/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SB 981/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3637/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung an die Verwaltung liegen nicht vor, wenn bei durchgeführter behördlicher Sachaufklärung im Klageverfahren nur noch die Bildung des Gesamt-Grades der Behinderung im Streit steht.
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. Oktober 2019 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) von 50, mithin die Schwerbehinderteneigenschaft, streitig.

Der am 23. Mai 1959 geborene Kläger leidet neben einer Sehminderung (rechtes Auge Visus mit Korrektur 0,08, keine Blindheit) an einem Diabetes mellitus Typ II, medikamentös eingestellt mit Metformin.

Auf seinen Erstantrag vom 13. September 2016 stellte das Landratsamt Karlsruhe zunächst mit Bescheid vom 13. Oktober 2016 den GdB mit 20 und auf seinen Widerspruch nach Einholung der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. (Sehminderung rechts GdB 20, Diabetes mellitus GdB 20) mit Abhilfebescheid vom 6. März 2017 den GdB mit 30 seit 13. September 2016 fest.

Bereits am 21. September 2017 beantragte der Kläger im Hinblick auf den Therapieaufwand seitens des Diabetes mellitus die Erhöhung des GdB. Er gab an, er müsse zusätzlich viermal täglich Insulin spritzen, viermal täglich Blutzucker-Selbstmessungen durchführen und danach die Insulineinheiten berechnen. Er fügte das Diabetiker-Tagebuch bei und führte ergänzend aus, als Lagerverwalter in einem Autohaus sei er oft nicht geplanter schwerer körperlicher Anstrengung ausgesetzt. Er habe auch sein Hobby Motorradfahren sowie den jährlichen Motorradurlaub mit seiner Frau aufgeben müssen. Unternehmungen mit Freunden und Verwandten seien wie früher spontan nicht mehr so einfach möglich. Auch bei sportlichen Aktivitäten müsse er auf eine mögliche Unterzuckerung achten. Weiterhin habe er häufig Verdauungs- sowie Konzentrationsstörungen und leide an Stimmungsschwankungen.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes befragte der Beklagte die behandelnden Ärzte des Klägers. Die Augenärztin Dr. S. führte am 29. Januar 2018 aus, das Sehvermögen habe sich nicht verändert, es liege keine Blindheit vor. Der Allgemeinmediziner und Diabetologe Dr. Dr. K. gab am 4. April 2018 an, am 28. Februar 2018 habe der HbA1c-Wert bei 7,7 %, RR 120/80 mmHg gelegen. Im September 2017 sei der HbA1c-Wert bei 7,2 % und drei Monate später bei 7,0 % gewesen. Der Kläger weise eine Größe von 172 cm und ein Gewicht von 107 kg auf. Er leide an diabetischen Füßen, wozu der Untersuchungsbefund beigefügt war. Der Kläger müsse viermal täglich den Blutzucker messen und viermal täglich Insulin spritzen. Außerdem nehme er zweimal täglich Metformin ein.

Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. B. (Diabetes mellitus nunmehr Einzel-GdB von 40) führte der Beklagte das Anhörungsverfahren nach § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) durch und berücksichtigte nach der weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. B. zusätzlich eine Polyneuropathie.

Mit Bescheid vom 4. Juli 2018 änderte der Beklagte den Bescheid vom 6. März 2017 dahingehend ab, dass der GdB 40 seit 21. September 2017 beträgt.

Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, der GdB von 40 für den Diabetes sei zutreffend und keineswegs zu hoch. Die Polyneuropathie müsse zusätzlich noch mit einem weiteren GdB von 20 berücksichtigt werden, weil ein ständiges Kribbeln in den unteren Ex-tremitäten vorliege, was den Nachtschlaf beeinträchtige. Insgesamt gesehen sei die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft angezeigt.

Nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. G. (Lediglich das Vibrationsempfinden sei leicht vermindert, die übrigen Sensibilitätsprüfungen unauffällig, auch für ein kleines pAVk [arterielle Verschlusskrankheit] habe sich kein ausreichender Hinweis ergeben, weshalb wohl die Doppleruntersuchung unterblieben sei. Zudem fänden sich keine Hautläsionen, sodass der Einzel-GdB von 10 für die Polyneuropathie völlig ausreichend sei. Weiter lägen undatierte diastolische Blutdruckwerte unter 100 mmHg und ein einzelner Wert mit 150/100 mmHg im Januar 2017 vor, Angaben zur Medikation fehlten. Für den Hypertonus könne ein weiterer Teil-GdB von 10 anerkannt werden.) wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2019 den Widerspruch als unbegründet zurück. Neue ändernde Erkenntnisse seien im Widerspruchsverfahren nicht vorgelegt worden. Zwar könne eine weitere Funktionsstörung in den Tenor mit aufgenommen werden, diese begründe aber keinen höheren Gesamt-GdB.

Hiergegen hat der Kläger am 15. März 2019 Klage beim Sozialgericht (SG) Karlsruhe erhoben, zu deren Begründung er ergänzend vorgetragen hat, aufgrund der schweren Sehbehinderung sei im Zusammenwirken mit der Diabetes-Erkrankung die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft geboten. Denn die Funktionsstörungen beträfen jeweils getrennte Abläufe im täglichen Leben und überschnitten sich nicht. Zusätzlich müssten jetzt noch umfangreiche orthopädische Gesundheitsstörungen diagnostiziert werden.

Er hat hierzu einen Bericht des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. S. vom 8. Januar 2019 vorgelegt, wonach sich der Kläger eine Schulterzerrung links bei Ausschluss von Schulterteilsteife zugezogen habe, die mit Krankengymnastik behandelt werde. Zusätzlich liege eine chronisch-rezidivierende Lumbalgie bei skoliotischer Fehlhaltung und Spondylarthrose der Lendenwirbelsäule (LWS) vor, wobei Blockierungen, auch im Bereich des Iliosakralgelenkes, ausgeschlossen werden könnten.

Mit Schreiben vom 2. August 2019 hat die Kammer ausgeführt, es werde erheblicher Ermittlungsbedarf gesehen, um über den geltend gemachten Anspruch entscheiden zu können. Der Beklagte dürfte die erforderlichen Begutachtungen viel schneller bewerkstelligen können als das angerufene Gericht, da er über einen eigenen versorgungsärztlichen Dienst verfüge und nicht auf externe Gutachter angewiesen sei. Deswegen sei die Zurückverweisung der Sache an den Beklagten sachdienlich. Das Gericht habe die Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.

Der Beklagte ist der beabsichtigten Verfahrensweise entgegengetreten. Im Hinblick auf die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Frage, inwieweit der Verwaltung über das Instrument der Zurückverweisung eine bestimmte Art und Weise der Sachverhaltsermittlung vorgeschrieben werden könne, habe der Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung. Außerdem weiche der beabsichtigte Gerichtsbescheid von der Rechtsprechung verschiedener Landessozialgerichte (LSG), nämlich Berlin-Brandenburg (Urteil vom 19. April 2012 - L 11 SB 45/11) und Sachsen-Anhalt (Urteil vom 5. Mai 2011 - L 7 SB 54/09) ab, denn die Beweiserhebung gehöre zum sozialgerichtlichen Alltag und sei deshalb für die Gerichte regelmäßig nicht mit einem erheblichen Aufwand verbunden. Es sei auch unklar, inwieweit der entscheidungsrelevante Sachverhalt noch substantiiert aufzuklären sei, zumal offen sei, ob der versorgungsärztliche Dienst des zuständigen Landratsamtes Karlsruhe überhaupt über Fachärzte derjenigen medizinischen Fachrichtungen verfüge, in denen eine Begutachtung mit ambulanter Untersuchung für notwendig erachtet werde.

