L 5 RJ 98/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 5 Ar 342/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 RJ 98/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein sowohl in seinem Beruf als Elektriker (zuletzt: Kundendienstmonteur) als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig einsatzfähiger Versicherter ist nicht deshalb berufs- oder erwerbsunfähig, weil er sich wegen einer schweren Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und schizoiden Zügen bei sexual neurotischer Entwicklung mit Störungen der Sexualpräferenz im Sinne einer heterosexuellen Pädophilie im Rahmen von Maßregeln der Sicherung und Besserung in einer psychiatrischen Anstalt (Sicherheitsverwahrung) befindet.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 8. Dezember 1997 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am 1947 geborene Kläger befindet sich derzeit im Rahmen von Maßregeln der Sicherung und Besserung in einer psychiatrischen Anstalt (Sicherheitsverwahrung) und ist ganztägig in der Korbflechterei des Bezirkskrankenhauses S. tätig.

Er hat den Beruf des Elektrikers erlernt und war bis zu seiner Inhaftierung am 16.02.1993 als Kundendienstmonteur (Reparatur von Haushaltsgroßgeräten, Behebung von Störungen in elektrischen Anlagen und Installation von Antennenanlagen und Heizungssteuerungen mit Entlohnung nach Gruppe 7 des Manteltarifvertrags für das bayerische Elektrohandwerk) versicherungspflichtig beschäftigt.

Seinen am 26.08.1994 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 02.01.1995 ab. Ebenso wies sie seinen Widerspruch nach einer Stellungnahme der Nervenärztin Dr. K. vom 08.02.1995 am 15.03.1995 zurück.

Auf die vom Kläger erhobene Klage zum Sozialgericht Landshut (SG) ist ein Gutachten des Arztes für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie Dr. P. vom 25.09.1997 eingeholt worden. Darin ist anamnestisch geschildert, dass der Kläger am 28.04.1994 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden ist. Der Kläger leide an einer schweren Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und schizoiden Zügen. Im Hinblick auf die bisherigen Therapieerfolge sei mit einer großen Wahrscheinlichkeit noch von einer längerfristigen Unterbringung auszugehen. Insgesamt sei von einer Verschlechterung des Zustandbildes auszugehen, der Kläger könne aber noch mittelschwere Arbeiten vollschichtig verrichten und seiner Tätigkeit als Elektriker nachgehen.

Durch Urteil vom 08.12.1997 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat den Kläger weder für berufs- noch für erwerbsunfähig angesehen, da dieser trotz der vorhandenen Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet vollschichtig eine Tätigkeit als Elektriker verrichten könne.

Seine Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger damit begründet, dass vor allem auf Grund der vom Sachverständigen festgestellten Verschlimmerung eine vollschichtige Eingliederung in das Erwerbsleben unmöglich sei. Vor allem sei die soziale Funktionsfähigkeit massiv gestört.

Der Senat hat einen Befundbericht des Bezirkskrankenhauses S. vom 10.02.1999 beigezogen und schließlich bei dem Nervenarzt Dr. L. ein Gutachten vom 22.05.2001 eingeholt, wonach der Kläger zwar an einer Persönlichkeitsstörung leide, diese sich aber nicht im Bereich der Erwerbs- und Berufstätigkeit auswirke. Bei der Eigenart der vorliegenden Störung seien diesbezüglich Einschränkungen auch nicht zu erwarten und auch in der Vergangenheit nicht beobachtet worden. Seit der Begutachtung durch Dr. P. sei keine wesentliche Sachverhaltsänderung eingetreten. Die einzige vom Sachverständigen gemachte Einschränkung beziehe sich darauf, dass dem fachlichen Wissenstand nach langjähriger unterbringungsbedingter Nichtausübung des Berufs unter Umständen Hindernisse entgegenstünde.

Nach der vom Senat beigezogenen Schwerbehindertenakte ist mit Bescheid vom 16.05.2001 ein GdB von 70 wegen 1. seelischer Störung, Verhaltenstörung, Beeinträchtigung der Gehirnfunktion 2. Sehminderung links festgestellt worden.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Landshut vom 08.12.1997 sowie des Bescheides vom 02.01.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.1995 zu verurteilen, ihm ab 01.09.1994 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Landshut vom 08.12.1997 zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten erster und zweiter Instanz, der Beklagten und des Amtes für Versorgung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151, 153 Abs. 1, 87 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz in der Fassung des Rechtspflegevereinfachungsgesetzes vom 11.01.1991 - SGG ) ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Das SG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger kein Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zusteht.

