L 20 RJ 30/97

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 Ar 213/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 30/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.10.1996 und die Bescheide der Beklagten vom 21.01.1994 und 28.09.1994, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.1995, abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, die Zeit vom 29.06.1946 bis 08.10.1986 als nachgewiesene Beitragszeit bei der Berechnung der Altersrente des Klägers zu berücksichtigen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zur Hälfte zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anrechnung und Bewertung von Versicherungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG).

Der am 1931 geborene Kläger ist am 25.03.1993 aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland übergesiedelt. Er ist als Spätaussiedler nach § 4 des Bundesvertriebenengesetzes anerkannt (§ 1a FRG). Am 18.05.1993 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung von Altersrente unter Vorlage von Auszügen aus seinem russischen Arbeitsbuch. Danach war der Kläger von 1946 an als Zimmermann (nach einjähriger berufsbegleitender Ausbildung), Takeler und Montagearbeiter beschäftigt. Seit Oktober 1986 bezog er in der Sowjetunion Altersrente. Von 1991 bis zu seiner Übersiedlung im Jahre 1993 hat er noch als Wächter im Kindergarten gearbeitet. Die Beklagte erteilte den Bescheid vom 21.01.1994, mit dem sie ab 01.06.1993 Altersrente bewilligte. Im Versicherungsverlauf zum Bescheid sind die Beitragszeiten nach dem FRG vom 29.06.1946 bis 07.10.1986 sowie vom 17.03.1991 bis 17.03.1993 in den Entgeltpunkten auf 5/6 gekürzt. Die Zuordnung der Tätigkeiten nach den Qualifikationsgruppen erfolgte für die Zeit ab 1950 in der Gruppe 5 mit Ausnahme der Zeit vom 10.08.1957 bis 08.04.1959 (Qualifikationgruppe 4). Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 02.02.1994 Widerspruch ein und verlangte im Wesentlichen, die Zeit vom 01.01.1945 bis 17.03.1993, soweit nicht mit Beitragszeiten belegt, mit Ersatzzeiten aufzufüllen, von der 30 %igen Kürzung der ermittelten Entgeltpunkte abzusehen und die Zeit ab 01.01.1950 der Qualifikationsgruppe 4 zuzuordnen. Mit Teilabhilfebescheid vom 28.09.1994 erkannte die Beklagte weitere Ersatzzeiten an und ordnete die Zeit vom 29.06.1956 bis 07.10.1986 der Qualifikationsgruppe 4 zu. Im Übrigen wies sie den Widerspruch mit Bescheid vom 13.03.1995 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 29.03.1995 Klage beim Sozialgericht Nürnberg erhoben. Eine Kürzung der Beitragszeiten auf 5/6 müsste unterbleiben, da das Arbeitsbuch durchaus als geeignetes Beweismittel für den Nachweis der Zeiten angesehen werden könne. Dies gelte um so mehr, als viele in der Bundesrepublik Deutschland auftretenden Fehlzeiten wie Streik, Aussperrung und Arbeitslosigkeit in der Sowjetunion unbekannt seien. Im Übrigen hat der Kläger weiterhin die Anwendung des Faktors 0,7 bei den Entgeltpunkten beanstandet und eine höhere Qualifikationsgruppenzuordnung für die Zeit vom 01.01.1950 bis 27.06.1956 verlangt. Mit Urteil vom 10.10.1996 hat das Sozialgericht die Klage gegen den Bescheid vom 21.01.1994 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 28.09.1994 und des Widerspruchsbescheides vom 13.03.1995 abgewiesen. Für die Anerkennung weiterer Ersatzzeiten bleibe kein Raum, da nach Erteilung des Teilabhilfebescheides vom 28.09.1994 keine Lücken im Versicherungsverlauf mehr bestünden, die aufgefüllt werden könnten. Eine ungekürzte Anrechnung von Entgeltpukten unter Berücksichtigung der in § 250 SGB VI aufgeführten Tatbestände habe der Gesetzgeber nicht vorgesehen.

Die vom Kläger in der ehemaligen Sowjetunion zurückgelegten Beitragszeiten seien auch nicht nachgewiesen im Sinne des § 22 Abs 3 FRG. Das vom Kläger vorgelegte Arbeitsbuch enthalte nur Beginn und Ende der einzelnen Arbeitsverhältnisse, sage aber über krankheitsbedingte oder andere Unterbrechungen der einzelnen Arbeitsverhältnisse nichts aus. Da der Kläger erst 1993 nach Deutschland zugezogen sei habe er auch eine Kürzung der Entgeltpunkte um 30 % hinnehmen müssen (§ 22 Abs 4 FRG). Auch die von der Beklagten zuletzt vorgenommene Zuordnung der Qualifikationsgruppen sei nicht zu beanstanden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 24.01.1997 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers. Er verlangte ua, die Beitrags- und Beschäftigungszeiten mit den vollen Tabellenwerten anzuerkennen. Der Kläger hat eine Bescheinigung seines Arbeitgebers in der Sowjetunion, Firma J. vom 31.01.1997 vorgelegt, wonach er tatsächlich vom 29.06.1946 bis 08.10.1986 dort beschäftigt war. Er habe neben seinem Jahresurlaub in der gesamten Zeit 44 Tage krankheitsbedingt gefehlt (aufgeschlüsselt nach einzelnen Jahren). Die Beklagte hält auch diese Bescheinigung nicht als Mittel des Nachweises der Beitragszeiten für geeignet.

