L 15 BL 6/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 16 BL 3/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 BL 6/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die der Blindheit gleichzuachtende Störung des Sehvermögens kann nicht abschließend mit allen denkbaren Möglichkeiten in den Anhaltspunkten bzw. den DOG-Richtlinien festgelegt werden. Es verbleibt ein gewisser Beurteilungsspielraum der Gerichte/Verwaltung.
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.01.1998 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist es streitbefangen, ob der Klägerin ab 01.07.1996 Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) zusteht.

Am 27./28.11.1995 beantragte die am 1971 geborene Klägerin die Gewährung von Blindengeld wegen einer Retinopathia pigmentosa, wobei sie zur Begründung auf ihren behandelnden Augenarzt Dr. verwies. Nach Einholung eines Befundberichts von diesem und einer Untersuchung durch den Augenarzt Dr. lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 22.02.1996 ab, weil die Sehschärfe der Klägerin auf beiden Augen noch 0,5 betrage und keine hochgradige Gesichtsfeldeinschränkung vorliege. In ihrem Widerspruch hiergegen machte die Klägerin geltend, ihr Gesichtsfeld habe sich auf 5¬ verengt und es liege deshalb Blindheit vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 20.03.1996 führte der Beklagte aus, die Gesichtsfeldprüfung durch Dr. habe ergeben, daß eine Einengung des Gesichtsfeldes auf 6¬ vorliege und damit eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung nicht vorliege.

In ihrer hiergegen zum Sozialgericht Nürnberg erhobenen Klage (Az.: S 16/BL 3/96) hat die Klägerin vorgebracht, eine Gesichtsfeldmessung mit der Genauigkeit von einem Grad mehr oder weniger sei nicht möglich, weshalb eine erneute Untersuchung ihre Anspruchsberechtigung ergeben werde. Das Sozialgericht hat ebenfalls einen Befundbericht von Dr. beigezogen und die Klägerin von Amts wegen von Prof.Dr. untersuchen lassen. In seinem Gutachten vom 20.01.1997 ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, bei der Klägerin liege eine Sehschärfe von 0,5 vor und zugleich ein weit fortgeschrittenes Stadium einer Retinopathia pigmentosa mit erheblichen Gesichtsfeldeinschränkungen. Es lägen winzige zentrale Restgesichtsfeldinseln vor, die sich nur links nasal in einem winzigen Areal bis auf 10¬ erstreckten, ansonsten jedoch beidseits nur 5¬ oder weniger betragen würden. Die mit konstanter Geschwindigkeit ablaufende Verschlechterung des Gesichtsfelds lasse die Schätzung zu, daß etwa seit Juli 1996 eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung infolge der Gesichtsfeldeinschränkung vorliege und daher Blindheit im Sinne des Gesetzes anzunehmen sei. Hiergegen hat der Beklagte eingewandt, daß dies den Richtlinien der deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft (DOG) für die Annahme von Blindheit nicht entspreche, weil das Restgesichtsfeld auf dem linken Auge noch zu groß sei.

In einer ergänzenden Stellungnahme hierzu hat Prof.Dr. unter dem 01.08.1997 darauf hingewiesen, daß die Klägerin sehr wohl an einer funktionell bedeutsamen hochgradigen Gesichtsfeldeinengung leide und ihre Sehkraft durch Linsentrübungen in Form von Veränderungen an der Stelle des schärfsten Sehens der Netzhaut zusätzlich beeinträchtigt sei.

Mit Urteil vom 27. Januar 1998 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, der Klägerin unter Abänderung seiner Bescheide ab 01.07.1996 Blindengeld zu gewähren. In den Urteilsgründen hat es im wesentlichen darauf abgestellt, daß bei der Klägerin Blindheit im Sinne des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2 Bay/BlindG vorliege, wie der Sachverständige Prof.Dr. zutreffend festgestellt habe. Dabei sei es unerheblich, daß die Klägerin die Voraussetzungen in den Richtlinien der DOG nicht voll erfülle, da diese - wie der Beklagte selbst einräume - keine abschließende Regelung träfen. Wenn bei der Klägerin das Restgesichtsfeld auf dem besseren Auge nur in einem kleineren umschriebenen Bereich geringfügig mehr als 5¬ betrage, daneben aber noch weitere, das Sehvermögen beeinträchtigende Gesundheitsstörungen (Linsentrübung, Veränderungen der Stelle des schärfsten Sehens) vorlägen, sei auch eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung anzunehmen und könne dies - ebenfalls nach den Feststellungen von Prof.Dr. - für die Zeit ab 01.07.1996 angenommen werden. Da sich die Klägerin auch hinsichtlich des Leistungsbeginns auf das Gutachten von Prof.Dr. gestützt habe, sei der Beklagte sohin antragsgemäß zu verpflichten.

Seine dagegen beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegte Berufung hat der Beklagte im wesentlichen damit begründet, daß die Sehstörungen der Klägerin den Anforderungen der Fallgruppen der DOG nicht entspreche. Das Gesichtsfeld der Klägerin dürfe nämlich in keine Richtung über 5¬ hinausreichen und das Sozialgericht habe zu Unrecht die Beeinträchtigung ihrer Sehschärfe erschwerend gewertet.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts vom 27.01.1998 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 22.02.1996 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 20.03.1996 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.01.1998 zurückzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand des Verfahrens waren die Akte des Beklagten sowie die Akte des vorangegangenen Streitverfahrens vor dem Sozialgericht Nürnberg. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den gesamten übrigen Inhalt dieser Akten, insbesondere die genannten Gutachten und Stellungnahmen sowie die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist nach Art.7 Abs.2 BayBlindG i.V. m. § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft; einer Zulassung der Berufung nach § 144 Abs.1 Satz 1 SGG i.d.F. des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.01.1993 hat es im Hin- Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG), damit insgesamt zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet.

