L 3 U 151/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 23 U 277/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 151/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 14.01.2000 und der Bescheid vom 08.09.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.03.1995 aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger aus Anlaß seines Arbeitsunfalls vom 11.05.1993 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

I.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger wegen der Folgen seines Unfalls vom 11.05.1993 Leistungen zu gewähren.

Der am 1944 geborene Kläger war zum Unfallzeitpunkt Geschäftsführer und Gesellschafter der Firma B. Stahlbau GmbH in München. Am 11.05.1993 fuhr er mit seinem PKW der Marke Jaguar zum Grenzübergang Kiefersfelden, um sich dort mit einem Geschäftspartner, Herrn R. von der Firma F. Metallbau GmbH in Brixen zu einer geschäftlichen Besprechung zu treffen. Nach den Angaben von F. R. dauerte die Besprechung ungefähr von 19.00 bis 21.00 Uhr; während der Besprechung bis zur Verabschiedung soll der Kläger keine Getränke zu sich genommen haben; anschließend hätten beide Geschäftspartner die jeweilige Rückfahrt angetreten. Auf der Rückfahrt vom Grenzübergang Kiefersfelden verunglückte der Kläger gegen 21.30 Uhr oder 21.55 Uhr auf der Bundesautobahn A 93 bei Km 1,050 Richtung Rosenheim in Höhe der Gemeinde Raubling. Das Fahrzeug des Klägers geriet kurz vor dem Inntaldreieck nach einer leichten Rechtskurve gegen das linke Vorderrad eines ordnungsgemäß fahrenden dänischen LKWs. An der Unfallstelle bestand eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 100 km pro Stunde. Durch die Aufprallwucht stürzte der LKW nach rechts um und fiel auf den ebenfalls nach rechts von der Fahrbahn abgekommenen PKW des Klägers. Der Kläger wurde dabei aus dem PKW geschleudert und schwer verletzt (Schädel-Hirntrauma, Polytrauma, diverse Frakturen). Die aufnehmende Polzei, die Verkehrspolizeiinspektion Rosenheim - Raubling - ordnete eine Blutentnahme an, da der Kläger nach ihren Angaben erheblich nach Alkohol roch. Der schwerverletzte Kläger wurde zunächst in das Klinikum Rosenheim verbracht und später in das Krankenhaus München-Bogenhausen verlegt. Im Klinikum Rosenheim wurde am 12.05.1993 um 1.45 Uhr Blut entnommen und vom Landesuntersuchungsamt für das Gesundheitswesen Nordbayern am 13.05.1993 eine Blutalkoholkonzentration - BAK - mit einem Mittelwert von 0,23 Promille errechnet. Nach der Aussage des Fahrers des dänischen Lastzugs vor der Verkehrspolizeiinspektion Rosenheim am 11.05.1993 sei der LKW mit ca. 85 bis 90 km pro Stunde auf der rechten Fahrbahnseite gefahren, als sich zwei Fahrzeuge sehr schnell von hinten näherten. Ein Fahrzeug sei vorbeigefahren, das andere, also das zweite habe seinen LKW am linken Vorderrad und an der linken vorderen Stoßstange berührt. Dadurch sei es zum Unfall gekommen. Auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft Traunstein erstattete die Landgerichtsärztin Dr.B. am 02.08.1993 ein BAK-Berechnungsgutachten. Die Sachverständige kam darin zum Ergebnis, nach den bekannten Rückrechnungsmethoden sei unter Berücksichtigung des Körpergewichts des Klägers mit 76 kg und seiner Körpergröße von 175 cm bei der um 1.45 Uhr festgestellten BAK von 0,23 Promille von einer maximalen BAK von 1,20 Promille, einer wahrscheinlichen BAK von 0,79 Promille und einer Mindest-BAK von 0,43 Promille auszugehen. Im anschließenden Strafverfahren erklärte sie bei ihrer Einvernahme vor dem Amtsgericht Rosenheim am 07.02.1994, in Anbetracht des starken Blutverlusts und einer Infusion von 4 l sei davon auszugehen, dass der Alkohol nicht mehr abgebaut worden war; es müsse dann bei der BAK von 0,23 Promille bleiben; das halte sie sogar für wahrscheinlich. Das Amtsgericht Rosenheim stellte daraufhin mit Beschluss vom 08.02.1994 das Verfahren gemäß § 153 a Abs.2 Strafprozeßordnung - StPO - unter Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 1.950,00 DM vorläufig ein.

