L 17 U 375/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 220/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 375/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 12/03 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 25.10.2001 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von ungekürzten Hinterbliebenenrenten streitig.

Der Versicherte H. S. (S), geboren 1960, gestorben 25.11.1998, war Erzieher in einer heilpädagogischen Tagesstätte, mit der Klägerin verheiratet und hatte zwei eheliche Kinder (K. , geb. 1988 und J. , geb. 1989). Außerdem lebten seit dem 08.08.1995 die beiden Pflegekinder G. , geb. 1986, und A. W. , geb. 1988 in Dauerpflege in der Familie - auch zur Entwicklung familienähnlicher Bande laut Schreiben des Kreisjugendamtes S. [KJ] vom 29.06.1999 -. Dem Ehepaar S. waren die Aufsicht, Betreuung und Erziehung der Kinder auf Dauer übertragen und es wurden Pflege- und Kindergeld gewährt.

Vormund für die beiden Pflegekinder ist das KJ S. (Beschluss des Amtsgerichts S. vom 22.12.1995, bestätigt durch Beschluss des Landgerichts S. vom 14.02.1996). Die Kostenerstattungspflicht obliegt dem Stadtjugendamt S ... Dem Ehepaar war vom KJ auch die Vermögenssorge für die alltäglichen Geldangelegenheiten der Kinder übertragen. Nur bei außergewöhnlichen Ausgaben musste das KJ informiert werden. Die Kinder selbst werden vom KJ im Rahmen der Jugendhilfe unterhalten.

Am 25.11.1998 verunglückte der Versicherte S auf Grund eines Wegeunfalls tödlich. Mit Bescheiden vom 09.06.1999 gewährte die Beklagte der Klägerin Witwenrente und allen vier Kindern Halbwaisenrente. Da die Summe der Hinterbliebenenrenten den gesetzlichen Höchstbetrag überschritt, wurden diese nach § 70 Sozialgesetzbuch (SGB) VII gekürzt, bei der Witwe erst ab 01.03.1999 (Kürzung jährlich: Bei der Witwe von 27.349,68 DM auf 18.233,12 DM, bei jeder Waise von 13.674,84 DM auf 9.116,56 DM). Beide Pflegekinder erhalten auch Halbwaisenrenten von der Bundesanstalt für Angestellte.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren sah es die Klägerin als ungerecht an, dass sie und ihre leiblichen Kinder wegen der Rentenansprüche der Pflegekinder Nachteile in Form gekürzter Renten haben. Sie stellten sich finanziell schlechter als bei einer ungekürzten Auszahlung der Hinterbliebenenrenten.

Mit Bescheiden vom 30.06.1999 wies die Beklagte die Widersprüche der Klägerin und ihrer beiden ehelichen Kinder zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die Pflegekinder seien ab August 1995 in den Familienhaushalt zur Dauerpflege aufgenommen worden, verbunden mit Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungaufgaben und daher dauerhaft in der Familie integriert gewesen. Unerheblich seien die für sie gewährten finanziellen Zuwendungen in Form von Kost- oder Pflegegeld. Sie hätten daher auch Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen nach § 67 SGB VII mit der Folge der Kürzung nach § 70 Abs 1 SGB VII, da der entsprechende Höchstbetrag überschritten werde.

Gegen diese Bescheide haben die Kläger Klagen zum Sozialgericht (SG) Würzburg erhoben und beantragt, ungekürzte Witwenrente ab 01.03.1999 und ungekürzte Halbwaisenrenten ab 25.11.1998 zu gewähren. Sie haben ausgeführt, unter Waisen im Sinne des § 70 Abs 1 S 4 SGB VII seien lediglich die leiblichen Kinder, nicht jedoch Pflegekinder zu verstehen. Pflegekindern komme nicht derselbe Vorrang wie leiblichen Kindern zu, insbesondere seien sie in § 67 Abs 2 SGB VII nicht als Waisen bezeichnet. Mit dem Zeitpunkt des Todes des Versicherten sei nicht mehr von einer Aufnahme in die Familie auf Dauer auszugehen. Den Pflegeeltern habe auch nicht die Vermögenssorge zugestanden.

Mit Schreiben vom 14.02.2000 hat das KJ mitgeteilt, dass auf die Anrechnung der Halbwaisenrente der Beklagten auf die Jugendhilfekosten während der Dauer der Zuständigkeit des Stadtjugendamtes S. grundätzlich verzichtet werde. Damit erhält die Klägerin zu 3. ab dem 25.11.1998 die volle Halbwaisenrente für beide Pflegekinder.

