L 9 EG 16/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 10 EG 173/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 EG 16/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 EG 4/03 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 17.Dezember 2002 wird zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist Landeserziehungsgeld (LErzg) streitig.

Die am 1975 geborene Klägerin war ursprünglich türkische Staatsangehörige. Nach ihren Angaben besitzt sie seit dem Jahre 2001 die deutsche Staatsangehörigkeit und hat seit ihrer Geburt ihre Hauptwohnung und den gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern. Die Klägerin ist seit dem 23.09.1990 verheiratet.

Für ihren am 1992 geborenen Sohn O. (O.) beantragte sie erstmals am 15.02.2002 bei dem Beklagten LErzg und berief sich unter anderem auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), wonach sie Anspruch auf diese Leistung habe.

Mit Bescheid vom 20.06.2002 lehnte der Beklagte den Antrag ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, es handele sich um einen Anspruch für Leistungszeiträume bis spätestens 28.03. 1994, also vor dem Erlass des EuGH-Urteils vom 04.05.1999.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und stellte ferner einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Den Rechtsbehelf der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.09.2002 zurück. Nachweise über die Zustellung des Widerspruchsbescheides liegen nicht vor.

Mit der am 23.10.2002 beim Sozialgericht Bayreuth erhobenen Klage trug die Klägerin im Wesentlichen vor: Sie habe nach der Geburt von O. keinen Antrag auf LErzg gestellt. Auskünfte, dass türkische Staatsangehörige LErzg nicht beanspruchen könnten, seien vom Beklagten und von anderen Behörden erteilt worden, wie etwa von den Krankenkassen. Derartige Hinweise seien auch auf den Formularen aufgedruckt gewesen. Als sie von dem Gerichtsurteil erfahren habe, nach dem auch türkische Staatsangehörige Anspruch auf LErzg hätten, habe sie einen Antrag gestellt. Eine Begrenzung des Leistungszeitraumes auf Zeiträume ab dem 04.05.1999 lasse sich dem Urteil des EuGH vom 04.05.1999 nicht entnehmen, jedenfalls nicht dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29.01.2002. Der EuGH habe den nationalen Behörden die Freiheit gelassen, die für richtig erkannte Rechtslage auch in den Fällen anzuwenden, in denen er keine Verpflichtung dazu ausgesprochen habe. Das Urteil des EuGH sei zum Kindergeld ergangen. Wegen der wesentlich kürzeren Laufzeit des LErzg kämen keine immensen Nachzahlungen auf den Staat zu. Außerdem habe sie einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie habe nämlich wegen der unrichtigen Auskünfte des Beklagten keinen Antrag gestellt. § 44 Abs.4 SGB X schließe den Anspruch nicht aus. Am 26.05.1987 habe das BSG entschieden, dass diese Vorschrift keinen allgemeinen Grundgedanken enthalte, wonach rückwirkende Leistungen auf vier Jahre zu begrenzen seien. Jedenfalls bestehe ein Amtshaftungsanspruch nach § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB).

Der Beklagte machte geltend: In der Rechtssache S. habe sich der EuGH zum erstenmal veranlasst gesehen, Art.3 Abs.1 des Beschlusses Nr.3/80 des Assoziationsrates auszulegen und habe mit Urteil vom 04.05.1999 entschieden, dass die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 nicht zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor Erlass des Urteils geltend gemacht werden könne, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt hätten. Obwohl der der S.-Entscheidung das EuGH zugrunde liegende Fall sich auf Kindergeld bezogen habe, seien die vom EuGH festgelegten Grundsätze über Ansprüche auf Leistungen für Zeiten vor Erlass des Urteils in gleicher Weise auf sonstige Leistungen anzuwenden, die nach der Rechtsprechung des EuGH als Familienleistungen in den Anwendungsbereich des Beschlusses Nr.3/80 des Assoziationsrates fielen. Den Ämtern für Versorgung und Familienförderung könne nicht unterstellt werden, dass sie türkische Staatsangehörige von der Stellung eines Antrags auf das LErzg abgehalten hätten. Der Antrag habe sowohl mit Antragsvordruck als auch formlos gestellt werden können. Der Formblattantrag für Bundeserziehungsgeld (BErzg) beinhalte immer den Antrag auf LErzg und sei somit für jeden verfügbar gewesen. Anträge seien im Übrigen bei den verschiedensten Leistungsträgern erhältlich gewesen. Weiterhin könne nicht unterstellt werden, dass die Klägerin durch eine falsche Auskunfterteilung an einer Antragstellung auf LErzg gehindert gewesen wäre. Die Verwaltung sei frühestens nach Erlass des Urteils des EuGH vom 04.05.1999 in der Lage gewesen, den betroffenen Personenkreis und damit auch die Klägerin zu informieren. Denn erst seit diesem Zeitpunkt hätten beachtliche Aussichten auf einen entsprechenden Leistungsanspruch bestanden. Ein objektiv pflichtwidriges Handeln der Versorgungsverwaltung in der davor liegenden Zeit sei nicht ersichtlich, so dass ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht gegeben sei.

