L 3 U 185/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 8 U 453/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 185/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.05.2001 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen ihres Arbeitsunfalls vom 04.04.1989 hat, insbesondere ob dies im Wege einer Neufeststellung nach § 44 des Zehntes Sozialgesetzbuchs - SGB X - zu geschehen hat.

Die 1938 geborene Klägerin war zum Unfallzeitpunkt Mitgesellschafterin einer Firma für Unfallschutz und Sicherheitsbedarf. Sie war bei der Beklagten gegen Unfall versichert. Am 04.04. 1989 rutschte sie auf dem Weg in das Lager ihres Geschäfts auf der Treppe aus und stürzte rückwärts die Treppe hinunter. Am Tag darauf begab sie sich in die Behandlung zu dem Chirurgen Dr.H. , der ihre Einweisung in das Kreiskrankenhaus Pasing veranlasste. Dort wurde sie vom 05.04. bis 12.04.1989 behandelt und anschließend bis 21.04.1989 im Städtischen Krankenhaus München-Schwabing. Dort wurde eine konsilliarische neurologische Untersuchung vorgenommen. Wegen anhaltender Beschwerden wurde die Klägerin am 04.10.1989 im Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München durch Privatdozent Dr.S. eingehend untersucht und begutachtet. Mit Bescheid vom 22.05.1991 erkannte die Beklagte den Arbeitsunfall mit Arbeitsunfähigkeit bis 27.08. 1989 an. Sie lehnte eine Rentengewährung ab, weil eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - nicht zurückgeblieben sei. Durch den Unfall sei es zu einer Schädelprellung mit Gehirnerschütterung, einer vorübergehenden Sehstörung sowie einer Prellung der Halswirbelsäule, der Lendenwirbelsäule, des Kreuzbeins und des linken Ellenbogens gekommen. Grundlage dieser Beurteilung waren das augenärztliche Gutachten von Dr.T. vom 16.11.1990, das HNO-kundliche Gutachten von Dr.G. vom 13.11.1990 und das neurologische Gutachten von Dr.N. , Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau vom 13.11.1990. In dem nach erfolglosem Widerspruch geführten Klageverfahren vor dem Sozialgericht München (Az.: S 41 U 236/91) holte das Sozialgericht ein neurologisches Gutachten von Dr.K. vom 30.01.1993 und auf Antrag der Klägerin (§ 109 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) von Privatdozent Dr.S. , Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, vom 12.07.1993 ein. Alle vorgenannten Sachverständigen kamen zum Ergebnis, dass auf Dauer - PD Dr.S. befürwortete lediglich bis 05.10.1989 eine MdE um 20 v.H. - keine Erwerbsminderung vom Unfall herrühre. Mit Urteil vom 19.08.1993 wies das Sozialgericht die Klage ab. Im Berufungsverfahren (Bayer. Landessozialgericht, Az.: L 3 U 51/94) entschied das Gericht durch Beschluss. Es wies die Berufung zurück.

Am 18.12.1996 beantragte die Klägerin eine Überprüfung der früheren Ablehnung unter Berücksichtigung neuerer medizinischer Erkenntnisse. Solche seien den Befunden von Dr.F. , Radiologe, vom 30.09.1996, Dr.W. , manuelle Medizin, vom 12.02.1997 und Dr.M. , HNO-Heilkunde/Neurootologie, vom 26.10.1995 zu entnehmen. Mit Bescheid vom 03.03.1997 lehnte die Beklagte eine Neufeststellung ab. Sie bezog sich auf die im vorangegangenen Sozialgerichtsverfahren erholten Gutachten und auf die Befunde der erstbehandelnden Ärzte. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21.05.1997).