Mit Gerichtsbescheid vom 10. Oktober 2019 hat das SG Karlsruhe den Bescheid vom 4. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2019 aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung über den Neufeststellungsantrag an den Beklagten zurückverwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Frist für die Zurückverweisung sei zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht abgelaufen, weil seit dem erstmaligen Eingang der Verwaltungsakte am 12. April 2019 bei Gericht noch keine sechs Monate verstrichen seien. Die Kammer sehe für die Entscheidung über den Gesamt-GdB noch erheblichen Ermittlungsbedarf auf internistischem, orthopädischem und neurologischem Fachgebiet. Denn die aktenkundigen gutachterlichen Stellungnahmen des versorgungsärztlichen Dienstes erlaubten keine abschließende sozialmedizinische Bewertung, weil sie nicht auf einer aktuellen, von den Zwängen eines Patientenverhältnisses unabhängigen Anamnese, Befunderhebung, Diagnostik und unvoreingenommenen Würdigung des bisherigen Therapieverlaufes beruhten sowie keine nachvollziehbare sozialmedizinische Würdigung erkennen ließen, welche seitens des Gerichts auf ihre Schlüssigkeit hin überprüfbar wäre. Die Versorgungsärzte hätten lediglich verschiedene Einzel-GdB ohne Bezugnahme auf konkret heranzuziehende Beurteilungsmaßstäbe aufgeführt. Bei lebensnaher Betrachtung seien die Angaben der behandelnden Ärzte hinsichtlich der Belastbarkeit ihrer Befundberichte, Diagnosen und sozialmedizinischen Einschätzungen unter legitimen Eigeninteressen sowie den Ansprüchen ihrer Patienten nicht valide. Auch könne von einem Orthopäden nicht die genaue Erhebung der Bewegungsmaße erwartet werden, noch weniger die Objektivierung der vorgetragenen Beschwerden. Die Gesundheitsstörungen an der LWS könnten ohne Weiteres einen Einzel-GdB von 20 begründen, wenn häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome vorlägen oder entsprechende Bewegungseinschränkungen gegeben seien. Internistisch müssten die Blutwerte aktualisiert werden. Zudem sei interessant, unter welcher Medikation die bisherige Therapie des Bluthochdruckes die Symptomatik (nicht) dauerhaft bessern könne. Auch der Adipositas mit dem Bluthochdruck müsse weiter nachgegangen werden. Neurologisch müsse aufgeklärt werden, ob sich die Polyneuropathie verschlimmert habe. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens sei auch erheblich für die Zurückverweisung, schließlich sachdienlich, weil der Beklagte nach seiner personellen und sachlichen Ausstattung die Ermittlungen inhaltlich besser oder schneller durchführen könne. Das Ermittlungsdefizit der Landesversorgungsverwaltung sei, diskriminierend und rechtsstaatswidrig. Seit Jahren unterlasse die zuständige V. des Landes B.W aus Kostenerwägungen heraus in abertausenden, gleichartigen Fällen systematisch zwingend gebotene Beweiserhebungen. Durch das Ermittlungsdefizit werde sich der Sozialgerichtsbarkeit als ungleich teurere "Außenstelle für sozialmedizinische Begutachtungen" bedient. Die Voraussetzungen einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid seien gegeben, zumal das SG bereits in anderen Fällen zurückverwiesen habe.

Gegen den am 10. Oktober 2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 25. Oktober 2019 Berufung mit beim LSG Baden-Württemberg mit der der Begründung eingelegt, die Zurückverweisung an die Verwaltung habe Ausnahmecharakter und ihre Tatbestandsvoraussetzungen seien entsprechend eng auszulegen. Im Einzelfall bestehe kein erheblicher Ermittlungsbedarf, der eine solche Zurückverweisung auch in der Sache geboten mache. Wie ermittelt werde, sei in das weite Ermessen der Verwaltung gestellt. Die Sachverhaltsaufklärung könne auch durch Untersuchung oder Auswertung beigezogener Befundberichte stattfinden. Ansonsten sei das Sozialgericht im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht gehalten, die von ihm noch für erforderliche ärztliche Sachverhaltsaufklärung selbst durchzuführen. Überdies gehöre eine solche Beweiserhebung zum sozialgerichtlichen Alltag. Die Zurückverweisung sei auch nicht sachdienlich, da sie dem Kläger keine Verbesserung seiner materiell-rechtlichen Position bringe. Die Entscheidung hätte nicht durch Gerichtsbescheid ergehen können.

