L 11 AL 197/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 AL 99/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AL 197/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.02.2000 und der Bescheid der Beklagten vom 05.12.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.1997 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die teilweise Aufhebung einer Arbeitslosengeld(Alg)-Bewilligung vom 09.07.1996 bis 14.11.1996 und die Rückforderung überzahlter Leistungen in Höhe von 1.332,00 DM.

Die am 1946 geborene Klägerin war zuletzt als Schreibkraft, Sachbearbeiterin und Sekretärin versicherungspflichtig beschäftigt. Nach dem Bezug von Krankengeld meldete sie sich am 09.07.1996 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Auf ihrer Lohnsteuerkarte für das Jahr 1996 war die Lohnsteuerklasse II sowie ein Kinderfreibetrag für ihre am 1977 geborene Tochter M. eingetragen. Im Antrag gab die Klägerin an, dass ihre Tochter sich vom 01.10.1995 bis voraussichtlich 30.09.1998 in einer Ausbildung als Hebamme befinde. Aus § 6 des vorgelegten Ausbildungsvertrages ging hervor, dass M. B. im ersten Ausbildungsjahr 1.194,63 DM monatlich, im zweiten Ausbildungsjahr 1.292,15 DM monatlich und im dritten Ausbildungsjahr 1.494,29 DM als Ausbildungsvergütung erhielt.

Mit Bescheid vom 25.07.1996 gewährte die Beklagte der Klägerin ab 09.07.1996 Alg nach Leistungsgruppe B/1 in Höhe von 456,60 DM wöchentlich.

Nach Eingang der Lohnsteuerkarte der Klägerin für das Jahr 1997, in der kein Kinderfreibetrag eingetragen war, hörte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 12.11.1996 zu der beabsichtigten Rückforderung von Alg an, nachdem das zu berücksichtigende Kind im Jahr 1996 ein Bruttoeinkommen von über 12.000,00 DM erzielt habe.

Mit Bescheid vom 05.12.1996 hob die Beklagte die Bewilligung von Alg an die Klägerin mit Wirkung vom 09.07.1996 teilweise auf, da die Voraussetzungen für den erhöhten Leistungssatz nicht vorgelegen hätten und forderte das überzahlte Alg in Höhe von 1.332,00 DM zurück.

Der hiergegen am 16.12.1996 eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg. Im Widerspruchsbescheid vom 07.02.1997 wies die Beklagte zur Begründung darauf hin, dass auf Seite 23 und 24 des Merkblattes für Arbeitslose, dessen Erhalt und Kenntnisnahme die Klägerin durch ihre Unterschrift im Antragsformular ausdrücklich bestätigt habe, klar und verständlich zum Ausdruck gebracht worden sei, dass über 18 Jahre alte Kinder nur berücksichtigt werden könnten, wenn ihre Ausbildungsvergütung im Jahr 12.000,00 DM nicht übersteige. Da der Klägerin die Höhe der monatlichen Ausbildungsvergütung ihrer Tochter M. bekannt gewesen sei, hätte sie unschwer erkennen können, dass das ihr nach der erhöhten Leistungstabelle bewilltigte Alg nicht stimmen konnte.

Die dagegen am 03.03.1997 von der Klägerin zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhobene Klage hat das SG mit Urteil vom 08.02.2000 abgewiesen. Die Fehlerhaftigkeit der Alg-Zahlung auf Grund des erhöhten Leistungssatzes habe die Klägerin ohne tiefer greifende Überlegungen unmittelbar aus dem Bewilligungsbescheid sowie dem Hinweis Nr 5 a im Antragsformular und den Ausführungen im Merkblatt Nr 1 für Arbeitslose (Ihre Rechte - Ihre Pflichten) auf Seite 24 erkennen können. Sofern sie sich darauf berufe, die Hinweise und Erläuterungen der Beklagten nicht gelesen zu haben, begründe gerade dies den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit. Ihr sei auch über den 30.09.1995 hinaus kein Kindergeld mehr von der Beklagten für ihre Tochter M. ausgezahlt worden, so dass sie auf Grund fehlender Einschränkungen ihrer intellektuellen Aufnahmefähigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum grob fahrlässig gehandelt habe. Infolge der Teilrücknahme der Alg-Bewilligung im streitgegenständlichen Zeitraum sei die Klägerin zur Erstattung der zu Unrecht erbrachten Leistungen in Höhe von 1.332,00 DM nach § 50 Abs 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) verpflichtet.

Gegen das ihr am 08.05.2000 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit der am 25.05.2000 beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) eingelegten Berufung.