Mit Gerichtsbescheid vom 17.12.2002, am 18.12.2002 den Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt, wies das Sozialgericht die Klage ab. In den Gründen führte es im Wesentlichen aus: Nach Art.3 Abs.2 des BayLErzGG a.F. sei das LErzg nur auf schriftlichen Antrag gewährt worden, rückwirkend höchstens zwei Lebensmonate vor der Antragstellung. Eine solche schriftliche Antragstellung liege im Fall der Klägerin nicht vor. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht möglich. Denn § 27 SGB X finde nur Anwendung in den Fällen, in denen jemand ohne Verschulden gehindert gewesen sei, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Art.3 Abs.2 BayLErzGG in der hier anzuwendenden Fassung enthalte jedoch keine gesetzliche Frist in diesem Sinne, sondern treffe eine materiell-rechtliche Regelung für den Beginn der Leistung. Auch über den sogenannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch könne der Klägerin die begehrte Leistung nicht gewährt werden. Selbst wenn dessen Voraussetzungen nachweisbar vorlägen, könne eine Nachzahlung nicht mehr erfolgen. Der für Erziehungsgeld zuständige Senat des Bundessozialgerichts habe in seiner Entscheidung vom 28.01.1999 (Az.: B 14 EG 6/98 B) die entsprechende Anwendung des § 44 Abs.4 SGB X in Fällen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bejaht. Das bedeute im vorliegenden Fall, dass alle diejenigen Zahlungsansprüche nicht zu erfüllen seien, die für Zeiträume vor dem 01.01.1998 bestanden hätten. Für Schadenersatzklagen nach § 839 BGB sei der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht eröffnet. Lediglich der Vollständigkeit halber werde darauf hingewiesen, dass die Entscheidung des EuGH vom 04.05.1999 nur die Wirkung ex nunc habe. Das Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und dem Beklagten sei insofern geregelt gewesen, als eben gerade kein Antrag auf Gewährung des LErzg gestellt worden sei.

Gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts richtet sich die am 17.01.2003 eingelegte Berufung der Klägerin. Diese bezieht sich im Wesentlichen auf ihr Vorbringen im ersten Rechtszug. Zusätzlich macht sie geltend: Wegen der Verweigerung des LErzg bis in das Jahr 2002 hinein könne es nicht richtig sein, darauf abzustellen, ob ein schriftlicher Antrag gestellt worden sei. Aus der Begründung des Sozialgerichts ergebe sich, dass innerhalb des BSG verschiedene Meinungen zur entsprechenden Anwendung des § 44 Abs.4 SGB X bestünden. Das Sozialgericht habe nicht ermittelt, ob sie falsch beraten worden sei und auch nicht, ob eine hilfsweise Verweisung der Schadenersatzklage an die Zivilgerichtsbarkeit gewünscht werde.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 17.12.2002 und den Bescheid des Beklagten vom 20.06. 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.09.2002 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, ihr Landeserziehungsgeld für 0. zu zahlen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Nach seiner Auffassung sei bis zum Erlass des S.-Urteils keine unrichtige Information über die Rechtslage oder eine fehlerhafte Beratung erfolgt, wenn die Behörden auf eine zu erwartende negative Entscheidung hingewiesen hätten. Zwar sei schon vor Erlass des EuGH-Urteils in der Literatur auf erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit von Art.1 Abs.1 Nr.5 BayLErzGG mit dem assoziationsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot aufmerksam gemacht worden. Angesichts der bereits zitierten Taflan-Met-Rechtsprechung des EuGH hätten die zuständigen Behörden aber mit guten Gründen davon ausgehen können, dass das Gleichbehandlungsgebot des Beschlusses des Assoziationsrates Nr.3/80 nicht unmittelbar anwendbar sei und daher gegen die Anwendung des Art.1 Abs.1 Nr.5 BayLErzGG keine durchgreifenden gemeinschaftsrechtlichen Bedenken bestünden. In dieser Situation hätten die Ämter für Versorgung und Familienförderung nicht auf die Möglichkeit einer Antragstellung zur prophylaktischen Rechtswahrung hinweisen müssen. Bloße Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Norm, wie sie bei Sozialgesetzen, die bestimmten Personengruppen Ansprüche gewährten und andere Personengruppen ausschlössen, nicht unüblich seien, begründeten keinen konkreten Anlaß, gesetzlich ausgeschlossene Personenkategorien auf die Möglichkeit einer Antragstellung und Klageeinlegung hinzuweisen. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch sei damit für Zeiträume vor dem 04.05.1999 nicht gegeben.

