L 8 AL 50/97

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 Al 373/93
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AL 50/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 19. Dezember 1996 und des Bescheides vom 16. Juni 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 1993 dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger ab 3. Juni 1993 Arbeitslosengeld zu bewilligen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) ab 03.06.1993 dem Grunde nach streitig.

Der 1952 geborene Kläger erwarb in der Bundesrepublik Deutschland die Fachhochschulreife und durch Besuch der Technikerschule den Titel eines Elektrosteigers. Als solcher war er ab 20.08.1979 bei der Firma D ... GmbH in Dortmund beschäftigt. Seit 1983 hat er seinen Wohnsitz in der Niederlanden in unmittelbarer Nähe zur Grenze zur Bundesrepublik Deutschland, ca. 15 km vom nächstgelegenen Arbeitsamt Aachen entfernt.

Am 06.05.1988 erlitt er einen Arbeitsunfall und hat seitdem keine Beschäftigung mehr ausgeübt. Vom Arbeitgeber bezog er bis 17.06.1988 Lohnfortzahlung und anschließend von der Bergbau-BG bis 11.03.1993 Verletztengeld. Mit Bescheid vom 01.06.1993 wurde ihm ab 12.03.1993 Verletztenrente nach einer MdE von 30 v.H. wegen der anerkannten Unfallfolgen

"feine Narben nach operativ korrigiertem Nasenbeintrümmerbruch, in anatomisch guter Stellung verheilter Bruch des Tuberculum majus im rechten Schultergelenk, Bewegungsstörung des rechten Schultergelenkes und Beschwerden"

bewilligt. Ebenfalls für die Zeit ab 12.03.1993 wurde ihm von der Bundesknappschaft Rente wegen Berufsunfähigkeit aufgrund eines am 06.05.1988 eingetretenen Leistungsfalles bewilligt.

Der Kläger hatte sich am 03.06.1993 arbeitslos gemeldet und Alg beantragt. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16.06.1993 mit der Begründung ab, dem Anspruch stehe der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers in der Niederlanden entgegen. Mit seinem Widerspruch legte der Kläger den Bescheid der Niederländischen Arbeitsverwaltung vom 01.07.1993 vor, mit dem diese eine Leistungsgewährung ablehnte. Die Beklagte wies diesen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.07.1993 als unbegründet zurück. Der Kläger könne als Grenzgänger nach Art.71 Abs.1 Buchst.a) Ziffer ii EWG-VO 1408/71 nur Leistungen des Wohnortstaates beanspruchen.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Nürnberg (SG) mit Urteil vom 19.12.1996 abgewiesen. Es sei vorliegend nicht anzunehmen, dass der Kläger für seine berufliche Wiedereingliederung die engsten Beziehungen zum deutschen Arbeitsmarkt habe. Obwohl er in der Vergangenheit schwerpunktmäßig im Bundesgebiet in einem Bergbauunternehmen als Elektrosteiger tätig gewesen sei, sei von einer Integration in den Niederlanden auszugehen. Der Kläger sei seit 1980 mit einer niederländischen Staatsangehörigen verheiratet und verfüge im Unterschied zu vielen Grenzgängern über niederländische Sprachkenntnisse, da er nach seinen eigenen Angaben einen Sprachkurs absolviert habe. Berücksichtige man, dass bei ihm erhebliche Befunde auf psychiatrischem Fachgebiet vorlägen und eine Wiederaufnahme der ursprünglich verrichteten knappschaftlichen Tätigkeit nicht mehr möglich sei, so sei für die Prüfung der Vermittlungsmöglichkeiten lediglich auf einfache Tätigkeiten abzustellen, die er gleichermaßen in den Niederlanden wie in der Bundesrepublik Deutschland verrichten könne. Es sei unerheblich, wenn der niederländische Träger bei seiner ablehnenden Entscheidung darauf verweise, dass das Arbeitsverhältnis fortbestehe, auch wenn nach deutschem Recht davon auszugehen sei, dass Arbeitslosigkeit gegeben sein könnte. Außerdem erscheine es zweifelhaft, ob der Kläger bereit gewesen sei, sich auch für leichte, arbeitsmarktübliche Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen.