Mit Urteil vom 25.10.2001 hat das SG Würzburg die verbundenen Klagen abgewiesen mit der Begründung, die Pflegekinder seien in den Haushalt der Pflegeeltern aufgenommen worden und damit bestehe Anspruch auf Gewährung von Halbwaisenrenten. Dies führe zur Kürzung der Hinterbliebenenrenten. Entscheidend sei, dass auf der Grundlage einer ideellen Dauerbeziehung Beziehungen wie zwischen Kindern und leiblichen Eltern bestünden. Dabei spiele es keine Rolle, dass den Pflegeeltern neben der Personensorge nicht auch die Vermögenssorge übertragen worden sei. Im Übrigen habe die Klägerin faktisch die Vermögenssorge, da das KJ die Halbwaisenrenten für die Pflegekinder nicht selbst verwende, sondern an die Klägerin auszahle.

Gegen dieses Urteil haben die Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, den Pflegekindern komme im Gegensatz zu den leiblichen Kindern nicht der volle Schutz des Art 6 Grundgesetz (GG) zugute. Die Ursprungsfamilie dürfe durch Pflegekinder keine Nachteile im sozialrechtlichen System erfahren.

Auf Anfrage des Senats hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung am 08.08.2002 mitgeteilt, der Deutsche Bundestag habe der Bundesregierung mit Beschluss vom 08.03.2001 eine Petition der Klägerin zur Erwägung überwiesen, durch gesetzliche Regelung sicherzustellen, dass sich ein Waisenrentenanspruch von Pflegekindern nicht nachteilig auf die Ansprüche der Pflegefamilie auswirken solle. In dem Beschluss sei vorgeschlagen worden, den Waisenrentenanspruch für Pflegekinder völlig zu streichen oder die Hinterbliebenenansprüche von Ehegatten und leiblichen Kindern gegenüber Pflegekindern vorrangig zu behandeln. Das Ministerium beabsichtige, dem Gesetzgeber in der nächsten Legislaturperiode eine Regelung zu empfehlen, dass Waisenrentenansprüche von Pflegekindern nur dann in Betracht kommen, soweit der Höchstbetrag nicht bereits von Witwen und Waisen ausgeschöpft sei (Erweiterung des § 70 Abs 1 S 4 SGB VII).

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Würzburg vom 25.10.2001 sowie unter Abänderung der Bescheide vom 09.06.1999 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 30.06.1999 zu verurteilen, der Klägerin zu 3. ungekürzte Witwenrente ab 01.03.1999 und den Klägern zu 1. und 2. ungekürzte Halbwaisenrente ab 25.11.1998 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Würzburg vom 25.10.2001 zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird ergänzend auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Akte des Landratsamtes S. Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sachlich aber nicht begründet. Es besteht kein Anspruch auf Gewährung von ungekürzten Hinterbliebenenrenten für die Witwe und die leiblichen Kinder des Versicherten, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind (§§ 67 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 Nr 1, 70 Abs 1 SGB VII, 56 Abs 2 Nr 2 SGB I).

Nach § 67 Abs 2 Nr 1 SGB VII erhalten Kinder von verstorbenen Versicherten eine Halbwaisenrente, wenn sie noch einen Elternteil haben. Als Kinder werden dabei auch Pflegekinder im Sinne des § 65 Abs 2 Nr 2 SGB I berücksichtigt, die in den Haushalt des Versicherten aufgenommen sind. Die insgesamt zustehenden Hinterbliebenenrenten dürfen aber zusammen 80 vH des Jahresarbeitsverdienstes nicht übersteigen, sonst werden sie gekürzt, und zwar bei Witwen und Waisen nach dem Verhältnis ihrer Höhe (§ 70 Abs 1 Satz 1 SGB VII).

Den beiden Pflegekindern G. und A. W. stehen neben den leiblichen Kindern K. und J. Halbwaisenrenten aus der Versicherung des infolge eines Wegeunfalles tödlich verunglückten Familienvorstandes S zu. Durch die Zuerkennung der Halbwaisenrenten für die Pflegekinder ist der gesetzliche Höchstbetrag nach § 70 SGB VII (55.410,44 DM) bei der Gesamtzahl der Hinterbliebenenrenten um 32.705,22 DM überschritten worden, so dass alle fünf Hinterbliebenenrentenansprüche nach § 70 Abs 1 Satz 1 SGB I entsprechend dem Verhältnis der Witwen- und Waisenrenten zueinander zu kürzen sind.

Der Anspruch der beiden Pflegekinder auf Gewährung von Halbwaisenrenten ergibt sich bereits aus dem im Sozialrecht grundsätzlich einheitlich geprägten Begriff der Pflegekinder. § 56 Abs 2 Nr 2 SGB I versteht darunter Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind. Das Pflegeverhältnis stellt ein tatsächliches familienähnliches Verhältnis von einer solchen Intensität dar, wie sie zwischen Kindern und Eltern üblich ist. Es dokumentiert sich in einem tatsächlichen Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis, innerhalb dessen das Kind wie zur Familie gehörend angesehen und behandelt wird. Dazu kommt neben der Personensorge auch noch die Vermögenssorge. Das Verhältnis muss auf längere Dauer angelegt sein (Kasseler Kommentar - Seewald - § 56 SGB I, RdNr 13; § 46 SGB VI, RdNr 31; BSG SozR 3-5870 § 2 Nr 16).