Anträge der Klägerin vom 21.01.2003 und 07.07.2003, ihr Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt H. beizuordnen, hat der Senat mit Beschlüssen vom 02.07.2003 und 24.07.2003 abgelehnt.

Dem Senat haben bei seiner Entscheidung die Akte des Beklagten sowie die Gerichtsakten des 1. und 2.Rechtszuges vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet; der Senat muss sie zurückweisen. Das von der Klägerin beantragte Ruhen des Verfahrens kommt mangels eines entsprechenden Antrags des Beklagten nicht in Betracht (§ 251 ZPO, § 202 SGG).

I.

Die auf Gewährung von LErzg gerichtete Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs.4 SGG hat die Klägerin zulässig erhoben.

Sie macht keinen Schadensersatzanspruch aus Amtshaftung nach § 839 BGB geltend, der auf Schadensersatz in Geld gerichtet wäre und für den gemäß Art.34 Satz 3 des Grundgesetzes (GG) der Rechtsweg zu den Zivilgerichten gegeben wäre (vgl. BSGE 70, 186, 189; weitere Nachweise z.B. bei Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 51 Rdnr.60). Die rechtskundig vertretene Klägerin hat zwar Ausführungen zu dieser Anspruchsgrundlage gemacht und mit ihrer Berufung insoweit die Entscheidung des Sozialgerichts angegriffen. Andererseits hat sie auch im zweiten Rechtszug nicht Schadenersatz in Geld beantragt und auch keine Verweisung an das zuständige Zivilgericht, sondern die Gewährung des LErzg. Daher sind ihre Ausführungen im Zusammenhang mit dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch und als dessen zusätzliche Begründung zu sehen.

II.

Die auf Gewährung des LErzg gerichtete Klage ist aber nicht begründet; die Klägerin hat keinen Anspruch auf diese Leistung für O.

1. Anspruchsgrundlage für das begehrte LErzg kann nur Art.1 des BayLErzGG in der Fassung vom 12.06.1989, Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 206, sein. Diese Gesetzesfassung ist hier anzuwenden, weil das Kind O. vor dem 01.07.1993 geboren ist (vgl. Art.9 a Abs.1 Buchst. a BayLErzGG i.d.F. des Gesetzes von 26.07.1995, Gesetz und Verordnungsblatt S.387). Da der Anspruch auf BErzg für den am 29.03.1992, also nach dem 30.06.1990 und vor dem 01.01.1993 geborenen O. 18 Monate dauerte (§ 4 Abs.1 BErzGG, vgl. Zmarzlik/Zipperer/Viethen, Mutterschutzgesetz, Mutterschaftsleistungen, Bundeserziehungsgeldgesetz, 7. Auflage 1994, § 4 BErzGG Rdnr.1) und LErzg im Anschluss daran für weitere sechs Lebensmonate gewährt würde (Art.3 Abs.1 BayLErzGG), umfasste der mögliche Anspruchszeitraum für LErzg die Zeit vom 29.09.1993 - 28.03.1994.

Nach Art. 1 Abs.1 Satz 1 BayLErzGG in der genannten Fassung hat Anspruch auf LErzg, wer (1.) seine Hauptwohnung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit der Geburt des Kindes, mindestens jedoch fünfzehn Monate in Bayern hat, (2.) mit einem nach dem 30. Juni 1989 geborenen Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt, (3.) dieses Kind selbst betreut oder erzieht, (4.) keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt und (5.) die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften besitzt.