Die Beklagte, der der Unfall am 08.09.1993 als Arbeitsunfall angezeigt worden war, zog die Unterlagen der Staatsanwaltschaft Traunstein (Az.: 410 Js 16725/93) sowie die ärztlichen Behandlungsunterlagen bei, erholte eine schriftliche Auskunft des Geschäftspartners des Klägers, F. R. und beauftragte Prof.Dr.E. , Vorstand des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München mit der Erstattung eines Gutachtens zur wahrscheinlichen BAK zum Unallzeitpunkt. In seinem Gutachten vom 05.07.1994 ist der Sachverständige zum Ergebnis gekommen, auch unter Berücksichtigung von 4 l Infusionsflüssigkeit und der verabreichten Medikamente Valium und Sentanyl, welche weder zu einer Beschleunigung noch zu einer erheblichen Verlangsamung des stündlichen Alkoholabbaus geführt hätten, sei anhand der in der Akte festgehaltenen Daten zum Unfallzeitpunkt, der Blutentnahme, dem unbekannten Trinkanfang und dem nicht näher angegebenen Trinkende und der vom Kläger angegebenen Trinkmenge von entweder 0,33 l Bier oder einem knappen Weißbier bei Berücksichtigung des Körpergewichts und der Körperlänge von einer wahrscheinlichen BAK von über 0,8 Promille auszugehen. Sofern man überhöhte Geschwindigkeit annehmen könne, so sei nach dem Unfallablauf auf eine Alkoholisierung mit entsprechender alkoholischer Enthemmung zu schließen. Mit Bescheid vom 08.09.1994 lehnte die Beklagte eine Entschädigung aus Anlass des Unfalls vom 11.05.1993 ab. Zur Begründung führte sie an, äußere Umstände, die für den Unfall ursächlich oder mitursächlich gewesen sein könnten, hätten sich nicht feststellen lassen; bei einer BAK von 0,8 Promille habe relative Fahruntüchtigkeit bestanden, welche in Anbetracht der einfachen Verkehrssituation, nämlich Überholen eines LKWs auf der trockenen nicht sichtbehinderten Autobahn, zeige, dass Alkohol die wesentliche Ursache für den Unfall gewesen sei. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29.03.1995).

Dagegen hat der Kläger beim Sozialgericht München Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, der Sachverständige Prof.Dr.E. habe lediglich aufgrund der Aktenunterlagen eine BAK-Rückrechnung vorgenommen. Hingegen habe die vor dem Amtsgericht Rosenheim gehörte Sachverständige Dr.B. anhand der konkreten Umstände eine Rückrechnung auf 0,43 bzw. 0,23 Promille vorgenommen. Das Fahrmanöver und das Zustandekommen des Unfalls sei in keiner Weise aufgeklärt worden. Unfallunbeteiligte Zeugen seien nicht vorhanden gewesen. Der Kläger selbst könne sich an das Unfallgeschehen nicht mehr erinnern. Er sei sich sicher, bei der geschäftlichen Besprechung ein Weißbier getrunken zu haben, keinesfalls mehr. Relative Fahruntüchtigkeit habe nicht vorgelegen. Das Sozialgericht hat beim Klinikum Rosenheim angefragt, ob es Hinweise auf einen kreislaufwirksamen Schockzustand im Sinne einer Mangeldurchblutung einzelner Organe bei der Einlieferung des Klägers dort gegeben habe. Die Klinik hat am 15.11.1999 mitgeteilt, ein solcher Schockzustand habe sich während des stationären Aufenthalts nicht gezeigt. Die entsprechenden Krankenunterlagen und Röntgenfilme wurden übersandt. Das Sozialgericht hat daraufhin mitgeteilt, es beabsichtige, keine weitere Sachaufklärung zu treffen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 14.01.2000 hat der Kläger zu dem erklärt, seiner Einschätzung nach sei er ein guter und überlegter Autofahrer.