Ihr könne keine grobe fahrlässige Unkenntnis des unrechtmäßigen Alg-Bezuges vorgeworfen werden. Sie habe die Ausbildung der Tochter sowohl im Antrag angegeben, als auch den entsprechenden Ausbildungsvertrag in Kopie vorgelegt. Die Klägerin habe deshalb keinerlei Rechtspflichten gegenüber der Beklagten verletzt und auf die Richtigkeit der Alg-Berechnung im Bescheid vom 25.07.1996 nach Vorlage aller erforderlichen Nachweise über den Leistungsanspruch vertrauen dürfen. Eine grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X liege bei ihr nicht vor.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Würzburg vom 08.02.2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 05.12.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.02.1997 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das SG habe die Klage zu Recht abgewiesen. In dem Merkblatt für Arbeitslose, dessen Erhalt und Kenntnisnahme die Klägerin im Antrag bestätigt habe, sei auf S 23 ausgeführt worden, dass ein Anspruch auf den erhöhten Leistungssatz nur dann bestünde, wenn die Arbeitslose oder ihr nicht dauernd getrennt lebender Ehegatte ein Kind im Sinne des § 32 Sätze 1, 4 und 5 Einkommensteuergesetz (EStG) habe. Beim Lesen des Merkblattes hätte die Klägerin somit ohne weiteres nachvollziehen können, dass sie lediglich Anspruch auf Leistungen in Höhe des allgemeinen Leistungssatzes hatte, so dass die Angabe im Bewilligungsbescheid vom 29.07.1996 im Feld "Leistungstabelle, Leistungssatz" den unrichtigen Eintrag "erhöhter" enthielt. Somit liege bei der Klägerin eine grobe Fahrlässigkeit von der Unrichtigkeit des Bewilligungsbescheides vor.

Auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und die Akten des SG und des BayLSG wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz = SGG) ist auch im Übrigen zulässig (§ 144 SGG).

In der Sache erweist sich die Berufung auch als begründet, denn das SG hat im angefochtenen Urteil vom 08.02.2000 zu Unrecht die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 05.12.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.02.1997 abgewiesen.

Der angefochtene Bescheid vom 05.12.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.1997 findet - entgegen der Auffassung des SG - in § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X keine Rechtsgrundlage. Danach kann ein begünstigender Verwaltungsakt wie der Bewilligungsbescheid vom 25.07.1996 teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit die Betroffene (= die Klägerin) die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der Legaldefinition des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X vor, wenn die Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl insbesondere Urteil vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R), der sich der Senat in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, ist einer Leistungsempfängerin, die die fehlerhafte Zuordnung von Tatsachen (hier der Steuerklasse zu den gesetzlichen Merkmalen) nicht aus der Bescheidbegründung erkennen kann, eine grobe Fahrlässigkeit nur dann vorzuwerfen, wenn ihr der Fehler mit ihren subjektiven Erkenntnismöglichkeiten oder aus anderen Gründen geradezu "in die Augen springt". Davon ist zum Beispiel dann auszugehen, wenn die bewilligte Lohnersatzleistung offensichtlich außer Verhältnis zu dem zugrunde liegenden Arbeitsentgelt steht.

Nach Auffassung des Senates liegt eine grobe Fahrlässigkeit in diesem Sinne bei der Klägerin nicht vor. Allein aus dem Erhalt des "Merkblattes für Arbeitslose" und der mit der Unterschrift unter dem Leistungsantrag von der Klägerin bestätigten Kenntnisnahme kann nicht gefolgert werden, dass sie seinen Inhalt auch verstanden hat, soweit aus den dortigen Erläuterungen die Alg-Höhe ab 01.10.1995 zu berechnen war (vgl BSG vom 24.04.1997 - 11 RAr 89/96). Die Klägerin konnte lediglich aus der Fassung des Bescheides vom 29.07.1996 erkennen, dass ihr Alg in Höhe von 456,60 DM wöchentlich auf Grund des "erhöhten" Leistungssatzes gewährt wurde statt der ihr ab 01.10.1995 rechtmäßig zustehenden 394,20 DM wöchentlich. Eine weitere Begründung für die fehlerhafte Zuordnung dieses Leistungssatzes konnte sie dem Bescheid dagegen nicht ohne weiteres entnehmen. Auf dessen Rückseite war lediglich ausgeführt worden, dass der erhöhte Leistungssatz gezahlt werde, wenn ein Kind zu berücksichtigen sei. Ein weiteres Berechnungsschema enthielt der Bescheid dagegen nicht.

Die Klägerin hatte den Bewilligungsbescheid vom 25.07.1996 mit dem erhöhten Leistungssatz erhalten, obwohl sie im Antragsformular die Höhe der Ausbildungsvergütung ihrer Tochter M. richtig angegeben und durch Vorlage des entsprechenden Ausbildungsvertrages auch belegt hatte. Auf Grund der Fassung dieses Bescheides war die fehlerhafte Berechnung des Leistungssatzes für die Klägerin nicht ohne weiteres erkennbar, da die Berechnung auch auf seiner Rückseite nicht in nachvollziehbarer Art und Weise dargelegt worden war.

Fehlte es jedoch an Anhaltspunkten für eine offenbare Fehlerhaftigkeit des Bewilligungsbescheides vom 25.07.1996, hatte die Klägerin keinen Anlass, die Bemessungsfaktoren des auf der Rückseite des Bewilligungsbescheides mitgeteilten Schemas oder des Merkblattes zu überprüfen oder beim Arbeitsamt nachzufragen, um Unstimmigkeiten aufzudecken (vgl BSG aaO). Sie konnte deshalb nicht ohne weiteres von einer Unrichtigkeit des Bewilligungsbescheides und somit von dessen Rechtswidrigkeit ausgehen. Sie durfte vielmehr auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns der Beklagten vertrauen.

Die Voraussetzungen für eine teilweise Aufhebung des der Klägerin ab 09.07.1996 gewährten Alg nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X lagen somit nicht vor. Andere Aufhebungstatbestände sind für den Senat nicht ersichtlich.

Auf die Berufung der Klägerin waren somit das Urteil des SG vom 08.02.2000 und der Bescheid der Beklagten vom 05.12.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.1997 aufzuheben.

Die Kostenenscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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