Hinsichtlich der Rechtzeitigkeit der Berufungseinlegung gewährt der Senat dem Beklagten nach § 67 Abs.1 SGG antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da die Berufungsfrist zwar mit Ablauf des 19.03.1998 abgelaufen war und die Berufung des Beklagten hier erst am 20.03.1998 eingegangen ist, der Beklagte jedoch nach seinem schriftlichen Vorbringen, das im Ergebnis nicht anzuzweifeln ist, diejenige Sorgfalt angewandt hat, die einem gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung vernünftigerweise zuzumuten ist. Ein Fristversäumnis, das zur Unzulässigkeit der Berufung führen könnte, hat daher im Ergebnis nicht vorgelegen.

Sachlich erweist sich die Berufung jedoch als unbegründet. Nach Art.1 Abs.2 BayBlindG ist blind, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr.1 nicht erfaßte Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachten sind.

Sachlich zutreffend hat das Sozialgericht festgestellt, daß die Klägerin die Voraussetzungen des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2 BayBlindG jedenfalls grenzwertig erfüllt. Wann eine "gleichzuachtende Störung des Sehvermögens" im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, ist im BayBlindG selbst nicht ausgeführt. Nach den Richtlinien der DOG ist dies u.a. dann der Fall, wenn eine Einengung des Gesichtsfeldes, auch bei normaler Sehschärfe, vorliegt, bei der die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5¬ vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50¬ unberücksichtigt bleiben. Diese Richtlinien, die auch in die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (1996)" aufgenommen worden sind (vgl. S.44 a.a.O.), haben jedoch - ebenso wie die "Anhaltspunkte" selbst - keinen Rechtssatzcharakter und sind daher einer, wenn auch eingeschränkten, richterlichen Kontrolle zugänglich (vgl. hierzu BSG vom 23.06.1993, 9/9a RVs 1/91). Dem entsprechend hat der Beklagte auch in seiner materiellen Arbeitsanweisung zum BayBlindG ausdrücklich ausgeführt, daß mit den von der DOG aufgestellten Fallgruppen der Anwendungsbereich des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2 BayBlindG nicht ausgeschöpft sei und deshalb Anträge auf Blindengeld nicht allein deshalb abgelehnt werden können, weil die Sehstörung von diesen Fallgruppen nicht erfaßt werde. Es sei in jedem Einzelfall eingehend zu prüfen, ob die Sehstörung nach ihrem Schweregrad nicht doch der in Nr.1 des Art.1 Abs.2 BayBlindG genannten Sehbeeinträchtigung gleichzuachten sei. Hieraus ergibt sich jedoch auch für den Senat zwanglos, daß den Feststellungen des Sachverständigen Prof.Dr. gefolgt werden kann. Die Gesichtsfeldeinschränkungen der Klägerin sind nämlich so gravierender Natur, daß sie die Qualität einer der Blindheit gleichzuachtenden Sehstörung erfüllen. Wenn Prof.Dr. in seiner Stellungnahme vom 01.08.1997 ausführt, daß das Restgesichtsfeld der Klägerin auf dem besseren linken Auge nur nasal in einem winzigen umschriebenen Bereich geringfügig größer als 5¬ sei und zusätzlich Linsentrübungen sowie Veränderungen an der Stelle des schärfsten Sehens der Netzhaut vorlägen, ist dies ausreichend dafür, eine anspruchsberechtigende Störung des Sehvermögens anzunehmen. Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten tritt damit auch nicht etwa eine Kollision der Rechtsgüter der subjektiven Anspruchsverwirklichung auf der einen Seite und der Rechtssicherheit bzw. der Gleichbehandlung auf der anderen Seite auf. Die im Text des BayBlindG nur sehr allgemein gehaltene "gleichzuachtende Störung des Sehvermögens" ist nämlich der alleinige gesetzliche Anspruchsgrund, der einer fundierten ärztlichen Prüfung und Begründung bedarf, nicht abschließend durch die bereits erwähnten "Anhaltspunkte" oder DOG-Richtlinien konkretisiert werden kann und damit allein der Prüfung zugrundezulegen ist. Dies ist durch das Sozialgericht Nürnberg zutreffend erfolgt, womit die Berufung des Beklagten mit der Kostenfolge aus den §§ 183, 193 SGG zurückzuweisen ist.

Einzuräumen ist dem Beklagten dabei, daß die "Anhaltspunkte" bzw. die DOG-Richtlinien einer sachgerechten Anspruchsprüfung in aller Regel zugrundezulegen sind. Bei nur minimalen Abweichungen von den dort formulierten Anspruchsvoraussetzungen liegt eine Zuerkennung des Anspruchs auf Blindengeld jedoch innerhalb desjenigen Beurteilungsspielraums, den das BayBlindG den Behörden der Versorgungsverwaltung und den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit einräumt.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen - soweit die landesrechtlichen Vorschriften des BayBlindG revisionsfähig sind - nicht vor, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch der Senat von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht.
Rechtskraft
Aus
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