Dagegen hat die Klägerin beim Sozialgericht München Klage erhoben. Dieses hat nach Beiziehen der einschlägigen medizinischen Unterlagen auf Antrag der Klägerin gem. § 109 SGG zunächst Prof.Dr.Z. , Klinik für HNO-Heilkunde, T. beauftragt, ein Gutachten zu erstatten. Dieser hat den Auftrag am 24.07. 1998 zurückgegeben mit der Begründung, er besitze auf dem Gebiet der Neurootologie keine besondere Sachkunde. Daraufhin hat die Klägerin beantragt, PD Dr.F. , Arzt für Radiologie in Freiburg und Dr.M. , HNO-Arzt und Mitglied der Gesellschaft für Neurootolgie in S. , zu beauftragen. Dr.F. hat am 10.05.1999 ausgeführt, auch wenn nicht alle Zusammenhänge zwischen dem auslösenden Unfallereignis und der Beschwerdesymptomatik bzw. den sekundären psychischen Schäden naturwissenschaftlich komplett erforscht seien und noch wesentliche Lücken für eine unwiderlegbare Kausalität bestünden, seien die Beschwerden Unfallfolge, weil sie vor dem Unfall nicht existent gewesen seien und sich unmittelbar nach dem Unfall manifestiert hätten. Nach dem Beweis des ersten Anscheins sei daher mit überwiegender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das Unfallereignis eine funktionelle Kopfgelenksstörung zurückgelassen habe. Die endgültige Beurteilung bzw. Entscheidung verbleibe dem Hauptgutachter. Am 07.11.2000 hat Dr.M. ausgeführt, die ungewöhnlichen Schmerzmuster an der Halswirbelsäule würden nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit einer pathologischen Reaktion des nozizeptiven Systems zusammenhängen. Danach bestehe bei der Klägerin eine funktionelle Kopfgelenksstörung. Konkurrierende degenerative Veränderungen seien als Mitursache auszuschließen. Die MdE betrage 40 vH. Die Beklagte hat sich dieser Auffassung nicht angeschlossen. Sie hat eine in ihrem Auftrag abgegebene Stellungnahme von Prof. Dr.B./Prof.Dr.A. , beide Neurologische Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, vom 22.04.2001 vorgelegt. Die Gutachter sind darin zum Ergebnis gekommen, nach dem Unfall sei bei keiner Untersuchung eine Störung des Gehirns oder eine Durchblutungsstörung am Hirnstamm nachgewiesen worden. Der zeitliche Zusammenhang, wie er von den Vorgutachtern in den Vordergrund gestellt werde, rechtfertige nicht, den Unfall als die wahrscheinliche Ursache für die von der Klägerin angegebenen Bewußtseinsverluste anzusehen. Nach wie vor bestehe der Verdacht einer seelischen Störung.

Mit Urteil vom 08.05.2001 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat die Gutachten von Dr.F. und Dr.M. nicht für überzeugend gehalten und sich auf die früheren gerichtlichen Gutachten und auf das Gutachten der Professoren Dr.B./A. gestützt.

Dagegen hat die Klägerin Berufung eingelegt und sich zur Begründung auf die Gutachten von Dr.F. und Dr.M. bezogen. Die Kritik an den vorgenannten Gutachten sei unzutreffend. Das Sozialgericht habe einige Gesichtspunkte herausgegriffen, wie eine seiner Meinung nach nicht nachgewiesene initiale Bewußtlosigkeit, und die Gutachten in anderen Punkten ignoriert. Es werde Beweis angeboten durch Einvernahme ihres Ehemannes, dass er sie in bewußtlosem Zustand aufgefunden habe. Sofern das Gericht die Gutachten für mangelhaft halte, hätte es darauf hinweisen müssen. Dass Dr.F. als Radiologe sich nicht zur MdE geäußert habe, sei verständlich, zumal klar war, dass hierzu der weitere Gutachter eine Stellungnahme abgeben werde, wie auch durch Dr.M. geschehen. Letztgenannter habe die MdE zutreffend unter dem Aspekt der Gleichgewichtsstörungen festgelegt. Dies sei richtig. Abgesehen davon sei es Aufgabe des Gerichts die MdE zu schätzen. Zudem handle es sich bei der Meinung von Dr.M. nicht um eine Außenseitermeinung. Die Neurootologie sei eine anerkannte wissenschaftliche Teildisziplin. Die pauschale Behauptung, bei der Klägerin lägen pychische Ursachen vor, die für die Beschwerden verantwortlich seien, könne nicht aufrechterhalten werden. Insoweit hätte das Gericht ein psychologisches Gutachten einholen müssen. Da degenerative Veränderungen im Bereich der HWS nicht vorlägen, seien die Beschwerden dem Gutachten von Dr.M. zufolge als unfallbedingte Kopfgelenksstörungen zu qualifizieren. Der Unfallfolgezustand sei nach einer MdE um 40 % einzuschätzen. Demgegenüber hat die Beklagte eingewandt, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom 31.01.1984; 2 RU 67/82) lägen gesicherte medizinisch - wissenschaftliche Erkenntnisse in der Regel erst dann vor, wenn die überwiegende Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügten, zu derselben, wissenschaftlich fundierten Meinung gelangten. Zwar sei nicht erforderlich, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Fachmediziner seien, jedoch reichten vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich nicht aus. Richtig sei, dass auf neurootologischem Fachgebiet weiter geforscht werde, was nicht bedeute, dass bereits anerkannte Methoden der Diagnostik bzw. der Zusammenhangsbeurteilung entwickelt worden seien. Insoweit verweise sie auf die Ausführungen von Poeck in "Der medizinische Sachverständige", Heft 3/2001. In Übereinstimmung mit dem Sozialgericht werde eine psychiatrisch-psychologische Begutachtung nicht für erforderlich gehalten. Aus den Äußerungen verschiedener Gutachter werde klar, dass eine psychische Überlagerung gemeint sei.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 08.05.2001 und des Bescheids vom 03.04.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.05.1997 zu verurteilen, den Bescheid vom 22.05.1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.06.1991 teilweise zurückzunehmen, und Verletztenrente wegen der Folgen des Unfalls vom 04.04.1989 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.05.2001 zurückzuweisen.

Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 SGG auf den Inhalt der Akten der Beklagten, der früheren Verfahrensakten zu den Aktenzeichen S 41 U 236/91 und L 3 U 51/94 sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz des jetzigen Verfahrens Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet.

Mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht entschieden, dass die Klägerin von der Beklagten keine Neufeststellung und Überprüfung des ablehnenden Bescheides vom 22.05.1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.06.1991 verlangen kann. Denn die Voraussetzungen des § 44 SGB X sind nicht erfüllt. Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist. Eine solche Unrichtigkeit liegt nicht vor. Der Bescheid vom 22.05.1991 entspricht der Sach- und Rechtslage. Denn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Beschwerden der Klägerin, insbesondere zwischen der von ihr geschilderten Anfallssymptomatik und dem Unfallereignis ist nicht mit Wahrscheinlichkeit zu begründen. Das Sozialgericht hat sich bereits eingehend mit der Beweislage auseinandergesetzt und dargelegt, aus welchen Gründen die nach § 109 SGG erstatteten Gutachten von Dr.F. und Dr.M. nicht überzeugen können. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat gemäß § 153 Abs.2 SGG auf die dortigen Ausführungen Bezug.

Dem Senat ist die Problematik der Auswirkungen von Halswirbelsäulendistorsionen aus zahlreichen Verfahren bekannt. Er konnte sich bislang nicht davon überzeugen, dass die auf dem Gebiete der Neurootologie tätigen Mediziner gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse entwickelt hätten, welche es erlauben würden, eine sogenannte Kopfgelenksstörung mittels objektiv nachvollziehbarer Methoden sichtbar zu machen. Ebenso wenig ist es diesem Sachverständigenkreis geglückt, Symptome zu finden, die typisch für eine derartige Gesundheitsstörung sind und sich nicht ebensogut im Gefolge zahlreicher anderer Erkrankungen finden ließen. Die Ausführungen von Prof.Dr.Pöck in der Zeitschrift "Der medizinische Sachverständige", Heft 3/2001, welche die Beklagte vorgelegt hat, geben nach Auffassung des Senats den derzeitigen Wissenschaftsstand hinsichtlich neurootologischer Erkenntnisse und Untersuchungsverfahren vollständig wieder. Der Senat schließt sich dieser Meinung an. Entgegen der Auffassung der Klägerin war das Sozialgericht auch nicht ge- halten, sie darauf hinzuweisen, dass es die Gutachten von Dr.F. und Dr.M. nicht für überzeugend halte. Das BSG hat in seinem Beschluss vom 07.12.1998 (Az.: B 2 U 269/98 B) ausgeführt, auch wenn es sich um ein Gutachten nach § 109 SGG handle, brauche das Gericht weder eine Stellungnahme des Sachverständigen einzuholen, der das in seinen Augen ungenügende Gutachten erstattet habe, noch gäbe es einen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, eine mit einer Begründung versehene Klarstellung abzugeben, dass und warum das bereits vorliegende Gutachten ungenügend sei. Es falle damit in den Bereich der richterlichen Beweiswürdigung, welcher medizinischen Auffassung das Gericht den Vorzug geben wolle. In Anbetracht der klaren Antragstellung im Termin zur mündlichen Verhandlung ist insoweit ein weiteres Eingehen entbehrlich.

Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf Neufeststellung gemäß § 44 SGB X bezüglich der Folgen ihres Unfalls vom 04.04. 1989. Ihre Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.05.2001 war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keine Gründe gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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