Der Beklagte hat hierzu eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vorgelegt, wonach der Diabetes mellitus mit einer so genannten "intensivierten Insulintherapie" behandelt werde und nach dem Blutzuckerprotokoll eine Anpassung der Insulindosen an den jeweils gemessenen Blutzuckerwert erfolge. Unter diesem Gesichtspunkt sei der berücksichtigte Einzel-GdB von 40 korrekt, denn Hypoglykämien (Unterzuckerungen) ließen sich den Blutzuckerprotokollen nicht entnehmen. In Bezug auf die Sehbehinderung bestehe bei normal gutem Visus links eine gewisse Kompensierbarkeit des schlechten Visus rechts, sodass der Einzel-GdB von 20 für die Sehbehinderung als nicht voll ausgefüllt einzuschätzen sei. Die übrigen beiden Einzel-GdB-Werte von jeweils 10 trügen zum Gesamt-GdB nicht bei.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. Oktober 2019 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass die Sache nicht an den Beklagten hätte zurückverwiesen dürfen. In der Sache sei es so, dass erhebliche gesundheitliche Probleme bei ihm vorlägen, weswegen eine Langzeitblutdruckmessung durchgeführt worden sei. Es bestünden erhebliche LWS-Probleme. Der diastolische Wert sei seiner Erinnerung nach höher als 100 mmHg gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist form- und fristgerecht erhoben (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) erhoben worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§ 143, § 144 Abs. 1 SGG), und in vollem Umfang im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das LSG durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Die Regelung ist entsprechend anzuwenden, wenn das SG einen Verwaltungsakt zu Unrecht aus formellen Gründen beziehungsweise ohne Sachentscheidung aufgehoben hat, der Klage also – wie hier – teilweise stattgegeben wurde, ohne zu den eigentlichen Fragen Stellung zu nehmen (LSG für das Saarland, Urteil vom 27. Juni 2017 - L 5 SB 45/16 -, juris, Rz. 22; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 5. Mai 2011 - L 7 SB 42/09 -, juris, Rz. 16; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Januar 2009 - L 4 R 1519/08 -, juris, Rz. 18; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. März 2010 - L 8 R 145/09 -, juris, Rz. 16).

Diese Voraussetzungen liegen – auch zur Überzeugung beider Beteiligter – vor, da das SG Karlsruhe zu Unrecht die angefochtene Verwaltungsentscheidung aufgehoben hat, ohne in der Sache zu entscheiden. Auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung hat das SG Karlsruhe ohnehin zu Unrecht den Bescheid vom 4. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2019 insgesamt aufgehoben statt nur in Bezug auf die negative Feststellung, dass der GdB nicht mehr als 40 beträgt. Dessen teilweise Aufhebung ist dem Gericht wegen des im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz - GG) verankerten Grundsatzes der reformatio in peius, wonach eine Rechtsbehelfsführenden gegenüber ergangene Verwaltungsentscheidung im Klageverfahren nicht zu ihren Ungunsten abgeändert werden darf (vgl. BSG, Urteil vom 29. Februar 1956 - 10 RV 75/55 -, BSGE 2, 225 (228 f.)), verwehrt.

Die Voraussetzungen des § 131 Abs. 5 SGG lagen schon deswegen nicht vor, weil der Kläger mit seiner Klagebegründung eine nicht ausreichende Sachverhaltsaufklärung im Verwaltungsverfahren überhaupt nicht geltend gemacht hat. Er hat vielmehr die Bildung des Gesamt-GdB beanstandet (keine Überschneidung) und zusätzlich neue, bislang in das Verfahren nicht eingeführte orthopädische Funktionsbeeinträchtigungen berichtet, die somit von dem Beklagten gar nicht hätten berücksichtigt werden und deswegen erst Recht nicht eine Zurückverweisung begründen können. Denn die Regelung des § 131 Abs. 5 SGG gelangt dann nicht zur Anwendung, wenn erst das Vorbringen im Klageverfahren weitere Ermittlungen angezeigt erscheinen lässt und der Behörde deshalb ein Ermittlungsversäumnis beziehungsweise eine sachwidrige Aufwandsverlagerung auf die Gerichte nicht vorgeworfen werden kann (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Mai 2011 - L 8 SB 5398/10 -, nicht veröffentlicht).