Nach den Angaben der Klägerin im Antrag auf LErzg hat sie die Voraussetzungen Nr.1 bis 4 der Vorschrift erfüllt. Nähere Ermittlungen zu der Frage, ob sie im Anspruchszeitraum keine, auch keine volle Erwerbstätigkeit im Sinne der Nr.4 ausgeübt hat, wären zwar grundsätzlich wegen der auf die Zukunft bezogenen Fassung der Frage angebracht. Doch sind sie hier entbehrlich, weil die Klägerin, die gemäß ihren Angaben im Jahre 2001 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, im Anspruchszeitraum noch nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften (Europäischen Union) besessen hat.

2. Diesem Ergebnis steht für den hier in Betracht kommenden Anspruchszeitraum nicht übergeordnetes europäisches Recht entgegen. Es ist zwar nunmehr anerkannt, dass der Ausschluss in Bayern wohnender türkischer Staatsangehöriger vom LErzg nicht mit dem Diskriminierungsverbot des europäisch-türkischen Assoziationsrechts vereinbar war (BSG 29.01.2002 - B 10 EG 2/01 R = BSGE 89, 129; Urteil des Senats vom 19.12.2000 - L 9 EG 7/00). Doch kann nach der hier maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 04.05.1999 - C 262/96 S. = SozR 3-6935 Allg EWG Abk Türkei Nr.4, insbesondere Seite 51, 52) die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 des Assoziationsratsbeschlusses (ARB) Nr.3/80 nicht zur Begründung von Leistungsansprüchen für Zeiten vor dem Erlass des EuGH-Urteils geltend gemacht werden, soweit nicht davor "gerichtlich Klage erhoben oder ein gleichwertiger Rechtsbehelf eingelegt" worden ist (EuGH a.a.O. S.52).

Diese zeitliche Begrenzung der Urteilswirkung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, worin bei Vorliegen hinreichender Gründe, etwa einer nicht tragbaren Belastung des Sozialleistungssystems eine Rückwirkung ausgeschlossen wurde, soweit nicht das Verfahren noch rechtshängig ist (EuGH Urteil vom 15.01.1986 Rechtssache 41/84, Entscheidungssammlung 1986,1 Rdnr.27-30; vgl. zusammenfassend Borchardt in: Fuchs (Hrsg), Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 3. Auflage 2002, S.753 ff.).

3. Die genannte Rechtsprechung des EuGH stellt keine Besonderheit dar, sondern entspricht grundsätzlich dem in § 79 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) niedergelegten Rechtsgedanken, der vom Bundesverfassungsgericht als verfassungmäßig bestätigt worden ist (BVerfGG 7, 194, 195 ff.; 20, 230, 235). In dieser Vorschrift werden die Folgen geregelt, die eintreten, wenn eine Norm für verfassungswidrig erklärt wird. Der Gesetzgeber hat sich darin in dem Konflikt zwischen zwei Elementen des Rechtstaatsprinzips, der Einzelfallgerechtigkeit und dem Rechtsfrieden (zu dem die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen gehört), mit bestimmten Ausnahmen für den letzteren Grundsatz entschieden (vgl. näher BVerfGE 7, 194, 196).

Akte der öffentlichen Gewalt, deren Rechtsgrundlage mit der Verfassung nicht vereinbar war, bleiben danach prinzipiell unangetastet, wenn sie im Rechtsweg nicht mehr angefochten werden können. Eine dem § 79 BVerfGG entsprechende Regelung findet sich in § 183 der Verwaltungsgerichtsordnung. Das BVerfG hat anerkannt, dass § 79 BVerfGG einen allgemeinen Rechtsgedanken enthält (BVerfGE 37, 217, 263; 97, 35, 48). Dieser beruht letztlich auf der Einsicht, dass der Rechtsgemeinschaft nicht gedient ist, wenn deren Mittel und Kapazitäten von der Bearbeitung abgeschlossener oder nie in Gang gesetzter Rechtsfälle aus der Vergangenheit beansprucht würden, so dass dadurch die Erfüllung gegenwärtiger und zukünftiger Aufgaben erheblich beeinträchtigt wäre (vgl. zum unangemessenen Verwaltungsaufwand BVerfGE 97, 35, 48). Daher muss dem Bürger eine Anfechtungslast aufgebürdet werden: Wer eine Entscheidung akzeptiert, muss sich grundsätzlich auch bei späterer Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrundlage daran festhalten lassen (zum Ganzen vgl. Bethge in Maunz/Schmidt - Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 79 insbesondere Rdnr. 2, 5, 9; zum Streit, ob § 44 SGB X eine Ausnahme von den Grundsätzen des §§ 79 BVerfGG darstellt, vgl. Spellbrinck/ Hellmich, Die Sozialgerichtsbarkeit 2001, S.605 mit weiteren Nachweisen).