Mit Urteil vom 14.01.2000 hat das Sozialgericht die auf Entschädigung gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es schließe sich dem Gutachten von Prof.Dr.E. an, welcher eine wahrscheinliche BAK von über 0,8 Promille errechnet habe unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter gesundheitlicher Umstände. Die Angaben der Sachverständigen Dr.B. im amtsgerichtlichen Strafverfahren, bei fehlendem Alkoholabbau sei es bei einer BAK von 0,23 Promille geblieben, führe zu keinem anderen Ergebnis. Denn, ob diese Voraussetzung tatsächlich vorgelegen habe, habe das Amtsgericht Rosenheim nicht weiter geprüft. Hingegen habe das Krankenhaus Rosenheim bescheinigt, dass kein Schockzustand bestanden habe, so dass die BAK-Rückrechnung des Sachverständigen Prof.Dr.E. zur Grundlage der Entscheidung herangezogen werden müsse. Damit habe zwar keine absolute Fahruntüchtigkeit, jedoch eine relative Fahruntüchtigkeit vorgelegen. Aufgrund der polizeilich festgestellten überhöhten Geschwindigkeit und dem Fehlen anderer Anhaltspunkte für das Zustandekommen des Unfalls sei von einer alkoholbedingten Ursache auszugehen.

Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, zu Unrecht habe sich das Sozialgericht den Ausführungen des Sachverständigen Prof.Dr.E. und nicht denen der Sachverständigen Dr.B. angeschlossen. Prof.Dr.E. habe ein rein theoretisches Berechnungsgutachten erstellt, ohne die von Dr.B. genannten Faktoren in seine Überlegungen einzubeziehen. Prof.Dr.E. habe den Kläger nicht gesehen und das Gutachten nur nach Aktenlage erstellt. Es gehe von einer abgeschlossenen Resorption zum Zeitpunkt des Unfalls aus, was nicht zutreffend sei. Die Auskunft des Klinikums Rosenheim vom 15.11.1999 lasse nur den Schluss zu, dass sich während des stationären Aufenthalts keine Hinweise auf einen kreislaufwirksamen Schockzustand ergeben hätten. Bis zur stationären Aufnahme des Klägers sei jedoch erhebliche Zeit vergangen. Irgendwelche gesicherten Erkenntnisse dazu, ob unmittelbar nach dem Unfall ein Schocktrauma bestanden habe, seien nicht vorhanden. Der einzig gesicherte Wert sei die um 1.45 Uhr festgestellte BAK von 0,23 Promille. Genauere Feststellungen, wodurch es zum Unfall gekommen sei, seien nie getroffen worden. Lediglich die Angaben des dänischen Lastwagenfahrers, er habe im Rückspiegel Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit herannahen sehen, lasse nicht die Feststellung zu, der Kläger sei mit weit überhöhter Geschwindigkeit auf der Autobahn unterwegs gewesen. Das Gericht habe außer Acht gelassen, dass sich der Unfall bei Dunkelheit ereignet habe. Dieser Umstand führe auch bei einem nicht alkoholisierten Fahrer häufig zu Unachtsamkeit und einem derartigen Fehler.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat bei der Verkehrspolizeiinspektion Rosenheim Unterlagen, wie Handskizzen und ähnliches über den Unfall angefordert und von dort die Antwort erhalten, es seien keine weiteren Dokumente mehr vorhanden. Der Senat hat ein Gutachten von Prof. Dr. E. eingeholt und ihn gebeten zurückzurechnen, wie hoch die BAK zum Unfallzeitpunkt war. Er hat dem Sachverständigen aufgegeben folgende festgestellten Tatsachen zugrundezulegen, nämlich Blutentnahme um 1 Uhr 45, BAK-Mittelwert von 0,23 Promille, Unfallzeitpunkt 21 Uhr 55, Körpergewicht 76 kg und Körperlänge 175 cm. Hinsichtlich der Trinkmenge, des Trinkbeginns und des Trinkendes sollten die unterschiedlichen Angaben des Klägers alternativ zugrundegelegte werden, nämlich:

a) Trinkbeginn: unbekannt Trinkende: vor 19 Uhr Trinkmenge: 0,33 Liter Bier

b) Angaben wie zu a), aber zusätzlich zwischen 20 Uhr und 20 Uhr 30 ein knappes Weißbier

c) Angaben wie zu a), aber nach 21 Uhr ein knappes Weißbier.

Unter diesen Prämissen hat der Sachverständige in seinem Gutachten vom 13.08.2001 ausgeführt, in Anbetracht der Tatsache, dass beim Kläger um 1 Uhr 45 bei der Blutentnahme ein Mittelwert von 0,23 Promille festgestellt worden sei, seien sämtliche seiner Trinkangaben unrealistisch. Denn der Kläger hätte wesentlich mehr Alkohol zu sich nehmen müssen, als tatsächlich von ihm behauptet. Bei Annahme der vorgenannten Bedingungen zu a) bis c) und Berücksichtigung der festgestellten Tatsachen, nämlich Unfallzeitpunkt um 21 Uhr 55 und BAK Mittelwert um 1 Uhr 45 von 0,23 Promille sowie Körpergröße und Körperlänge könne eine jeweilige Mindest-BAK von maximal 0,61 Promille und minimal von 0,48 Promille zu Grunde gelegt werden. Es sei nicht sinnvoll eine verkehrsanalytisches Gutachten einzuholen, da hier zu keine verwertbaren Unterlagen vorlägen. Aus medizinischer Sicht könne bei Unterstellung, es habe kein technischer Defekt am Unfallfahrzeug vorgelegen, eine andere Ursache für die Fahruntüchtigkeit wie z. B. Übermüdung ausgeschlossen werden. Die Unfallursache sei überhöhte Geschwindigkeit, möglicherweise kombiniert mit einer Fehleinschätzung des erforderlichen seitlichen Sicherheitsabstandes gewesen. Es könne angenommen werden, dass alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit vorgelegen habe und auch wahrscheinlich die allein wesentliche Unfallursache gewesen sei.

Die Beklagte hat sich darauf gestützt, dass nach dem Gutachten von Prof.Dr.E. alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die allein wesentliche Ursache für den Unfall gewesen sei. Demgegenüber hat der Kläger darauf hingewiesen, der Sachverständige gehe von Unterstellungen aus. Es sei nicht festgestellt worden, ob ein technischer Defekt an seinem Fahrzeug vorgelegen habe. Ebensowenig sei eine überhöhte Geschwindigkeit belegt. Die Frage, ob er zum Unfallzeitpunkt übermüdet gewesen sei, sei im Nachhinein nicht mehr zu klären.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 14.01.2000 und des Bescheids vom 08.09.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.03.1995 zu verurteilen, ihn wegen der Folgen seines Unfalls vom 11.05.1993 zu entschädigen. Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 14.01.2000 zurückzuweisen.

Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs.2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - auf den Inhalt der Akten der Beklagten (Az.: S 1/)3/34792/6) sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf Entschädigung wegen der Folgen seines Unfalls vom 11.05.1993 gem. der hier anzuwendenden §§ 548, 580, 581 Reichsversicherungsordnung - RVO -. Ob der Anspruch begründet ist, hängt davon ab, ob beim Kläger zum Unfallzeitpunkt eine zumindest relative alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit nachweisbar ist und ob das zum Unfall führende Verhalten dieser Verkehrsuntüchtigkeit im Sinne der allein wesentlichen Unfallursache zuzuschreben ist. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG Urteil vom 02.02.1978, SozR 2200 § 548 Nr.38) genügt es nicht, dass der Verkehrsteilnehmer infolge Alkoholgenusses "wahrscheinlich" verkehrsuntüchtig war. Denn insoweit sind die allgemein und auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Anforderungen an die richterliche Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung heranzuziehen. Danach ist es zwar nicht erforderlich, dass entscheidungserhebliche Tatsachen mit absoluter Gewissheit festgestellt werden, d.h. es wird keine Überzeugung des Gerichts vorausgesetzt, die jede nur denkbare andere Möglichkeit ausschließt. Vielmehr ist ein der Gewissheit nahekommender Grad der Wahrscheinlichkeit genügend, aber auch notwendig. Im Schrifttum wird auch formuliert, das Gericht müsse von den entscheidungserheblichen Tatsachen Gewissheit haben, müsse sich aber mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen (Meyer-Ladewig, SGG, Rdnr.3 zu § 128). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen. Geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung des Gerichts sind ausnahmsweise beim ursächlichen Zusammenhang deshalb zugelassen, weil letzterer zu den Tatsachen gehört, für die ein strenger Beweis kaum zu führen sein wird. Es werden deshalb Beweiserleichterungen dahin eingeräumt, dass lediglich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Kausalität bestehen muss. Das Gericht ist somit in der Zusammenhangsfrage bei seiner Würdigung und Überzeugungsbildung freier gestellt. Das gilt aber nicht für die übrigen anspruchsbegründenden oder -hindernden Tatsachen, wie hier etwa die Feststellung im Unfallverischerungsrecht für die neben dem ursächlichen Zusammenhang anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale. Ebenso wie die sonstigen positiven anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale in der Unfallversicherung des vollen Beweises bedürfen, gilt dies auch für das sogenannte "negative Tatbestandsmerkmal" der alkoholbedingten Fahruntauglichkeit. Denn es kann nicht richtig sein, dass das behauptete Unfallereignis als solches oder das Vorliegen einer Krankheit bewiesen sein muss, ein darauf gegründeter Anspruch aber schon dann zu verneinen ist, wenn das negative Tatbestandsmerkmal "alkoholbedingte Fahruntauglichkeit" lediglich hinreichend wahrscheinlich ist. Der Prüfung der Frage, ob alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit mit Wahrscheinlichkeit, die rechtlich allein wesentliche Unfallursache war (= ursächlicher Zusammenhang), hat zunächst die Feststellung des Vorliegens alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit voranzugehen. Diese muss unter Außerachtlassung von nur denkbaren anderen Möglichkeiten nachgewiesen sein (= voller Beweis). Annahmen und Vermutungen reichen hier nicht aus, ebensowenig die bloße Wahrscheinlichkeit. In diesem Zusammenhang müssen die Ermittlungen, insbesondere die Fragen an den Sachverständigen darauf ausgerichtet werden, ob mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine BAK zum Unfallzeitpunkt vorgelegen hat, die zumindest die Annahme relativer Fahruntüchtigkeit zulässt, d.h. es muss eine BAK von mindestens 0,8 Promille vorhanden gewesen sein. Das BSG hat im Urteil vom 20.01.1977 (BSGE 43, 110) ausgeführt, je geringer die festgestellte BAK sei, desto höhere Anforderungen seien an den Beweiswert der sonstigen, für das Vorliegen von Fahruntüchtigkeit sprechenden Umstände zu stellen, um das hinsichtlich der BAK bestehende "Beweisdefizit" auszugleichen. Es könne nur dann von einem oder von einigen wenigen Beweisanzeichen auf eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit des Verletzten geschlossen werden, wenn diese so typisch für eine Alkoholbeeinflussung sind, dass andere Erklärungen für die betreffenden Verhaltensweisen so gut wie ausgeschlossen sind. Sind solche eindeutigen Beweisanzeichen nicht feststellbar, könne eine Verkehrsuntüchtigkeit nur aufgrund einer erheblichen Anzahl für sich allein genommen nicht beweiskräftiger Merkmale einer Alkoholbeeinflussung festgestellt werden, die zusammen die Überzeugung von der Verkehrstüchtigkeit vermitteln. Als solche Beweisanzeichen für alkoholbedingte Fahruntauglichkeit hat das BSG u.a. angesehen die Fahrweise des Betroffenen, wie z.B. überhöhte Geschwindigkeit, das Fahren in Schlangenlinien, plötzliches Bremsen sowie sein Verhalten unmittelbar vor, bei oder nach dem Unfall. Hinsichtlich der Würdigung solcher Beweisanzeichen kann ein Fehlverhalten nur dann eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit beweisen, wenn es nicht ebensogut auch andere Ursachen haben kann, wie z.B. Unaufmerksamkeit, Leichtsinn, Übermüdung und eine bestimmte körperliche Verfassung (SozR 2200 § 550 Nr.29).