Mit seiner Berufung macht der Kläger geltend, ein so genannter unechter Grenzgänger im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu sein. Er habe auf Anraten seines deutschen Hausarztes einen Basiskurs in der niederländischen Sprache begonnen, um einer einer Vereinsamung bzw. Depression und deren Folgen entgegenzuwirken, leider mit wenig nachhaltigem Erfolg. Seine Sprachkenntnisse befähigten ihn nicht einmal, einer unqualifizierten Erwerbstätigkeit in den Niederlanden nachzugehen, wo er sich als Fremder fühle. Er sei jeder der zahlreichen Vorladungen des Arbeitsamtes gefolgt, jedoch sei ihm niemals ein einziger angepasster Arbeitsplatz angeboten worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 19.12.1996 und des Bescheides vom 16.06.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.07.1993 dem Grunde nach zu verurteilen, ihm ab 03.06.1993 Arbeitslosengeld zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 19.12.1996 zurückzuweisen.

Der Kläger sei nicht als unechter Grenzgänger im Sinne der Rechtsprechung des EuGH anzusehen. Diese Grundsätze seien eng auszulegen und nur in Ausnahmefällen anzuwenden. Es sei nicht ersichtlich, dass der Kläger persönliche und berufliche Bindungen solcher Art aufrechterhalte, dass er die besten Chancen auf eine Wiedereingliederung in der Bundesrepublik Deutschland habe. Ein Anspruch aus nationalem Recht lasse sich auch nicht aus dem Beschluss des BVerfG vom 30.12.1999, 1 BVR 809/95, herleiten, da es sich in dem vom BferfVG entschiedenen Fall um einen grenznah zur Bundesrepublik Deutschland wohnenden Angehörigen eines nicht zur EU gehörenden Staates gehandelt habe. Soweit europäisches Recht anzuwenden sei, überlagere und verdränge dieses als überstaatliches Recht das nationale. Im Übrigen hätte der Kläger der Arbeitsvermittlung im Sinne des § 103 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zur Verfügung stehen müssen; wegen der diesbezüglichen Zweifel werde auf das Urteil des SG verwiesen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetz - SGG -), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.

Das Rechtsmittel erweist sich auch in der Sache als begründet. Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Alg ab 03.06.1993.

Es kann dahinstehen, ob sich ein Anspruch des Klägers trotz des Wohnsitzes in den Niederlanden aus nationalem Recht deshalb herleiten lässt, weil nach dem Beschluss des BVerfG vom 30.12.1999, 1 BvR 809/95, die einen Anspruch grundsätzlich ausschließende Vorschrift des § 30 Abs.1 SGB I einem Leistungsanspruch nicht entgegengesetzt werden kann, wenn bei gleicher Wohnortsituation zu Recht Beiträge abgeführt und entgegengenommen wurden; entgegen der Auffassung der Beklagten lässt sich diesem Beschluss nicht entnehmen, dass diese Grundsätze nur für den Fall eines Staatsangehörigen eines Nichtmitgliedstaates der EU gelten sollen; auch wenn im vorliegenden Fall grundsätzlich die Anwendung von überstaatlichem Recht in Form des Art.71 EWG-VO 1408/71 in Betracht kommt, so dürften die Grundsätze dieses Urteils jedenfalls dann einschlägig sein, wenn im Ergebnis ein Leistungsanspruch trotz Anwendung des EG-Rechts gegen den ausländischen Versicherungsträger nicht durchsetzbar ist.

