L 18 SB 13/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 7 Vs 783/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 13/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 03.12.1997 sowie der Änderungsbescheid vom 02.04.1996 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 23.09.1996 und des Widerspruchsbescheides vom 11.11.1996 abgeändert.
II. Der Beklagte wird verurteilt, die Behinderungen des Klägers ab 01.06.1999 mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 zu bewerten und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG ab 01.07.2000 festzustellen.
III. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
IV. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu 4/5 zu erstatten.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Behinderungen des Klägers statt ab 01.06.1999 bereits ab Januar 1998 mit einem GdB von 100 zu bewerten sind und ob beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG ab Januar 1998 statt ab 01.07.2000 festzustellen sind.

Bei dem am 1928 geborenen Kläger waren mit Bescheid vom 24.04.1992 Behinderungen mit einem GdB von 80 festgestellt und das Merkzeichen G zuerkannt.

Auf einen Antrag des Klägers vom 19.10.1995 stellte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 02.04.1996 (weiterhin) einen GdB von 80 fest und lehnte die Zuerkennung des Merkzeichens aG ab. Auf den Widerspruch des Klägers bewertete der Beklagte die Behinderungen (1. Teilversteifung rechts Hüftgelenk und rechtes Kniegelenk, Bewegungseinschränkung linkes Hüftgelenk und linkes Kniegelenk. Relative Beinverkürzung und Muskelverschmächtigung rechts [Einzel-GdB 60], 2.Funktionsbehinderung der Wirbelsäule [Einzel-GdB 30], 3. Übergewicht mit Hypertonie und Herzverbreiterung nach links [Einzel-GdB 20], 4. Zerebralsklerose, Schwindelerscheinungen [Einzel-GdB 20], 5. Prostatavergrößerung, unwillkürlicher Harnabgang, Entleerungsstörung der Blase [Einzel-GdB 20], 6. Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen beidseits [Einzel-GdB 10], 7. glaubhafte Berührungsempfindlichkeit im Bereich der Operationsnarbe am rechten Hoden nach Entfernung einer Spermatozele im rechten Hoden [Einzel-GdB 10], 8. Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes beidseits [Einzel-GdB 10], 9. Sehminderung beidseits [Einzel-GdB 10]) mit Teilabhilfebescheid vom 23.09.1996 mit einem Gesamt-GdB von 90 und wies den Widerspruch im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 11.11.1996 zurück.

Im anschließenenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Bayreuth hat der Kläger die Feststellung eines höheren GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens aG begehrt. Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen und von Dr.J.T. ein Terminsgutachten vom 03.12.1997 eingeholt. Dieser hat - wie der Beklagte - die Behinderungen des Klägers mit einem GdB von 90 bewertet und das Vorliegen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung verneint. Das SG ist dem Gutachten des Dr.J.T. gefolgt und hat die Klage mit Urteil vom 03.12.1997 abgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Der vom Senat mit Gutachten vom 12.05.1999/08.03.2000 gehörte Orthopäde Dr.W.A. hat für die Zeit ab Januar 1998 für die Behinderungen des Klägers wegen hinzugekommener Durchblutungsstörungen beider Beine, die er mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet hat, eine Gesamt-GdB von 100 angenommen und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG bejaht. Der Beklagte hat im Wege des Vergleichs mit Schriftsatz vom 22.02.2001 angeboten (nach Einholung versorgungsärztlicher Stellungnahmen des Dr.H.T. , Facharzt für Chirurgie, Gefäßchirurgie, Phlebologie, vom 14.06.1999/06.04.2000 und 17.05.2000 sowie des Chirurgen Dr.H. vom 16.05.2001), die Behinderungen des Klägers ab 01.06.1999 mit einem GdB von 100 zu bewerten und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG für die Zeit ab 20.07.2000 anzuerkennen. Der Kläger hat dieses Vergleichsangebot nicht angenommen und auf das Gutachten des Dr.W.A. verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des SG Bayreuth vom 03.12.1997 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 02.04.1996 und 23.09.1996, beide in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.1996, zu verurteilen, bei dem Kläger als weitere Behinderung eine Funktionseinschränkung beider Sprunggelenke bei Sprunggelenksarthrose sowie eine arterielle Verschlusskrankheit beider Beine mit rechtsseitigem Lymphödem anzuerkennen sowie spätestens ab Januar 1998 einen GdB von 100 und ab dem gleichen Zeitpunkt die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen, soweit sie über das Vergleichsangebot vom 22.02.2001 hinausgeht.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakten des Beklagten, die Archivakten des SG Bayreuth S 7 Vs 315/92, S 7 Vs 336/92, S 10 Vs 652/96 und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung ergeht gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit Einverständnis der Beteiligten im schriftlichen Verfahren.

Die zulässige Berufung ist teilweise begründet.