Dass solche Beweisanzeichen vorgelegen haben, konnte die Beweiserhebung des Senats nicht erbringen. Im vorgenannten Beweismaßstab kann der Senat nur davon ausgehen, dass bei der Blutentnahme um 1 Uhr 45 der BAK Mittelwert 0,23 Promille betragen hat und sich der Unfall um ca. 21 Uhr 55 ereignet hat. Allerdings - davon gehen die Beteiligten übereinstimmend aus - befand sich der Kläger auf einem sogenannten Betriebsweg, für den grundsätzlich Unfallversicherungsschutz bestand. Er war auf dem Rückweg von einer betrieblichen Besprechung mit einem Geschäftspartner in Kiefersfelden. Ein Unfallversicherungsschutz nach § 548 Reichsversicherungsordnung - RVO -, welcher hier anzuwenden ist, weil sich der Unfall vor dem 01.01.1997 ereignet hat und damit vor dem Inkrafttreten des 7.Buches des Sozialgesetzbuches - SGB VII -, hat demnach dem Grunde nach bestanden. Eine absolute Fahruntüchtigkeit konnte beim Kläger nach keinem gerichtsmedizinischen Rückrechnungsgutachten festgestellt werden. Der Senat geht davon aus, dass ein Schockzustand, welcher die Alkoholresorption verringert hätte, aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht feststellbar ist. Insoweit bezieht er sich auf die Feststellungen von Prof.Dr.E ... Des weiteren legt der Senat seiner Beurteilung zu Grunde, dass nach den vorhandenen Aussagen des Klägers im strafgerichtlichen und sozialgerichtlichen Verfahren nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Zeitpunkt des Trinkbeginns und des Trinkendes sowie der Umfang der Trinkmenge festgestellt werden kann. Zeugen, die Angaben hier zu machen könnten, sind nicht vorhanden. Von einer Einvernahme des Geschäftspartners des Klägers, R. , konnte der Senat absehen, da dessen Angaben, der Kläger habe in seiner Gegenwart keinen Alkohol getrunken, nicht geeignet sind die unterschiedlichen Angaben des Klägers eindeutig zu widerlegen. Da der Kläger angab und angibt, sich an Einzelheiten des Unfalls nicht erinnern zu können - er war nach dem Unfall mehrere Tage ohne Bewußtsein - führt auch dessen Anhörung zu keiner weiteren Aufklärung. Der Senat sieht daher keine Möglichkeit, die vom Sachverständigen Prof.Dr.E. für eine exakte Rückrechnung notwendig gehaltenen Angaben zu Trinkbeginn, Trinkende und Trinkmenge zu ermitteln. Da unmittelbar nach dem Unfall weder von Seiten der Polizei Messungen vorgenommen worden waren, welche über die Fahrgeschwindigkeit des Klägers beziehungsweise über eine Reaktion Aufschluß geben könnten, ist ein unfallanalytisches Gutachten, wie Prof.Dr.E. auf Anfrage der Senat bestätigte, nicht geeignet, weitere Klarheit zu schaffen. Eine Untersuchung des Unfallfahrzeuges fand ebensowenig statt, so dass auch keine Rückschlüsse auf einen Fahrzeugdefekt beziehungsweise seines Fehlens möglich sind. Damit sind die Aufklärungsmöglichkeiten erschöpft, zumal inzwischen mehr als 8 Jahre seit dem Unfall vergangen sind. Damit muss der Senat zugunsten des Klägers von den mit Gewißheit feststellbaren Tatsachen und daher allenfalls von einer BAK zum Unfallzeitpunkt von 0,48 Promille ausgehen. Dies entnimmt er den Ausführungen des Sachverständigen. Da, wie oben dargelegt, die Beklagte beweispflichtig für die Fahruntüchtigkeit durch Alkohol ist, kann lediglich von dem vorgenannten Promillewert ausgegangen werden. Dies bedeutet, dass die BAK des Klägers nach den zum Unfallzeitpunkt geltenden rechtlichen Bedingungen deutlich unter der 0,8 Promillegrenze lag, ab welcher relative Fahruntüchtigkeit gilt.

