L 18 SB 12/96

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 Vs 58/94
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 12/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Das Merkzeichen G kann bei nachgewiesener ursprünglicher rechtswidriger Bewilligung nicht im Wege des § 66 SGB I entzogen werden, wenn der Behinderte eine Nachuntersuchung ablehnt. Die Rücknahme des fehlerhaften Verwaltungsaktes kann nur im Wege des § 45 SGB X erfolgen.
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 07.11.1995 wird zurückgewiesen.
II. Die Anschlussberufung der Klägerin wird als unzulässig verworfen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Klägerin nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) weiterhin ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 50 und die Merkzeichen G, B und RF zustehen.

Bei der Klägerin waren ursprünglich mit Bescheid vom 29.12.1988 mit einem GdB von 40 anerkannt: 1. Labiler Bluthochdruck bei psychovegetativer Stigmatisation und Mitralklappenprolaps 2. Rezidivierendes Lumbalsyndrom bei Skoliose und Beckenschief- stand 3. Sehminderung beidseits.

Eine Neufeststellung lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 01.06.1990 ab. Im Widerspruchsverfahren stellte der Beklagte nach versorgungsärztlicher Untersuchung durch den Nervenarzt Dr ... (Gutachten vom 08.11.1991) und die Augenärztin Dr ... (Gutachten vom 29.06.1992) mit Abhilfebescheid vom 04.09.1992 als Behinderungen mit einem GdB von 100 fest: 1. Sehminderung beidseits mit Gesichtsfeldeinschränkung 2. Persönlichkeitsstörung mit funktionellen Manifestationen 3. Labiler Bluthochdruck, Mitralklappenprolaps 4. Rezidivierendes Lumbalsyndrom bei Skoliose und Beckenschief- stand. Die Merkzeichen B, G, H und RF wurden zuerkannt.

Im Widerspruchsverfahren begehrte die Klägerin zusätzlich die Zuerkennung der Merkzeichen aG und Bl. Mit Schreiben vom 19.08.1993 hat der Beklagte die Klägerin zur Teilnahme an einer augenärztlichen Untersuchung in einer Universitätsklinik aufgefordert, da erhebliche Zweifel an der bisherigen Einstufung der Sehbehinderung bestanden. Für den Fall der Verweigerung kündigte der Beklagte den Entzug der Leistung an. Die Versorgungsärzte Dr ... und Dr ... gingen in ihren Stellungnahmen vom 10.11.1993 davon aus, dass die Anerkennung der Sehminderung "sicher unrichtig" bzw "unzweifelhaft unzutreffend" sei. Nachdem die Klägerin diese Untersuchung verweigerte, hob der Beklagte den Bescheid vom 04.09.1992 nach § 66 Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) mit Bescheid vom 04.01.1994 teilweise auf. Er stellte nunmehr als Behinderungen mit einem GdB von 50 ab 01.02.1994 fest: 1. Persönlichkeitsstörung mit funktionellen Manifestationen 2. Labiler Bluthochdruck, Mitralklappenprolaps 3. Rezidivierendes Lumbalsyndrom bei Skoliose und Beckenschief- stand 4. Minderung der zentralen Sehschärfe auf 0,5 beiderseits. Die Merkzeichen B, G, H und RF entzog er.

Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27.01.1994).

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat die Klägerin zunächst die (Weiter-)Gewährung eines GdB von 100 und die Zuerkennung der Merkzeichen B, aG, G, H, RF und Bl begehrt. Mit Schreiben vom 21.03.1995 hat sie das Klagebegehren bezüglich des Merkzeichens Bl nicht aufrechterhalten, schließlich nur noch die Zuerkennung des Merkzeichens G begehrt. Der vom SG gehörte Dr ... (Gutachten vom 14.08.1995) hat die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G bejaht. Das SG hat daraufhin mit Urteil vom 07.11.1995 den Bescheid vom 04.01.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.01.1994 abgeändert und das Merkzeichen G zuerkannt.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und sich auf eine Stellungnahme der Internistin Dr ... vom 17.01.1996 gestützt, wonach die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht vorlägen. Die Klägerin hat Anschlussberufung eingelegt. Der Senat hat ein neurologisch/ psychiatrisches Gutachten des Dr ... vom 15.09.1997 sowie ein orthopädisches Gutachten des Dr ... vom 24.11.1997 eingeholt. Beide Sachverständigen haben den GdB mit 50 bewertet und auf ihren Fachgebieten das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G verneint.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 07.11.1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen, sowie die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen und die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Würzburg vom 07.11.1995 zurückzuweisen und - im Wege der Anschlussberufung - das Urteil des SG Würzburg vom 07.11.1995 und den Bescheid vom 04.01.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.01.1994 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, einen höheren GdB als 50 sowie die Merkzeichen B und RF festzustellen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Die Anschlussberufung der Klägerin ist unzulässig.