Die Pflegekinder A. und G. erfüllen in vollem Umfang die Kriterien, die nach der gesetzlichen Definition an die Bejahung eines Pflegekindschaftsverhältnis gestellt werden. Ab der Aufnahme in die Familie (08.08.1995) waren diese auf der Grundlage einer ideellen Dauerbeziehung gegeben, wie sie zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern bestehen. Neben der Personensorge oblag dem Ehepaar faktisch auch die Vermögenssorge. Vom KJ S. war ihnen diese für die alltäglichen Geldangelegenheiten der Kinder auch übertragen worden. Es spielt dabei keine Rolle, dass für den Unterhalt der Pflegekinder Pflegegeld von einer anderen Seite, nämlich dem Jugendamt gewährt wird (Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 56 SGB I, Anm 12; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, 600 S 3).

Auch war die Haushaltsaufnahme durch den Versicherten als Haushaltsvorstand erfolgt. Dies kommt in dem auf Dauer angelegten Zusammenleben in einer gemeinsamen Wohnung und der Versorgung der Kinder, verbunden mit der Zuwendung von Fürsorge in Form regelmäßiger Beaufsichtigung, Pflege und Erziehung wie in einer Familie zum Ausdruck (Kasseler Kommentar aaO § 46 SGB VI, RdNr 32; SozR 2200 § 1267 Nr 35). Die Haushaltsaufnahme war zudem vor dem Tod des Versicherten verwirklicht worden (Kasseler Kommentar aaO § 48 SGB VII RdNr 18, 19). Im Zeitpunkt des Todes des Versicherten waren die Pflegekinder bereits mehr als drei Jahre im Haushalt der Familie. Auf den Zeitpunkt des Todes kommt es für die Gewährung der Halbwaisenrente an die Pflegekinder entscheidend an, da eine spätere Änderung der tatsächlichen Verhältnisse den Anspruch auf Waisenrente nicht mehr berührt. Etwaige unbefriedigende Fälle (zB Ausscheiden der Pflegekinder aus dem Familienverband kurz vor oder nach dem Tod des Versicherten) müssen dabei in Kauf genommen werden.

Die beiden Pflegekinder haben danach Anspruch auf Halbwaisenrente nach § 67 Abs 1 Nr 1 iVm mit Abs 2 Nr 1 SGB VII. Da insgesamt eine Witwen- und vier Waisenrenten aus der Versicherung des verstorbenen S gezahlt werden, erfolgt zu Recht nach § 70 Abs 1 Satz 1 SGB VII eine entsprechende Kürzung der Hinterbliebenenrenten nach dem Verhältnis ihrer Höhe. Entgegen der Auffassung der Kläger fallen unter dem dort verwendeten Begriff "Waisen" (Abs 1 Satz 4) auch Pflegekinder.

Letztlich entsteht auch kein finanzieller Nachteil, da das Gesamteinkommen der fünfköpfigen Familie grundsätzlich gleich bleibt. Die Hinterbliebenenrenten entsprechen, wenn nur zwei Waisenrenten an die leiblichen Kinder oder vier Waisenrenten an leibliche und Pflegekinder gewährt werden, zusammen mit der Witwenrente 80 vH des Jahresarbeitsverdienstes (§ 70 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Unabhängig davon ist sogar derzeit auf Grund der Gewährung der Halbwaisenrente an die Pflegekinder das Familieneinkommen höher, da das Stadtjugendamt S. mit Schreiben vom 23.07.1999 auf die Überleitung der Halbwaisenrente für die Pflegekinder verzichtet hat. Dies bedeutet, dass die Halbwaisenrenten entgegen §§ 91, 93 Abs 5 SGB VIII nicht auf das Pflegegeld angerechnet werden. Auch der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat in seiner Stellungnahme vom 08.03.2001 darauf hingewiesen, dass gegenwärtig keine finanziellen Einbußen bei der Familie vorliegen.

Die vom BMA (Schreiben vom 08.08.2002) beabsichtigte Gesetzesänderung, in der - ähnlich § 70 Abs 1 Satz 4 SGB VII - ein Vorrang von Witwen und leiblichen Kindern gegenüber Pflegekindern zum Ausdruck kommen soll, hat keinen Einfluss auf die jetzige Rechtslage. Gegen diese bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere nicht im Hinblick auf Art 6 GG. Dass unter "Familie" jedenfalls die aus Eltern und Kindern bestehende Gemeinschaft zu verstehen ist, zu den Kindern aber auch Pflegekinder gehören ist allgemein anerkannt (BVerfGE 18, 97). Auch die aus dem Kind und den Pflegeeltern bestehende Pflegefamilie ist durch Art 6 Abs 1 GG geschützt (BVerfGE 68, 176 f).

Die Berufung der Kläger war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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