L 15 BL 9/97

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 Bl 5/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 BL 9/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine zum Bezug von Blindengeld berechtigende "gleichzuachtende" Beeinträchtigung der Sehschärfe kann auch dadurch gegeben sein, daß zu erwiesenen schweren Störungen des Sehvermögens visuelle Verarbeitungsstörungen infolge cerebraler Schäden hinzukommen.
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Regensburg vom 06.08.1997 sowie des Bescheides vom 07.09.1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.1994 verurteilt, dem Kläger ab 01.03.1994 Zivilblindenpflegegeld bzw. ab 01.04.1995 Blindengeld zu gewähren.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist es streitbefangen, ob dem Kläger ab 01.03.1994 Zivilblindenpflegegeld nach dem Zivilblindenpflegegeldgesetz (ZPflG) bzw. - ab 01.04.1995 - Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) zusteht.

Am 08.03.1994 beantragten die gesetzlichen Vertreter des am 1988 geborenen Klägers die Gewährung von Zivilblindenpflegegeld unter Vorlage einer Bescheinigung des Augenarztes Dr. vom 09.02.1994, der das Vorliegen von Blindheit bestätigte. Der Beklagte zog die Unterlagen der Allgemeinen Ortskrankenkasse Regensburg sowie einen Befundbericht von Dr. bei und ließ den Kläger von Frau Prof.Dr. von der Augenklinik der Universität Regensburg untersuchen. In ihrem Gutachten vom 15.06. 1994 vertrat die Sachverständige die Meinung, die Sehschärfe des Klägers liege nach Korrektur bei über 1/50, womit keine Blindheit vorliege.

Mit Bescheid vom 07.09.1994 lehnte der Beklagte daraufhin die Gewährung von Zivilblindenpflegegeld ab, da die Sehschärfe des Klägers zu hoch sei und eine Gesichtsfeldeinschränkung nicht nachgewiesen. Auf den hiergegen erhobenen Widerspruch ließ der Beklagte den Kläger im Rahmen eines Hausbesuches durch den Augenarzt Dr. untersuchen. In seiner Beurteilung vom 11.02.1995 kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, daß der Kläger zwar nicht vollkommen blind, eine Blindheit aber auch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sei. Eine zeitlich befristete Zuerkennung des Zivilblindenpflegegelds werde daher empfohlen. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.04.1995 wies der Beklagte gleichwohl den Widerspruch als unbegründet zurück, weil es des Nachweises von Blindheit ermangele und dies zu Lasten des Klägers gehe.

Seine dagegen zum Sozialgerichts Regensburg erhobene Klage (Az.: S 9 BL 5/95) hat der Kläger im wesentlichen damit begründet, es dürfe ihm nicht zum Nachteil gereichen, daß bei der Vielzahl der bei ihm vorliegenden Behinderungen kein zweifelsfreier Nachweis der Blindheit möglich sei. Er könne seine Umwelt jedenfalls nicht wahrnehmen und erkennen, so daß eine faktische Blindheit vorliege. Das Sozialgericht hat den Kläger von Amts wegen durch den Augenarzt Dr. untersuchen lassen, der in seinem Gutachten vom 28.09.1995 die Auffassung vertreten hat, die Sehschärfe des Klägers liege bei etwa 1/50. Da zudem beidseits eine hohe Kurzsichtigkeit, eine hohe Stabsichtigkeit, ein Augenzittern und eine Sehnervenatrophie vorliege, sei es vertretbar, Blindheit zu bejahen. Auf Antrag des Beklagten hat das Sozialgericht den Kläger durch Privatdozent Dr. erneut von Amts wegen untersuchen lassen. Dieser hat in seinem Gutachten vom 10.11.1996 eine Kurzsichtigkeit von über 7 Dioptrien bestätigt, eine Opticusatrophie links stärker als rechts sowie eine Höhenschielstellung des linken Auges festgestellt und die Sehleistung des Klägers oberhalb des Wertes von 1/50 geschätzt. Eine VECP-Untersuchung sei jedoch nicht möglich gewesen, da sich die Erregung des Klägers während der Untersuchung ständig gesteigert habe und nach ca. 30 Minuten noch keine Meßergebnisse vorgelegen hätten und die Untersuchung abgebrochen habe werden müssen. Der Kläger könne allerdings aufgrund seiner cerebralen Schädigung seine Seheindrücke nur sehr eingeschränkt bewerten und verarbeiten, was in diesem Rahmen aber unberücksichtigt bleiben müsse. Eine Blitzstimulation sei aufgrund der erhöhten Krampfneigung des Klägers nicht möglich gewesen.