Nach § 131 Abs. 5 SGG kann das Gericht, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den (Ausgangs-)Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist.

Diese gesetzlich mögliche Zurückverweisung an die Verwaltung soll den Gerichten eine zeit- und kostenintensive Sachaufklärung ersparen, die eigentlich der Verwaltung obliegt (BT-Drs. 15/1508 S. 29). Im Rechtsmittelverfahren sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des Abs. 5 (Erforderlichkeit einer weiteren Sachaufklärung, Erheblichkeit von Art und Umfang der noch erforderlichen Ermittlungen, Sachdienlichkeit) voll überprüfbar, während die Entscheidung des SG, bei Vorliegen der Voraussetzungen des Abs. 5 zurückzuverweisen, nur auf Ermessensfehler zu prüfen ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 131 Rz. 20a).

Soweit das SG Karlsruhe die Zurückverweisung damit begründet hat, dass Ermittlungsbedarf im Hinblick auf die sozialmedizinische Bildung des Gesamt-GdB besteht, weil "erschöpfende Ausführungen über die Bildung "desselben" unter Anwendung der gesetzlichen Vorgaben" fehlen, so ist dies vor dem Hintergrund, dass die Gerichte an die Vorschläge des versorgungsärztlichen Dienstes, der angehörten Ärzte wie der Sachverständigen nicht gebunden sind, sondern vielmehr aufgrund ihrer richterlichen Erfahrung und der Vielzahl vergleichbarer Fälle diese selbst bestimmen, nicht nachvollziehbar. Die Bemessung des GdB ist in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSG, Urteil vom 30. September 2009 - B 9 SB 4/08 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 10, Rz. 18), wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss (Urteil des Senats vom 18. Juli 2019 - L 6 SB 4155/18 -, nicht veröffentlicht). Nach der ständigen Rechtsprechung ist der Gesamt-GdB somit jeweils im Rahmen tatsachengerichtlicher Einschätzung aufgrund einer gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen zu ermitteln, wobei auch allgemeine Erfahrungssätze berücksichtigt werden können (vgl. BSG, Beschluss vom 17. April 2013 - B 9 SB 69/12 B -, juris, Rz 11). Er ist somit nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls, aber nicht in jedem Fall, unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten in freier Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 - B 9 SB 1/03 R -, juris, Rz. 17 m. w. N.).

Dass die Begutachtungsergebnisse des versorgungsärztlichen Dienstes verkürzt und standardisiert dargestellt werden, ist lediglich eine gewählte übersichtsartige Kurzform einer gutachtlichen Stellungnahme. Der Beklagte hat zu Recht klargestellt, dass dies nicht Ausdruck eines Ermittlungsdefizits, sondern allein den Erfordernissen der Massenverwaltung geschuldet ist. Die konkreten Beurteilungsmaßstäbe, wie sie das SG Karlsruhe vermisst, nämlich die rechtlichen Vorgaben der Versorgungsmedizin-Verordnung, sind sowohl dem Beklagten wie auch den mit den Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts betrauten SG bekannt. Sich im Einzelfall aufdrängende Rückfragen hätte es im Übrigen ohne Weiteres an den Beklagten stellen können, der dies an seinen versorgungsärztlichen Dienst zur Beantwortung hätte vorlegen können, rechtfertigt daher ebenfalls keine Zurückverweisung.

Der vorliegende Fall unterstreicht, dass das SG Karlsruhe das Mittel der Zurückverweisung an die Verwaltung mit der Erwägung instrumentalisiert, das von ihm ausgemachte "langjährige, diskriminierende und rechtsstaatswidrige Ermittlungsdefizit" beseitigen zu wollen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass im zu entscheidenden Einzelfall zu jeder im Ausgangs- und Widerspruchsverfahren geltend gemachten Behinderung medizinische Befunde ermittelt und ausgewertet worden sind.