Nach alledem bestehen somit im nationalen Recht Rechtsgrundsätze, die denjenigen entsprechen, die der EuGH in seiner Entscheidung vom 04.05.1999 angewendet hat.

4. In der vorliegenden Streitsache kann ein Anspruch auf LErzg für die Klägerin nur bestehen, wenn das Gleichheitsgebot des Art.3 Abs.1 ARB 3/80 rückwirkend angewandt würde.

Die dafür vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen erfüllt die Klägerin jedoch nicht. Denn sie hat vor dem 04.05.1999 Landeserziehungsgeld für O. schon bei der Beklagten nicht beantragt und erst recht nicht Klage erhoben.

Die in diesem Zusammenhang vorgetragenen Argumente der Klägerin treffen nicht zu. Der EuGH hat den Ausschluss der Rückwirkung seines Urteils mit zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit begründet, nachdem seine frühere Entscheidung in Sachen Taflan-Met Ungewissheit über die Rechtslage bewirken konnte. Hinsichtlich der finanziellen Konsequenzen einer Rückwirkung hat sich der EuGH auf den Vortrag der angehörten Regierungen bezogen, die "schwerwiegende finanzielle Konsequenzen" für die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten befürchteten (EuGH a.a.O., Seite 51). Unter diesem Aspekt ist die Äußerung des EuGH (a.a.O. S.52) zu verstehen, wo von eine "Erschütterung" der sozialen Sicherheitssysteme die Rede ist. Schwerwiegende finanzielle Folgen träten hier aber ein, wenn die EuGH-Entscheidung unbegrenzt in die Vergangenheit zurückwirkte. Hierbei ist die hohe Zahl von Personen zu berücksichtigen, die Anspruch auf LErzg haben, ferner der ungewöhnliche und daher hohe Kosten verursachende personelle und organisatorische Aufwand, den die Verwaltung zusätzlich neben den laufenden Aufgaben zu bewältigen hätte und der durch die gegebenenfalls auftretenden Schwierigkeiten, lange zurückliegende Tatbestände aufzuklären, noch weiter vergrößert würde.

5. Die von der Klägerin bereits im Widerspruchsverfahren beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die zeitlichen Grenzen der EuGH-Entscheidung vom 04.05.1999 kann nicht gewährt werden. Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand findet gemäß § 27 Abs.1 Satz 1 SGB X Anwendung nur bei "gesetzlichen Fristen", wobei neben Verfahrens- auch materiell-rechtliche Fristen in Betracht kommen (vgl. die Nachweise bei Kasseler Kommentar-Krasney, § 27 SGB X Rdnr.3). Um die Setzung einer Frist in diesem Sinne handelt es sich bei der zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des EuGH-Urteils auf Fälle schon erhobener und noch anhängiger Klagen nicht.

Während bei einer Frist aus verschiedenen Gründen von vornherein zeitliche Grenzen für Rechtshandlungen gesetzt werden, so dass ein Verschulden in Bezug auf die Einhaltung der Frist geprüft werden kann, wird hier die nachträgliche Durchsetzung höherer Normen gegenüber untergeordneten Rechtsvorschriften aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens zeitlich beschränkt. Diese Beschränkung verfehlte ihren Zweck, wenn über § 27 SGB X Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich wäre.

6. Schließlich kann dem Beklagten auch nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegengehalten werden. Danach läge eine unzulässige Rechtsausübung vor, wenn die Verwaltung sich auf einen Leistungsausschluss beriefe, den sie selbst pflichtwidrig (mit)herbeigeführt hat (vgl. etwa BSG 14.02.1989 SozR 4100 § 66 AFG Nr.2 Seite 13 m.w.N.).