Nach der Rechtsprechung des BSG müssen damit deutliche Umstände aufgezeigt werden, welche als typische alkoholbedingte Fehlreaktionen aufgefaßt werden können. Da es keine Zeugen gibt, die Aufschluß über die Fahrweise des Klägers vor dem Unfall bringen könnten, und die Angaben des am Unfall beteiligten LKW-Fahrers lediglich belegen, dass der Kläger ihn mit seinem Fahrzeug überholen wollte, jedoch keine Geschwindigkeit angegeben werden kann, sind wenig Anzeichen erkennbar, welche auf ein alkoholbedingtes Fehlverhalten deuten würden. Zwar führt der Sachverständige aus, dass gerade alkoholisierte Autofahrer eine besondere Risikofreude und Geschwindigkeitsüberschätzung zeigen, jedoch sind dies Eigenschaften, welche auch bei nicht alkoholisierten Kraftfahrern zu finden sind. In der medizinischen Literatur (Medizinische Begutachtung, Grundlagen und Praxis, Hermann Marx, 6.Auflage, S. 680 ff) wird ausgeführt, die Alkoholwirkung beruhe auf toxischer Schädigung der Geistes-, Nerven- und Sinnesfunktionen. Sie könnten schon bei weniger als 0,5 Promille beginnen. Niedrige Blutalkoholkonzentrationen könnten sich wegen des Missverhältnisses zwischen Wollen und Können bisweilen verhängnisvoller auswirken als hohe Blutalkoholwerte. Dies betreffe insbesondere Werte zwischen 0,5 und 1,5 Promille. Das Spektrum der Leistungsausfälle lasse sich mit Mitteln der allgemeinen ärztlich-diagnostischen Methoden, wie sie anläßlich der Blutentnahme angestellt würden, nicht nachweisen. Es handle sich um Veränderungen der gesamten Persönlichkeit mit Enthemmung, Kritikschwäche gegenüber den eigenen Leistungen, Ichbezogenheit, Wagnisbereitschaft, Risikofreude und Mangel an sozialer Einordnungsfähigkeit. Im psychologischen Bereich bestimmten Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwäche die Verzögerung der Reflexabläufe mit der Folge eines verlangsamten und unkoordinierten Reagierens. Unter den Sinnesfunktionen stünden Seh- leistungsstörungen im Vordergrund mit Einschränkung der Sehschärfe, Einengung des peripheren Gesichtsfelds, Abnahme des Fusionsvermögens und des Räumlichsehens sowie der Dunkeladaption bei vermehrter Blendempfindlichkeit und Verlängerung der Nachblendphase. Abstände und Entfernungen könnten nicht mehr zuverlässig eingeschätzt werden, die eigene Fahrgeschwindigkeit werde unterschätzt. Die aufgefangenen Bilder würden nicht mehr richtig verarbeitet. Dunkelheit sei eine starke zusätzliche Belastung. Da das harmonische Ineinandergreifen aller Leistungs-und Sinnesfunktionen gestört sei, komme es insbesondere in unerwarteten Situation bei Veränderungen im Straßenverkehr und bei komplexen Anforderungen an einen Fahrer zum Zusammenbruch des Leistungsgefüges. Obwohl diese Gesichtspunkte für den Senat nachvollziehbar und überzeugend sind, kann er außer dem Zustandekommen des Unfalls keine zusätzlichen Anhaltspunkte