Nach §§ 43, 44 SGB VI bestehen bei erfüllter Wartezeit (Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten) und versicherungsfallnaher Belegungsdichte (sog. 3/5-Belegung, hier bis 01.04.1995 gegeben, vgl. BVerfGE 75, 78, Beschluss vom 14.11.2000 - 1 BvL 9/89 in NZS 01, 255) Ansprüche nur, wenn Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit vorliegt. Dies ist ein Versicherter nach §§ 43,44 Absätzen 2 SGB VI idF des RRG aber auch schon unter Geltung der RVO (§§1247, 1248), wenn seine Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung (früher: Krankheit, Gebrechen oder körperlicher, geistiger oder seelischer Schwäche) herabgesunken ist. Je nach Versicherungsfall der Erwerbs- oder Berufsfähigkeit war dazu ein bestimmtes Ausmaß (Lohnhälfte oder Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit unter einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße) erforderlich. In der ab 01.01.2001 geltenden Fassung des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist voll erwerbsgemindert, wessen Leistungsvermögen unter drei Stunden gesunken bzw. teilweise erwerbsgemindert, wer nicht mehr zu vollschichtiger Tätigkeit (6 Stunden) imstande ist.

Beim Kläger fehlt es an jeglicher Minderung der Erwerbsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht. Alle Sachverständige halten ihn sowohl in seinem Beruf des Elektrikers, wie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für vollschichtig einsatzfähig. Weder seine seelische Störung noch seine Sehminderung wirken sich auf den Bereich der Erwerbs- und Berufstätigkeit aus. Dr. P. stellt in seinem Gutachten vom 25.09.1997 zwar eine schwere Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und schizoiden Zügen bei sexual neurotischer Entwicklung mit Störungen der Sexualpräferenz im Sinne einer heterosexuellen Pädophilie fest, ohne dass der Kläger dadurch an der Verrichtung mittelschwerer Arbeiten und einer Tätigkeit als Elektriker gehindert ist. Auch hat der Kläger selbst angegeben, von seiner alten Firma bereits eine Einstellungszusage für die Zeit nach seiner Entlassung erhalten zu haben. Auch der Nervenarzt Dr. L. diagnostiziert in seinem Gutachten vom 22.05.2001 ein beanstandungsfreies Arbeits- bzw. Lernverhalten. Auch dort hat der Kläger ein Schreiben seiner früheren Firma vom 22.03.2001 vorgelegt, wonach er jederzeit seine Arbeit als Kundendienstmonteur aufnehmen könne, wenn er dies nur wünsche. Die vorhandene Persönlichkeitsstörung wirkt sich nach Ansicht auch dieses Sachverständigen nicht auf dem Bereich der Erwerbs- und Berufstätigkeit aus. Bei der Eigenart der vorliegenden Störung sind diesbezüglich Einschränkungen nicht zu erwarten und auch in der Vergangenheit nicht beobachtet worden.

An diesem Sachverhalt ändern auch die Feststellungen in der auf Wunsch des Klägers beigezogen Schwerbehindertenakte nichts, wonach mit Bescheid vom 16.05.2001 ein GdB von 70 wegen einer seelischen Störung (Verhaltenstörung, Beeinträchtigung der Gehirnfunktion) und einer Sehminderung links bescheinigt ist. Nach dem Bericht des Dr. W. vom 16.03.2001 beträgt das Sehvermögen 1,0 bzw. 0,2 auf dem linken Auge. Dadurch ergibt sich keine maßgebliche Beeinträchtigung des Erwerbsvermögens. Weder liegen entsprechende Feststellungen der Sachverständigen vor, noch rechtfertigt dies der vorhandene Grad der Behinderung.

Damit wird vom Senat nicht in Abrede gestellt, dass auch psychisch bedingte Störungen zur BU bzw. EU führen können (BSG SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO; BSGE 21, 189 = SozR Nr. 39 aaO; SozR Nr. 76 § 101 Nr. 5 = NZS 1994, 140), nur ist dies nach den Feststellungen der Sachverständigen - wie oben dargestellt - hier nicht der Fall. Das Hindernis in der Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch die Beschränkung der Freizügigkeit ist nicht vom Risikobereich der gesetzlichen Rentenversicherung erfasst. Die zur Erreichung des Gesetzeszweckes maßgeblichen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit sind im SGB VI erschöpfend aufgezählt. Nach §§ 43, 44 Abs. 2 S 1 liegt BU/EU nur vor, wenn die Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte bzw. unter den Umfang einer regelmäßigen Beschäftigung gesunken ist. Andere Ursachen als Krankheit oder Behinderung (z.B. Freiheitsbeschränkung) sind unbeachtlich, ohne dass dies verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt, da der Gesetzgeber - auch nach Ansicht des Senats - nicht gezwungen ist, eine Alters- und Erwerbslosenvorsorge für den Strafvollzug zu schaffen (vgl. BVerfGE 75, 78, Beschluss vom 14.11.2000 - 1 BvL 9/89 in NZS 01, 255).