Der Beklagte hat zu Recht darauf verwiesen, dass weiterer Aufklärungsbedarf im behördlichen Verfahren auch nicht bestand. Denn der Kläger hat selbst, nachdem der Beklagte seinem Begehren überwiegend abgeholfen hat, in seinem Widerspruch den für die Diabetes-Erkrankung angesetzten GdB von 40 für zutreffend erklärt und sich ausdrücklich nur gegen die vorgenommene Bemessung des Gesamt-GdB sowie die fehlende beziehungsweise nicht ausreichende Berücksichtigung der Beeinträchtigungen infolge der Polyneuropathie und des Bluthochdrucks gewandt. Weder aus dem Vorbringen des Klägers noch aus den beigezogenen Befunden haben sich konkrete Anhaltspunkte für weitergehende Beeinträchtigungen ergeben, worauf der versorgungsärztliche Dienst in seinen gutachtlichen Äußerungen vom 2. Juli 2018 und 9. Januar 2019 zutreffend hingewiesen und was der Kläger überhaupt nicht beanstandet hat. Somit bestand kein Anhaltspunkt für die Einholung der vom SG Karlsruhe geforderten Sachverständigengutachten auf diabetologischem, augenheilkundlichem und kardiologischem Fachgebiet. Dies wäre eine Sachverhaltsaufklärung ins Blaue hinein, die nach ständiger Rechtsprechung weder erforderlich noch geboten ist (vgl. Urteil des Senats vom 25. Oktober 2018 - L 6 VG 1070/17 -, juris, Rz.36; nachgehend BSG, Beschluss vom 15. Mai 2019 - B 9 V 49/18 B -, juris, Rz. 12). Wenn das SG Karlsruhe der Meinung ist, dass für seine Entscheidung weitere Ermittlungen notwendig sind, muss es deshalb selbst den Sachverhalt weiter aufklären (Hessisches LSG, Urteil vom 29. Januar 2019 - L 3 U 63/18 -, juris). Die Regelung des § 131 Abs. 5 SGG dient nicht dazu, das eigene gerichtliche Verständnis einer ausreichenden Sachverhaltsaufklärung, welches erfahrungsgemäß von Gericht zu Gericht auch sehr unterschiedlich ist, als verbindlich vorzuschreiben (vgl. Aussprung, in: Roos/Wahrendorf, Kommentar zum SGG, 2014, § 131 Rz. 94).

Der Beklagte hat somit den entscheidungserheblichen Sachverhalt schnellstmöglich aufgeklärt, was gerade im Interesse der Menschen mit Behinderung liegt, die insbesondere, wenn sie sich noch im Erwerbsleben befinden, an einer raschen Statusfeststellung interessiert sind (Kündigungsschutz, Urlaubsanspruch, behindertengerechte Arbeitsplatzausgestaltung etc.). Dieser Rechtsgedanke hat auch Eingang in die Gesetzgebung gefunden, nämlich in dem in § 152 Abs. 1 Satz 3 SGB IX enthaltenen Verweis auf die Fristen des § 14 SGB IX und § 17 SGB IX, die der Beschleunigung des Feststellungsverfahrens dienen, allerdings nur, wenn es sich bei dem Antragsteller um eine erwerbstätige Person handelt und Gegenstand des Verfahrens die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, muss die zuständige Behörde, wenn kein Gutachten erforderlich ist, innerhalb von drei Wochen entscheiden (§ 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX). Ist ein Gutachten notwendig, ist unverzüglich ein geeigneter Sachverständiger zu benennen (§ 17 Abs. 1 Satz 1 SGB IX), der innerhalb von zwei Wochen nach Auftragserteilung ein Gutachten zu erstellen hat (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Die Behörde trifft ihre Entscheidung über die Schwerbehinderteneigenschaft innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens (§ 14 Abs. 2 Satz 3 SGB IX).

Hierzu hat sich über Jahre hinweg die bewährte und rasche Ermittlungsstrategie entwickelt, zunächst die behandelnden Ärztinnen und Ärzte über so bezeichnete Befundberichte zu befragen, ergänzend Rehabilitations-, Krankenhausentlassungs- und Operationsberichte einzuholen, diese versorgungsärztlich auszuwerten sowie diese dann einer Entscheidung zuzuführen.