Die Zuständigkeit der Beklagten für Leistungen bei Arbeitslosigkeit ergibt sich aber in jedem Fall entsprechend dem Vorbehalt des § 30 Abs.2 SGB I zugunsten des überstaatlichen Rechts aus Art.71 Abs.1 Buchst.b) Ziffer i EWG-VO 1408/71. Art.71 Abs.1 EVG-VO 1408/71 betrifft die Gewährung von Leistungen an arbeitslose Arbeitnehmer, die während ihrer letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates wohnten; dies trifft auf den Kläger zu, da er während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates, d.h. des Staates der Beschäftigung, wohnhaft war. Zwar war er Grenzgänger im Sinne des Art.1 Buchst.b) EWG-VO 1408/71, da er während der Ausübung seiner Berufstätigkeit in der Regel täglich an seinen Wohnort in den Niederlanden zurückgekehrt ist, während Art.71 Abs.1 Buchst.b) Ziffer i EWG-VO 1408/71 einem Arbeitnehmer, der nicht Grenzgänger ist, einen Anspruch gegen den zuständigen Staat, dessen Arbeitsverwaltung er zur Verfügung steht, gewährt, als ob er in diesem Staat wohnte. Jedoch ist der Kläger aufgrund der Tatsache, dass für ihn die besten Aussichten auf eine berufliche Wiedereingliederung in der Bundesrepublik Deutschland bestehen, als "Arbeitnehmer, der nicht Grenzgänger ist", anzusehen (vgl. EuGH in SozR 6050 Art.71 Nr.8). Entgegen der Auffassung der Beklagten sind diese Grundsätze nicht eng auszulegen und nicht nur auf Ausnahmefälle beschränkt. Denn bei der Auslegung des Art.71 EWG-VO 1408/71 ist zu berücksichtigen, dass der Bestimmung des Abs.1 Buchst.a) Ziffer ii, wonach Grenzgänger bei Vollarbeitslosigkeit Anspruch auf Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnortstaates haben, die Annahme zugrunde liegt, dass die Voraussetzungen für die Arbeitsuche für einen solchen Arbeitnehmer in diesem Staat am günstigsten sind. Diese Annahme gründet sich darauf, dass ein Arbeitnehmer in der Regel zu seinem Wohnortstaat die stärkeren kulturellen und sozialen Bindungen hat, weil er dort geboren wurde und aufgewachsen ist sowie seine schulische und berufliche Ausbildung durchlaufen hat; diese Tatsachen bieten dann auch die günstigeren Voraussetzungen für eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Heimatlandes. Diese Annahme ist jedoch von vornherein nicht begründet, wenn ein Arbeitnehmer, wie der Kläger, in dem Staat seiner Beschäftigung geboren wurde und aufgewachsen ist, dort auch seine schulische und berufliche Ausbildung durchlaufen hat und ausschließlich hier beschäftigt war. Bei diesem Arbeitnehmer bestehen von vornherein deutlich stärkere Bindungen zu dem Staat seiner Beschäftigung. Die Wahl des Wohnortes im grenznahen Ausland hat in diesem Zusammenhang kaum oder nur geringe Bedeutung.

Im Falles des Klägers stellen bereits die unzureichenden Sprachkenntnisse eine wesentliches Vermittlungshindernis dar. Dafür, dass er durch den Besuch des Basissprachkurses solche ausreichenden Sprachkenntnisse erworben hat, liegen Anhaltspunkte nicht vor; jedenfalls wird dies vom Kläger glaubhaft bestritten. Zudem erschweren die bei ihm voliegenden körperlichen und psychischen Behinderungen zusätzlich eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt, so dass er um so stärker auf den Zugang zu dem ihm vertrauten Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angewiesen ist. Bei Abwägung aller Umstände sind jedenfalls die Chancen der Wiedereingliederung in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig höher einzustufen.

