L 18 SB 79/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 SB 83/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 79/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23.02.2000 aufgehoben, soweit es die Klage abgewiesen hat. Die Streitsache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Würzburg zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).

Bei dem am 1961 geborenen Kläger waren mit Bescheid vom 23.01.1996 als Behinderungen mit einem GdB von 30 festgestellt: Verlust des linken Hodens, Leistenbeschwerden rechts, psychosomatisches Syndrom, Laesion des Plexus lumbo sacralis.

Auf einen Neufeststellungsantrag vom 28.05.1998 wegen Spätfolgen der 1987 durchgeführten Chemotherapie stellte der Beklagte unter Beibehaltung des GdB von 30 als weitere Behinderung eine "Polyneuropathie" fest. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25.01.1999).

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat der Kläger die Feststellung eines höheren GdB begehrt. Die vom SG im Wege eines Terminsgutachtens vom 16.11.1999 gehörte Internistin und Ärztin für Öffentliches Gesundheitswesen Dr.B. hat beim Kläger eine neurotische Entwicklung im Rahmen einer Konversionsneurose mit ausgeprägter hypochondrischer Prägung festgestellt und den (Gesamt-)GdB mit 40 bewertet.

Der Kläger hat ärztliche Unterlagen seiner behandelnden Ärzte vorgelegt und beantragt, ein zweites Gutachten von Amts wegen einzuholen, da die Sachverständige Dr.B. sich als Internistin auf hämatologischem, augenärztlichen, psychiatrischem und urologischem Gebiet geäußert habe. Das SG hat es abgelehnt, ein weiteres Gutachten von Amts wegen einzuholen und den Beklagten mit Urteil vom 23.02.2000 entsprechend dem Gutachten der Dr.B. verpflichtet, eine Konversionsneurose anzuerkennen und den Gesamt-GdB mit 40 festzusetzen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und die Feststellung eines GdB von mindestens 60 für die Zeit ab 01.07.1999 begehrt. Er hat eine mangelnde Sachaufklärung gerügt, weil das SG für die Beurteilung der Spätfolgen seiner Erkrankung keine Fachgutachten eingeholt hat.

Der Kläger beantragt (sinngemäß) das Urteil des SG Würzburg vom 23.02.2000 und den Bescheid vom 04.09.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.01.1999 aufzuheben, soweit es die Klage abgewiesen hat und den Beklagten zu verpflichten, den GdB für die Zeit ab 01.07.1999 auf mindestens 60 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 23.02.2000 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten, die Archivakten des SG Würzburg S 5 Vs 725/94 und S 2 Vs 563/96 sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung an das SG begründet.

Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs 1 Nr 2 SGG).

Das Urteil des SG ist auf die Berufung des Klägers hin aufzuheben, soweit es die Klage abgewiesen hat. Eine Aufhebung des Urteils, soweit es der Klage teilweise stattgegeben hat, kommt wegen des vom Senat zu beachtenden Verböserungsverbots nicht in Betracht (vgl. Meyer-Ladewig, Komm zum SGG, 6.Aufl, § 123, RdNr. 5 a).

Das sozialgerichtliche Urteil leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln. Das SG hat gegen seine Pflicht zur Amtsermittlung verstoßen, indem es den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hat (§ 103 SGG). Die vom SG mit einer Terminsbegutachtung beauftragte Dr.B. hat sich als Internistin gutachtlich zu Fragen auf hämatologischem, augenärztlichem, urologischem und nervenärztlich/psychiatrischem Fachgebiet geäußert, obwohl ihr hierzu die erforderliche Sachkunde fehlt. Das SG ist den Beweisanträgen des Klägers, entsprechende Fachgutachten/Stellung- nahmen einzuholen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.

Im Rahmen der Amtsermittlungspflicht müssen alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich und damit entscheidungserheblich sind (Meyer-Ladewig, aaO, § 103 RdNr 4 a). Die Feststellung der Gesundheitsstörungen und Funktionseinschränkungen des Klägers auf den verschiedenen Fachgebieten ist erforderlich, um die einzelnen GdB-Werte und den Gesamt-GdB zutreffend einzuschätzen. Die Einholung von Fachgutachten auf den verschiedenen Fachgebieten konnte nicht durch die Anhörung der Internistin Dr.B. ersetzt werden, da sie hierfür nicht fachkompetent war (vgl.aaO § 118 RdNr 12 unter Verweisung auf BSG SozR 1500 § 160 a Nr 60 bei Beweisaufnahme mittels eines Terminsarztes). Nach § 407 a Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) hätte die Sachverständige unverzüglich prüfen müssen, ob der Auftrag in ihr Fachgebiet fällt und ohne Hinzuziehung von weiteren Sachverständigen erledigt werden kann. Dies hat Dr.B. unterlassen. Das SG hätte aber nach Vorliegen ihres Gutachtens sich gedrängt fühlen müssen, fachkompetente Untersuchungen vornehmen zu lassen, zumal der Kläger einen entsprechenden Beweisantrag gestellt hat.

Die bisherige Beweiserhebung des SG lässt die Feststellung des GdB des Klägers nicht zu. Bereits mit seinem Verschlimmerungsantrag vom 28.05.1998 hatte der Kläger einen Brief seines behandelnden Urologen Dr.J.D. W. vom 10.03.1998 vorgelegt, wonach wegen der anhaltenden und multiformen Beschwerden und neurologischen Ausfallserscheinungen nach Semikastratio mit nachfolgender Chemotherapie eine stationäre fachübergreifende Begutachtung in der Urologischen, Onkologischen und Neurologischen Universitätsklinik M. für zweckmäßig erachtet worden war. Die Urologische Klinik und Poliklinik der Universität M. hatte dem Kläger mit Schreiben vom 24.04.1998 mitgeteilt, dass zur genaueren Beurteilung des Ausmaßes der Polyneurapathie sowie der psychosozialen Folgen der Therapie des malignen Hodentumors dringend eine neurologische und psychosomatische Beurteilung notwendig sei. Die Spätfolgen der Behandlung führten auf diesem Fachgebiet zu einer MdE um mehr als 50 %. In einem Arztbrief vom 11.03.1999 hat diese Klinik einen Teil der vom Kläger geschilderten Beschwerden möglicherweise auf die Therapie des damaligen Seminoms zurückgeführt. Auch die behandelnde Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.E. J. hat in ihrem Arztbrief vom 20.05.1998 die Symptomatik des Klägers als Folge der Chemotherapie angesehen. Bei dieser medizinischen Sachlage war die Einholung von weiteren Fachgutachten dringend geboten.

Das SG hat auch die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten (§ 128 SGG), indem es dem Gutachten der Terminsärztin Dr.B. gefolgt ist, obwohl diese auf augenärztlichem, urologischem, onkologischem und neurologisch/psychiatrischem Gebiet nicht über die erforderliche Fachkunde verfügt hat. Das SG hat damit die Grenzen der freien Beweiswürdigung in verfahrensfehlerhafter Weise nicht beachtet (aaO § 128 RdNr 10).

Diese Verfahrensfehler sind wesentlich, da das angefochtene Urteil auf ihnen beruhen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass das SG bei einer ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung und ohne Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung anders entschieden hätte.

Es liegt im Ermessen des Senats, ob er in der Sache selbst entscheidet oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme sein (aaO § 59 Anm 5). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung sowie dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Verlust einer Instanz hält der Senat wegen einer notwendigen umfangreichen Beweisaufnahme (Sachaufklärung durch Einholung eines augenärztlichen, urologischen, onkologischen sowie neurologisch/psychiatrischen Gutachtens) eine Zurückverweisung für geboten.

Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 u. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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