finden, welche einen solchen Zusammenbruch des im Straßenverkehr erforderlichen Zusammenwirkens der Leistungs- und Sinnesfunktionen begründen könnten. Es ist nicht erwiesen, dass der Kläger tatsächlich mit weit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist. Allein die Tatsache, dass er schneller, als an der Unfallstelle erlaubt (Tempo 100 km/h) gefahren ist, reicht nicht aus. Denn eine bloße Strafbarkeit des Verhaltens, das zum Unfall führt, genügt nicht für die Verneinung des inneren Zusammenhangs. Ein riskantes Überholen stellt auch nur unter ganz besonderen einengenden Voraussetzungen eine den Versicherungsschutz beseitigende " selbst geschaffene Gefahr " dar, wie vom BSG im Urteil vom 27.06.2000 (SozR 3-2200 § 550 Nr.20) eingehend dargestellt. Auch der Sachverständige Prof.Dr.E. räumt ein, dass auch nicht alkoholisierte Kraftfahrer mit überhöhter Geschwindigkeit fahren und die erforderlichen Sicherheitsabstände nicht einhalten. Es ist durchaus denkbar, dass der Kläger, was nicht selten im Straßenverkehr vorkommt, den Abstand, der es ihm erlaubt hätte, auf den rechten Fahrbahnstreifen überzuwechseln, falsch eingeschätzt hat. Das zum Unfall führende Überholmanöver allein ist nach Auffassung des Senats hierbei kein so eindeutiges Indiz, aus welchem auf ein alkoholbedingtes Fehlverhalten geschlossen werden könnte. Da, wie bereits dargestellt, zusätzliche Beweiszeichen nicht zu ermitteln sind, kann eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Klägers nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, zumal die mit Sicherheit anzunehmende BAK erheblich unter 0,8 Promille liegt.

Somit kommt es auf die weitere, von der Beklagten angestellte Bewertung, ob alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die allein wesentliche Unfallursache war, nicht an. Dies wäre erst eine Überlegung, die dann anzustellen wäre, wenn Fahruntüchtigkeit festgestellt werden könnte. Auf die Frage, ob ein nichtalkoholisierter Fahrer bei gleicher Verkehrslage den Unfall nicht verursacht hätte, braucht deshalb nicht eingegangen werden. Damit kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass eine anspruchsvernichtende alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit nicht beweisbar ist und der Kläger der allgemeinen Wegegefahr erlegen ist. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 14.01.2000 und der zugrunde liegende Bescheid vom 08.09.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.03.1995 waren aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger dem Grunde nach Leistungen aus Anlaß seines Arbeitsunfalls vom 11.05.1993 gemäß der §§ 548, 580, 581 RVO zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da der Senat nicht von Entscheidungen des BSG abweicht und damit die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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