Die vom Sachverständigen Dr. L. angeführte Einschränkung, wonach der fachliche Wissenstand nach langjähriger unterbringungsbedingter Nichtausübung des Berufs unter Umständen Probleme bereiten könne, ist ebenfalls kein rentenrechtlich relevanter Umstand. Dies ist dem Risikobereich der Arbeitsverwaltung zuzurechnen und findet nach § 37 Straffvollzugsgesetz vom 16.03.1976 Berücksichtigung.

Trotz festgestellter vollschichtiger Einsatzfähigkeit liegt im Falle des Klägers auch kein verschlossener Arbeitsmarkt vor. Ausnahmsweise kann der Arbeitsmarkt als verschlossen gelten, wenn nurmehr die entfernte, theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten und eine Verweisung auf diese verbliebene Erwerbsfähigkeit unzumutbar wäre (BSGE 56, 64, 68 = SozR 2200 § 1246 Nr. 110). So kann beim Vorliegen einer schweren spezifischen Leistungseinschränkungen nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für an sich mögliche Vollzeittätigkeiten eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen gibt (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 136 = NZA 1987, 38). In diesen Fällen sind auch bei Ungelernten konkrete Verweisungstätigkeiten zu benennen. Es liegen aber keine im Gesundheitszustand des Klägers begründeten Hinweise auf eine derartige schwere spezifische Leistungseinschränkung vor. Keiner der Sachverständigen gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Konzentrationsfähigkeit des Klägers in beruflicher Hinsicht eingeschränkt oder sein Denkvermögen durch seine mit einem GdB von 70 festgestellte psychische Störung derart gemindert ist oder dass ein derart erheblicher Kontrollverlust besteht, dass ein berufliches Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt wäre. Dementsprechend bestehen auch keine Zweifel am beruflichen Einsatzvermögen des Klägers unter betrieblichen Arbeitsbedingungen (Seltenheitsfälle). Der Arbeitsmarkt gilt zwar trotz an sich vollschichtiger Einsatzfähigkeit als verschlossen, wenn nur unter nicht betriebs- üblichen Arbeitsbedingungen gearbeitet werden kann (BSGE 44, 39, 40 = SozR 2200 § 1246 Nr. 19; SozR aa0 Nr. 22). Danach muss auch die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit üblichen Bedingungen entsprechen (vgl. BSGE 44, 164, 172 = SozR 4100 § 134 Nr. 3; SozR 4100 § 103 Nr 17 und 23). Vergleichbare Einschränkungen sind für den Kläger auf seinem Berufsfeld des Elektrikers nicht ersichtlich. Weder sind durch seine Verurteilung bestimmte Umgangsverbote ausgesprochen worden, noch stünden derartige Beschränkungen in irgendeinem Bezug zur bislang vom Kläger ausgeübten Berufstätigkeit. Es deutet nichts darauf hin, dass es sich hier um den besonderen Fall handeln könnte, in dem es nahe liegt, dass ein in Betracht gezogener Arbeitsplatz trotz seiner tariflichen Erfassung nur in ganz geringer Zahl vorkommt. Eine eventuell ablehnende Haltung von Arbeitgebern bei der Beschäftigung ehemaliger Strafgefangener bzw. sicherheitsverwahrter Personen bezieht sich ersichtlich auf die Eigenschaften dieses Personenkreises, nicht jedoch auf die Art der für diese geeigneten Arbeitsplätze. Nach der zutreffenden Rechtsprechung des BSG (8. November 1995, 13/4 RA 93/94, BSGE 77, 43 = SozR 3-2600 § 44 Nr. 5 = NZS 1996, 286) kann eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes wegen subjektiver Vorbehalte seitens der Arbeitgeber (und der Belegschaften) nur mit Zurückhaltung bejaht werden. Die der Beschäftigung entgegenstehenden Hemmungen müssen derart stark sein, dass praktisch kein Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Zum anderen kann nicht jedweder noch so starker Vorbehalt zu einem Rentenanspruch führen. Es ist hier auf die Beurteilung "vernünftig und billig denkender Arbeitgeber" abzustellen (vgl. dazu BSGE 9, 192, 194 f; BSG, Urteil vom 21. Juli 1992 - 4 RA 13/91 ). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es zu den Aufgaben der Arbeitsverwaltung gehört, unbegründete Vorbehalte der Arbeitgeber gegen die Einstellung Arbeitsuchender abbauen zu helfen (vgl. § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB III, wonach ggf. für Gefangene ein Versicherungsverhältnis besteht), ebenso wie Hilfen zur Entlassung durch die Justizverwaltung zu erbringen sind (§ 74 StVollzG). Schließlich liegt auch bereits ganz konkret eine Einstellungszusage des ehemaligen Arbeitgebers des Klägers für die Zeit nach dessen Entlassung vor.

Insgesamt war daher die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe zur Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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