Mit Urteil vom 06. August 1997 hat das Sozialgericht daraufhin die Klage als unbegründet abgewiesen. In den Urteilsgründen hat es auf Art.1 Abs.1 ZPflG bzw. Art.1 Abs.2 BayBlindG abgestellt und festgestellt, die Sehschärfe des Klägers sei nicht feststellbar gewesen, was insofern zu seinen Lasten gehe, als ihm aufgrund der Sehschärfeminderung der geltend gemachte Anspruch nicht zugesprochen werden könne. Auch die Voraussetzungen für die Annahme einer der Sehschärfeminderung auf 1/50 gleichzuachtenden Störung des Sehvermögens sei deshalb nicht möglich, weil entsprechende Untersuchungen des Klägers nicht durchführbar gewesen seien. Im übrigen liege beim Kläger eine schwere cerebrale Schädigung vor und mangels Feststellbarkeit des Ausmaßes der optischen Schädigung seien daher die Anspruchsvoraussetzungen nicht nachgewiesen.

Seine dagegen beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegte Berufung hat der Kläger im wesentlichen damit begründet, daß er als mehrfach Behinderter gegenüber einem ausschließlich Blinden durch die bisherigen Entscheidungen benachteiligt sei, da er mangels Mitteilungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten seine Sehleistung nicht entsprechend darstellen könne. Im übrigen hätten sich die Sachverständigen auch nicht festlegen können, ob seine Sehleistung über oder unter 1/50 liege, so daß es einer nachvollziehbaren Beurteilung ermangele.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Regensburg vom 06.08.1997 sowie des Bescheides vom 07.09.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.04.1995 zu verurteilen, ihm ab 01.03.1994 Zivilblindenpflegegeld bzw. ab 01.04.1995 Blindengeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 06.08.1997 zurückzuweisen.

Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Zivilblindenpflegegeld-, die Schwerbehindertenakte des Beklagten sowie die Akte des vorangegangenen Streitverfahrens vor dem Sozialgericht Regensburg. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den gesamten übrigen Inhalt dieser Akten, insbesondere die genannten Gutachten und Stellungnahmen sowie die Schriftsätze der Beteiligten, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist nach Art.4 Abs.3 ZPflG bzw. Art.7 Abs.2 BayBlindG i.V.m. § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft; einer Zulassung der Berufung nach § 144 Abs.1 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.01.1993 hat es im Hinblick auf Satz 2 dieser Vorschrift nicht bedurft. Das Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG), damit insgesamt zulässig und erweist sich auch als begründet.

Nach Art.1 Abs.1 ZPflG erhielten Zivilblinde auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, nach Vollendung des 1. Lebensjahres ein Pflegegeld.

Als Blinde galten nach Art.1 Abs.3 ZPflG Personen

1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,

2. bei denen durch Nr.1 nicht erfaßte, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachten sind.

Nach dem am 01.04.1995 in Kraft getretenen BayBlindG erhalten Blinde auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehrfaufwendungen ein monatliches Blindengeld (Art.1 Abs.1).