Den Angaben der behandelnden Ärztinnen und Ärzte aus sich heraus fehlende Richtigkeit zu unterstellen, da sie unter legitimen Eigeninteressen sowie Ansprüchen ihrer Patienten litten, geht in diesem Zusammenhang fehl. Denn das SG Karlsruhe verkennt, dass es weniger um deren Bewertung der Behinderung geht, auch wenn diese erfragt wird, sondern vielmehr um die Ermittlung der Befunde. Bei Letzteren kann im Regelfall davon ausgegangen werden, dass sie das zu entscheidende Krankheitsbild wiedergeben, da sie zugleich für die ärztliche Behandlung ausschlaggebend sind. Insoweit kann auch keine Interessenkollision vorliegen. Im Übrigen müsste dies im gleichen Ausmaß für die gerichtlichen Ermittlungen gelten, nämlich für sachverständige Zeugenaussagen oder Gutachten auf eigenes Kostenrisiko nach § 109 SGG, bei denen ebenfalls ein Näheverhältnis zum Beteiligten bestehen kann.

Dessen ungeachtet ist die Frage, inwieweit und aus welchen Gründen der ärztlichen oder gutachterlichen Einschätzung zu folgen ist, ohnehin eine solche der Beweiswürdigung, welche eine ureigene gerichtliche Aufgabe ist und ebenfalls im Ergebnis nicht pauschal davon abhängt, ob die Aussage von einem behandelnden Arzt oder Sachverständigen stammt.

Zu Recht hat der Beklagte weiter darauf hingewiesen, dass nach der gesetzlichen Bestimmung des § 20 Abs. 1 SGB X das "Wie" Ermittlungen in das weite Ermessen der Verwaltung gestellt ist, was auch für die Entscheidung gilt, auf die medizinische Sachaufklärung durch den versorgungsärztlichen Dienst im Rahmen einer eigenen ambulanten gutachtlichen Untersuchung oder eine Auswertung beigezogener Befundberichte stattfindet (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Mai 2011 - L 8 SB 5398/10 -, nicht veröffentlicht).

Zudem ist eine Entscheidung nach § 131 Abs. 5 SGG unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten nicht sachdienlich. Sachdienlichkeit in diesem Sinne liegt in der Regel nur dann vor, wenn die Behörde nach ihrer personellen und sachlichen Ausstattung die Ermittlungen besser durchführen kann als das Gericht und es unter übergeordneten Gesichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, diese tätig werden zu lassen. Deshalb ist eine Zurückverweisung regelmäßig nur gerechtfertigt, wenn die begründete Möglichkeit besteht, dass die noch erforderlichen erheblichen Ermittlungen, insbesondere wegen der personellen und sachlichen Ausstattung der Behörde, inhaltlich besser oder schneller vonstattengehen als bei Gericht (vgl. BSG, Urteil vom 25. April 2013 - B 8 SO 21/11 R -, SozR 4-3500 § 43 Nr. 3, Rz. 15). Dies ist hier nicht der Fall. Der Beklagte müsste ebenso wie das SG Karlsruhe externe Sachverständige zur Erstellung der Gutachten beauftragen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 5. Mai 2011 - L 7 SB 42/09 -, juris), worauf der Beklagte unter Vorlage der Auskunft der Leiterin des Gesundheitsamtes beim Landratsamt Karlsruhe zu Recht hingewiesen hat. Denn ihm steht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes keine bessere personelle oder sachliche Ausstattung als dem Gericht zur Verfügung und die Versorgungsverwaltung müsste deshalb die vom SG Karlsruhe für notwendig erachteten weiteren Ermittlungen ebenfalls überwiegend durch Gutachten bei externen Sachverständigen anstellen.

Eine Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 SGG steht im Ermessen des Senats. Im Hinblick darauf, dass eine medizinische Sachverhaltsermittlung in der ersten Instanz bislang überhaupt noch nicht stattgefunden hat, hält der Senat eine Zurückverweisung nach Ausübung richterlichen Ermessens für geboten.

Die Kostenentscheidung bleibt der endgültigen Entscheidung des SG Karlsruhe vorbehalten.
Rechtskraft
Aus
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