Im Hinblick auf das Vergleichsangebot des Beklagten vom 22.02.2001 ist nur mehr streitig, ob beim Kläger ein GdB von 100 bereits ab Januar 1998 festzustellen ist und ihm ab diesem Zeitpunkt auch das Merkzeichen aG zusteht. Ein GdB von 100 ist erst ab 01.06.1999 festzustellen und das Merkzeichen aG steht dem Kläger ab 01.07.2000 zu. Die Zuerkennung eines höheren GdB und des Merkzeichens aG bereits ab Januar 1998 kommt nicht in Betracht. Auch eine Verurteilung des Beklagten zur Feststellung weiterer Behinderungen kann nicht erfolgen.

Gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung des GdB vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den gesundheitlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung des GdB und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung.

In den Verhältnissen, die für die Feststellung der Behinderungen mit einem GdB von 80 im Bescheid vom 24.04.1992 maßgeblich waren, ist eine wesentliche Verschlimmerung dergestalt eingetreten, dass die Behinderungen des Klägers ab 01.06.1999 mit einem GdB von 100 zu bewerten sind.

Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Dr.H.T. vom 14.06.1999/06.04.2000 und 17.05.2000. Der Auffassung des Dr.W.A. kann hinsichtlich des frühen Zeitpunkts der GdB-Erhöhung von 90 auf 100 ab Januar 1998 nicht gefolgt werden. Bei der Begutachtung durch Dr.J.T. am 03.12.1997 war eine Verschlusskrankheit noch nicht festgestellt worden. Diese - später hinzugetretene - Erkrankung war durch Dilatation im Januar 1999 erfolgreich behandelt worden und zunächst nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Erst ab Juni 1999 lässt sich eine Verschlechterung der Durchblutung mit einem Einzel-GdB von 20 nachweisen mit der Folge, dass ab diesem Zeitpunkt ein Gesamt-GdB von 100 gerechtfertigt ist.

Eine bescheidmäßige Feststellung der beantragten weiteren Behinderungen kommt nicht in Betracht, da nicht festzustellen ist, w i e ein Antragsteller behindert ist, sondern lediglich, dass eine (unbenannte Behinderung) als denknotwendige Voraussetzung für die Feststellung ihres Grades besteht (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 24).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens aG für die Zeit vor dem 01.07.2000. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Merkzeichens sind erst ab dem 01.07.2000 nachgewiesen.

Wer als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen ist, ergibt sich nicht aus dem Schwerbehindertenrecht, sondern aus § 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzutellen sind.

Diese Vorschrift ist ihrem Zweck entsprechend eng auszulegen (so BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22). Eine außergewöhnliche Gehbehinderung liegt nur vor, wenn die Möglichkeit der Fortbewegung in einem hohen Maße eingeschränkt ist, wobei ausdrücklich auf die Behinderung beim Gehen abzustellen ist. Die Auswirkungen der Gehstörung müssen funktional im Hinblick auf die Fortbewegung denen des Personenkreises der Vergleichsgruppe entsprechen. Das Gehen muss deshalb unter ebenso großer Anstrengung möglich sein wie bei den beispielhaft aufgeführten Personen der Vergleichsgruppen. Bei diesen liegen vornehmlich Schädigungen der unteren Extremitäten in einem erheblichen Ausmaß vor, die bewirken, dass Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der Fortbewegung nicht oder nur unter besonderen Erschwernissen erfüllen (aaO mwN).

Die beim Kläger im März 2000 beiderseits vorgenommenen Dilatationen der Beingefäße haben nach den Feststellungen des Dr.H.T. relativ gute Verschlussdruckwerte erbracht, so dass nicht davon auszugehen ist, dass das Ausmaß der Verschlusskrankheit eine außergewöhnliche Gehbehinderung bedingte. Die erheblichen Funktionseinschränkungen der Gelenke der beiden unteren Gliedmaßen und auch die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule rechtfertigen für sich alleine - auch nach Auffassung des Dr.W.A. - noch nicht die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung.

Seit Juli 2000 ist beim Kläger eine wesentliche Verschlimmerung seines Leidenszustandes eingetreten. Er war nach Mitteilung des Allgemeinarztes Dr.S.H. sch vom 06.11.2000 nicht mehr in der Lage, eine Strecke von über zehn Metern zu Fuß zurückzulegen. Die Durchblutungsstörungen der unteren Extremitäten hatten rechts ein Stadium III mit distaler Gangrän der zweiten Zehe rechts und links ein Stadium II erreicht. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG waren seit Juli 2000 daher zweifelsohne gegeben.

Auch wenn der Senat - wie Dr.W.A. - für die Zeit ab Januar 1998 einen Einzel-GdB von 30 für die arterielle Verschlusskrankheit nach rekanalisierenden Maßnahmen (vgl Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 S 89) annehmen würde, könnten die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Annahme des Merkzeichens aG nicht bejaht werden, da bei einer arteriellen Verschlusskrankheit mit einem Einzel-GdB von 30 eine schmerzfreie Gehstrecke in der Ebene von 100 bis 500 Metern für möglich erachtet wird. Ein solches Gehvermögen schließt aber die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung regelmäßig aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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