Doch darf mit diesem Rechtsinstitut nicht die schon beschriebene, aus allgemeinen Rechtserwägungen erforderliche zeitliche Grenze bei der Durchsetzung von höherrangigen Normen vollständig aus den Angeln gehoben werden. Handelt eine Behörde daher gemäß sie bindendem Recht und erteilt sie dementsprechende Auskünfte, so verhindert sie jedenfalls nicht pflichtwidrig die Geltendmachung von Rechten Einzelner, wenn diese wegen der Auskünfte keine Leistung beantragen oder den Rechtsweg nicht beschreiten.

Dass muss vor allem dann gelten, wenn - wie hier - vor der Klarstellung durch die EuGH-Entscheidung vom 04.05.1999 die Vereinbarkeit der landesrechtlichen Norm mit europäischem Assoziationsrecht durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigt worden war (vgl. BSG Urteil vom 03.11.1993 - 14 b REg 6/93 = SozR 3-6935 Allg EWG-Abk Türkei Nr.1; zum baden-württembergischen Landeserziehungsgeld vgl. BVerwG Urteil vom 18.12.1992 - 7 C 12.92, Deutsches Verwaltungsblatt 1993 S.787, Verfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen, Beschluss vom 28.03.1995 - 2 BvR 368/93). Wenn die Klägerin mit dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht einverstanden war, wäre es ihr zuzumuten gewesen, unter Hinweis auf Bedenken in der einschlägigen Literatur vorsorglich das LErzg zu beantragen und den Rechtweg zu beschreiten (vgl. z.B. BSG 14.02.1989 SozR 4100 § 66 Nr.2 Seite 14 zur Anzeige des Arbeitsausfalls bei einer kontrovers diskutierten Rechtsfrage).

Eine andere Beurteilung wäre allenfalls zu erörtern, wenn die Behörde etwa nachweislich entgegen dem klar geäußerten Willen des Antragstellers und unter Verstoß gegen Verwaltungsverfahrensrecht Anträge nicht angenommen oder nicht verbeschieden hätte und die Erhebung einer Klage unmöglich oder unzumutbar war. Für einen solchen Sachverhalt finden sich hier aber keine Anhaltspunkte.

7. Auskünfte oder Beratungen des Beklagten, wonach ein Anspruch auf Landeserziehungsgeld nicht gegeben sei, können auch nicht über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu einer Leistung an die Klägerin führen. Die dafür nötige Pflichtverletzung des Beklagten ist nicht in einer bloßen Beratung oder Auskunftserteilung entsprechend den Vorgaben eines formellen Gesetzes und der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu sehen, auch wenn letztere aus später geänderter Sicht unrichtig war. Anderenfalls würden die zeitlichen Begrenzungen völlig unterlaufen, die der EuGH hinsichtlich der Auswirkungen eines Verstoßes gegen höherrangige Normen für geboten erachtet hat und die gemäß § 79 BVerfGG ähnlich im nationalen Recht geregelt sind. Der Senat muss daher nicht dazu Stellung nehmen, ob der Herstellungsanspruch zu Recht nach einer erheblichen Meinung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch der Vierjahresgrenze des § 44 Abs.4 SGB X unterliegt (vgl. BSG SozR 1300 § 44 Nr.24 und 25; SozR 3-1300 § 44 Nr.25 S.60 zum Erziehungsgeld; vgl. auch die Nachweise bei Kasseler Kommentar - Steinwedel § 44 SGB X Rdnr.47).

8. Schließlich führt in der vorliegenden Streitsache auch § 44 SGB X nicht zu einem Erfolg der Berufung. Da die Klägerin keinen Antrag auf LErzg für O. gestellt und der Beklagte demgemäß auch keinen belastenden Verwaltungsakt erlassen hat, trifft § 44 Abs.1 SGB X schon nach seinem Tatbestand nicht zu.

Die Klägerin hat nach alledem keinen Anspruch auf LErzg für O. Auf die vom Sozialgericht zusätzlich behandelte und verneinte Frage, ob die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Zweimonatsfrist des Art.3 Abs.2 BayLErzGG vom 12.06.1989 beanspruchen kann, kommt es daher nicht mehr an.

Die Berufung der Klägerin ist somit nicht begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nach Prüfung von § 160 Abs.2 Nr.1 SGG zugelassen. Die höchstrichterliche Klärung der in der Senatsentscheidung angesprochenen Fragen ist im Hinblick auf die hohe Zahl ähnlicher Fälle zweckmäßig (vgl. BSGE 2, 129, 132; weitere Nachweise bei Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 160 Rdnr.6 b).
Rechtskraft
Aus
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