Im Übrigen erfüllte der Kläger bei Antragstellung am 03.06.1993 die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg gemäß § 100 Abs.1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG). Die nach § 104 Abs.1, 3 AFG erforderliche Anwartschaftszeit hat er durch den Bezug von Verletztengeld, der gemäß § 107 Satz 1 Nr.5 a AFG einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleichsteht, erfüllt. Der Kläger war und ist auch arbeitslos, auch wenn gegenwärtig noch nicht feststeht, ob das Arbeitsverhältnis bei seinem letzten Arbeitgeber wirksam gekündigt worden ist, nachdem der Kläger gegen die auf Antrag seiner letzten Arbeitgeberin vom 24.03.1993 erteilte Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zur ordentlichen Kündigung Klage zum Verwaltungsgericht Münster (Az.: 10 K 395/96) erhoben hat, über die noch nicht entschieden ist. Denn aus dem Antrag des Arbeitgebers zur Kündigung ergibt sich, dass er keine Verfügungsgewalt über den Kläger mehr beansprucht, und dieser deshalb nicht in einem Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 101 Abs.1 AFG steht.

Der Kläger stand auch der Arbeitsvermittlung im Sinn des § 103 Abs.1 AFG zur Verfügung. Der objektiven Verfügbarkeit steht nicht entgegen, dass beim Kläger Arbeitsunfähigkeit bescheinigt war. Diese Feststellung bezog sich auf die von ihm zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Elektrosteigers, die er unstreitig nicht mehr ausüben kann. Damit steht aber nicht fest, dass er nicht in der Lage war, leichte, gemäß § 168 Abs.1 Satz 1 AFG die Beitragspflicht begründende Beschäftigungen von wenigstens 18 Stunden wöchentlich (§§ 169 a Abs.1, 102 Abs.1 AFG) zu verrichten. Da im Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung vom zuständigen Rentenversicherungsträger weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit festgestellt war, wäre die Beklagte zunächst jedenfalls ohnehin zumindest nach § 105 a Abs.1 AFG zur Leistung verpflichtet gewesen; erst aufgrund des Urteils des SG Dortmund vom 09.12. 1994, S 31 (25, 9) Kn 131/89, hat die Bundesknappschaft den Rentenanspruch ab 12.03.1993 anerkannt. In diesem Urteil wurde andererseit das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit verneint. Grundlage war das nervenärztliche Gutachten des Chefarztes Dr.T ... vom 21.03. 1994, der nach Untersuchung des Klägers am 28.01.1994 feststellte, dieser könne zwar unter Tage nicht mehr eingesetzt werden, ansonsten aber noch leichte bis mittelschwere Arbeiten, sofern der rechte Arm nicht speziell eingesetzt werden müsse, vollschichtig verrichten. Der Kläger hat dieses Urteil nicht angefochten. Es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass er sich für Beschäftigungen in dem von diesem Gutachter festgestellten Umfang der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestellt hat. Seine regelmäßigen Vorsprachen bei der Beklagten und sein immer wiederholter Wunsch nach einer Umschulung dokumentieren zudem seinen Arbeitswillen. Deshalb sind nach Auffassung des Senats Zweifel an seiner subjektiven Arbeitsbereitschaft nicht berechtigt. Dem steht nicht entgegen, dass er in seinem Alg-Antrag angegeben hat, die letzte Tätigkeit nicht mehr verrichten zu können, was sich mit den Feststellungen in den Rentengutachten deckt. Die Beklagte hat es ihrerseits versäumt, Feststellungen zu dem aktuellen Leistungsvermögen des Klägers zu treffen, wozu sie verpflichtet gewesen wäre, falls sie Zweifel an der objektiven und/oder subjektiven Verfügbarkeit gehabt haben sollte. Diese Feststellungen hat sie nicht getroffen, weshalb die nunmehr von ihr geäußerten Zweifel an der Verfügbarkeit nicht schlüssig sind. Der Senat schließt sich jedenfalls bei der Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers den schlüssigen Feststellungen in dem Gutachten des Chefarztes Dr.T ... an.

Somit war die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 19.12.1996 und des Bescheides vom 16.06. 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.07.1993 dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger ab 03.06.1993 Alg zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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