Der Klägerin steht das Merkzeichen G weiterhin zu, obwohl die vom Senat gehörten medizinischen Sachverständigen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G verneint haben. Der Entziehungsbescheid vom 04.01.1994 mit dem der Beklagte den Feststellungsbescheid vom 04.09.1992 gemäß § 66 SGB I teilweise aufgehoben hat, ist rechtswidrig. Nach § 66 SGB I kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Die Voraussetzungen für eine Entziehung gemäß § 66 SGB I haben aber nicht vorgelegen. Eine Entziehung kommt nämlich nur dann in Frage, wenn der zugrunde- liegende Bescheid (hier der Bescheid vom 04.09.1992) ein Leistungsbescheid wäre. Die Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff SGB I betreffen nur den, der Sozialleistungen iSd § 11 "beantragt oder erhält" (Kretschmer/von Maydell/Schellhorn GK SGB I, 3.Auflage, § 66 RdNr 5). Die Zuerkennung des Merkzeichens G erfolgte aber nicht im Wege eines Leistungsbescheides. So wie die Feststellung eines GdB nach § 4 SchwbG, soweit sie Voraussetzung für Steuervorteile und andere nicht zu den Sozialleistungen zählende Rechtsfolgen ist, keine Sozialleistung darstellt (so Schroeder-Printzen/Wiesner SGB X, 3.Auflage § 44 RdNr 3 unter Verweisung auf BSGE 69, 14), ist auch die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht als Sozialleistung anzusehen. Im Schwerbehindertenrecht geht es grundsätzlich nicht um Leistungsbescheide im Sinne des § 11 SGB I (Kretschmer/von Maydell/Schellhorn aaO, § 11 RdNr 25 und BSG aaO). Bei bloßen Statusfeststellungen liegt keine Sozialleistung vor. Die Zuerkennung des Merkzeichens G erfolgt im Wege der Feststellung. § 4 Abs 4 SchwbG bestimmt, dass die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen treffen. Nur die I n a n s p r u c h n a h m e des Nachteilsausgleichs stellt im Verhältnis zwischen dem Schwerbehinderten und dem Staat eine Sozialleistung im Sinne des SGB als Sach- oder Dienstleistung dar (vgl BSG SozR 3870 § 57 Nr 2). Denn es ist zwischen der (Status)Feststellung nach § 4 Abs 4 (Eintragung des Merkzeichens im Schwerbehindertenausweis gemäß § 3 Abs 2 Nr 2 Ausweisverordnung - SchwbG) und der I n a n - s p r u c h n a h m e des Nachteilsausgleichs als Sach- oder Dienstleistung zu unterscheiden.

Der rechtswidrige Entziehungsbescheid vom 04.01.1994 kann nicht - wie der Beklagte meint - in einen Neufeststellungsbescheid gemäß § 48 SGB X umgedeutet werden. Zwar ist ein Rücknahmebescheid im Gerichtsverfahren in einen Änderungsbescheid umzudeuten, wenn die ursprüngliche Unrichtigkeit des zu berichtigenden Bescheids nicht nachgewiesen ist (so BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 25). Dieses für den Fall einer fehlerhaften Rücknahme nach § 45 SGB X ergangene Urteil des BSG ist aber schon deshalb nicht auf den vorliegenden Entziehungsbescheid gemäß § 66 SGB I anzuwenden, weil die ursprüngliche Unrichtigkeit des Bescheids vom 04.09.1992 aufgrund der versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Dr ... und des Dr ... nachgewiesen ist. Der Beklagte ist im Bescheid vom 04.09.1992 bei der Feststellung der Gehbehinderungen nicht nur von einer Fehldiagnose (Blindheit) ausgegangen, sondern hat die Folgen der Funktionsbeeinträchtigung falsch eingeschätzt. Zwischen 1992 und dem Entziehungsbescheid im Jahr 1994 hat keine wesentliche Änderung stattgefunden. Somit scheidet eine Umdeutung aus und die Beseitigung dieses von Anfang an vorliegenden Fehlers ist nur nach § 45 SGB X unter Beachtung der (hier aber abgelaufenen) Zweijahresfrist des Abs 3 Satz 1 möglich. Das SG hat somit im Ergebnis zu Recht der Klägerin das Merkzeichen G weiterhin zugesprochen.

Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 50 und die Weitergewährung der Merkzeichen B und RF. Die (unselbständige) Anschlussberufung ist nämlich unzulässig. Die Klägerin hat im Rahmen ihrer Dispositionsbefugnis ihr Klagebegehren vor dem SG auf das Merkzeichen G beschränkt. Diese Beschränkung stellt eine teilweise Klagerücknahme dar (Meyer-Ladewig, SGG, 6.Auflage § 102 RdNr 4). Die Klagerücknahme braucht nicht ausdrücklich erklärt zu werden, sondern ist auch stillschweigend durch Antragsbeschränkung möglich (aaO mwN). Bei einer Klagerücknahme ist die Anschlussberufung analog § 522 ZPO als unzulässig zu verwerfen, da eine Entscheidung über die Hauptberufung nicht mehr möglich ist (Thomas/Putzo aaO, § 522 RdNr 4). Eine Anschlussberufung kommt nur in Betracht, wenn das Urteil beide Beteiligten beschwert (Thomas/Putzo, ZPO, 21.Auflage, § 521 RdNr 1). Der rechtskraftfähige Inhalt des angefochtenen Urteils - Zuerkennung des Merkzeichens G - ist aber für die Klägerin sachlich nicht nachteilig (aaO Vorbemerkung § 511 RdNr 17). Die mit Bescheid vom 04.01.1994/27.01.1994 eingetretene Rechtskraft bezüglich der Höhe des GdB und des Entzugs der Merkzeichen B, H und RF (die Klage betreffend das Merkzeichen Bl hat die Klägerin bereits mit Schriftsatz vom 21.03.1995 zurückgenommen) ist von Amts wegen zu beachten (aaO § 141 RdNr 6).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Im Hinblick auf die Erfolglosigkeit der Anschlussberufung kommt eine Kostenerstattung des Beklagten nicht in Betracht.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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