Der Kläger beantragt nur noch,

die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 29.06.1946 bis 08.10.1986 bei der Berechnung der Altersrente zu 6/6 mit den vollen Tabellenwerten zu berücksichtigen.

Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakte des Sozialgerichts Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig; Ausschlussgründe des § 144 SGG liegen nicht vor.

Das Rechtsmittel des Klägers erweist sich im Sinne des gestellten Antrags als begründet. Die vom Kläger geltend gemachte Beitragszeit von 1946 bis 1986 ist entgegen der Auffassung der Beklagten als nachgewiesen anzusehen und daher bei der Berechnung der Altersrente mit den vollen Tabellenwerten nach dem FRG zu berücksichtigen. Nachweis einer Beitragszeit iS des § 22 Abs 3 FRG bedeutet die Führung des vollen Beweises, der - wie in anderen Rechtsgebieten auch - im Sozialversicherungsrecht mit allen Beweismitteln erbracht werden kann, soweit nicht der Kreis zulässiger Beweismittel gesetzlich eingeschränkt ist. Eine solche Beschränkung auf bestimmte Beweismittel findet aber im Rahmen der Prüfung, ob Zeiten nach §§ 15, 16 FRG nachgewiesen oder nur glaubhaft gemacht sind, nicht statt. Nachgewiesen sind Zeiten dann, wenn mit der für den vollen Beweis erforderlichen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststeht, dass sie ohne relevante Unterbrechung zurückgelegt sind. Dies kann angenommen werden, wenn eine Arbeitsbescheinigung nicht nur konkrete und glaubwürdige Angaben über den Umfang der Beschäftigungs- bzw Beitragszeiten, sondern auch über dazwischenliegende Ausfallzeiten enthält. Der Beweis einer (gemessen am Monatsprinzip) lückenlosen Beitragsleistung zur Rentenversicherung eines nichtdeutschen Versicherungsträgers wird in erster Linie durch Urkunden, amtliche Auskünfte und Zeugenaussagen geführt. Dabei wird der Urkundenbeweis regelmäßig als das zuverlässigste Beweismittel gelten können. Sowohl schriftliche Urkunden als auch die von früheren Arbeitgebern ausgestellten Bescheinigungen sind in der Regel geeignet, den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen zu erbringen. Dies gilt nach der Überzeugung des Senats auch für die hier maßgebliche Arbeitsbescheinigung vom 31.01.1997 der Firma J ... Diese Bescheinigung ist dem Kläger auf seine Anforderung von seinem Arbeitgeber in der Sowjetunion zugesandt worden; der Kläger hat das Original der Bescheinigung in der mündlichen Verhandlung vorgelegt. Die Bescheinigung entspricht den Anforderungen, die der Senat bisher an den Nachweis von Beitragszeiten nach dem FRG gestellt hat. Insbesondere enthält sie konkrete Aussagen über die üblichen, während des Arbeitslebens auftretenden Fehlzeiten, aufgeschlüsselt nach Jahren, Monaten und einzelnen Tagen. Es sind verteilt über den Gesamtzeitraum die Fehlzeiten des Klägers wegen Urlaubs und wegen Krankheit (letztere insgesamt 44 Arbeitstage) vermerkt; für die übrigen, nicht von Krankheiten betroffenen Jahre, ist jeweils eingetragen "nicht krank gewesen". Im Gegensatz zum Arbeitsbuch des Klägers ergeben sich aus dieser Bescheinigung konkrete Aufzeichnungen über Fehlzeiten, die eine Berufstätigkeit üblicherweise unterbrechen (Urlaub, Krankheit). Weitere Ausfallzeiten, zB wegen unentschuldigten Fernbleibens von der Arbeit, haben nach der Überzeugung des Senats nicht vorgelegen. Der Kläger hat glaubhaft bekundet, dass an ein unentschuldigtes Fehlen bei der Arbeit "bei den damaligen Verhältnissen nicht zu denken war". Bei der Genauigkeit, mit der die Bescheinigung durch den Arbeitgeber erstellt wurde, kann davon ausgegangen werden, dass auch weitere Fehlzeiten jeglicher Art, wenn sie vorgelegen hätten, vermerkt und aufgelistet worden wären. Ein vernünftiger Zweifel an der Echtheit und Richtigkeit dieser Bescheinigung besteht für den Senat nicht. Die Bescheinigung ist vom Direktor und vom Personalleiter des Betriebes unterschrieben und mit dem Firmenstempel versehen. Es findet sich auch kein Hinweis darauf, dass die Bescheinigung zugunsten des Klägers gefälscht oder verfälscht sein könnte. Im Übrigen stimmt der Inhalt der Bescheinigung überein mit der glaubhaften Einlassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Die Arbeitsbescheinigung vom 31.01.1997 erfüllt demnach die Anforderungen an einen Nachweis der darin bestätigten Versicherungszeiten. Fehlzeiten haben zur Überzeugung des Senats nur in dem Umfang vorgelegen, wie sie bescheinigt wurden. Auf die Berufung des Klägers waren deshalb das angefochtene Urteil und die insoweit entgegenstehenden Bescheide der Beklagten abzuändern. Da der Kläger mit seinen Klage- und Berufungsanträgen nur zum Teil erfolgreich war, sind ihm die außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zur Hälfte durch die Beklagte zu erstatten, § 193 SGG. Die Revision war gem § 160 Abs 2 SGG nicht zuzulassen. Auch im Falle des Klägers war eine Einzelprüfung hinsichtlich der Wertung und Würdigung der vorgelegten Beweismittel vorzunehmen.
Rechtskraft
Aus
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