Blind ist nach Art.1 Abs.2 BayBlindG, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten auch Personen,

1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,

2. bei denen durch Nr.1 nicht erfaßte Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachten sind.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts liegen diese Anspruchsvoraussetzungen beim Kläger jedoch vor. Zwar ist es zutreffend, daß die Sehschärfe des Klägers von den beurteilenden Ärzten (Frau Prof.Dr., Dr. und Privatdozent Dr.) übereinstimmend auf mehr als 1/50 geschätzt worden ist und daher die Anspruchsvoraussetzungen des Art.1 Abs.3 Nr.1 ZPflG bzw. des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.1 BayBlindG nicht bejaht werden können. Dies gilt unabhängig davon, daß Frau Prof. Dr. und Privatdozent Dr. insoweit keine eindeutigen Feststellungen haben treffen können und Dr. ein Sehvermögen von mehr als 1/50 lediglich nicht ausgeschlossen hat, da es sich hierbei um einen Grenzwert handelt, der einer exakten Feststellung bedarf und die Nichtfeststellbarkeit dieser Tatsache - wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat - dergestalt zu Lasten des Klägers geht, als die Nichterweislichkeit dieser Anspruchsvoraussetzung eine Leistung nach Art.1 Abs.3 Nr.1 des Zivilblindenpflegegeld- bzw. Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.1 des Bayerischen Blindengeldgesetzes ausschließt.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts liegen jedoch die Anspruchsvoraussetzungen des Art.1 Abs.3 Nr.2 ZPflG bzw. des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2 BayBlindG vor. Beim Kläger bestehen nämlich eine Sehschärfebeeinträchtigung von nahezu für sich allein anspruchsberechtigendem Ausmaß und zusätzlich eine hohe Kurzsichtigkeit, eine hohe Stabsichtigkeit, ein Augenzittern und eine Sehnervatrophie beidseits vor, wie der Augenarzt Dr. in seinem Gutachten vom 28.09.1995 festgestellt und Privatdozent Dr. in seinem Gutachten vom 10.11.1996 weitgehend bestätigt hat. Allein diese Sehstörungen rechtfertigen es, eine der Beeinträchtigung der Sehschärfe auf dem besseren Auge auf 1/50 gleichzuachtende Störung des Sehvermögens anzunehmen, wobei die bloße Lichtwahrnehmung dieser Annahme deshalb nicht entgegensteht, weil die räumliche Sehwahrnehmung fehlt und beim Kläger eine Sehverbesserung durch Brillenkorrektur nicht möglich ist.

Darüber hinaus kann entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und derjenigen von Privatdozent Dr. die cerebrale Leistungsbeeinträchtigung des Klägers nicht ganz unberücksichtigt bleiben. Eine solche wirkt zwar dann nicht anspruchsauslösend, wenn bei Vorliegen einer solchen Leistungsbeeinträchtigung das Vorhandensein einer als Teilursache zu qualifizierenden Beeinträchtigung der optischen Funktionen nicht nachweisbar ist, wie das Sozialgericht insoweit ebenfalls zutreffend festgestellt hat. Dies hat der Senat in Anlehnung an die Auffassung des Bundessozialgerichts in dessen Entscheidung vom 31.01.1995 (Az.: RS 1/93) ebenfalls bereits mehrfach entschieden für Fälle sogenannter apallischer Syndrome. Im Falle des Klägers sind jedoch schwere Störungen des Sehvermögens nachgewiesen, so daß auch deren Kombination mit visuellen Verarbeitungsstörungen (als Teilursache) in einer Weise zusammenwirken können, daß die Störung des Sehvermögens insgesamt in ihrem Schweregrad einer Sehschärfebeeinträchtigung auf 1/50 gleichgeachtet werden kann. Dies gilt unabhängig davon, ob die Verarbeitungsstörung den Bereich des "Wahrnehmens und Erkennens" oder den Be reich des "Benennens" betrifft, da nur das deutliche Überwiegen einer "Benennensstörung" anspruchsausschließend wirken könnte.

Aus diesen Gründen sind auf die Berufung des Klägers die angefochtenen Entscheidungen mit der Kostenfolge aus den §§ 183, 193 SGG aufzuheben und der geltend gemachte Anspruch zuzuerkennen.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch der Senat von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht.
Rechtskraft
Aus
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