L 17 U 339/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 388/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 339/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Würzbug vom 24.05.2000 abgeändert und der Bescheid vom 10.06.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.09.1998 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Verletztenrente ab Ende der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit nach einer MdE von 20 vH zu gwähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger auf Grund der Folgen des Arbeitsunfalles vom 24.05.1995 Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 20 vH hat.

Der am 1959 geborene Kläger litt seit Kindheit an einer juvenilen Maculadegeneration (Stargadtsche Erkrankung) mit deutlicher Visusreduktion. Vor dem Arbeitsunfall betrug die Sehschärfe beidseits mit bester Korrektur 0,1 (Bericht des Augenarztes Dr.M.W. [Kitzingen] vom 03.03.1996).

Am 24.05.1995 erlitt der Kläger, der von Beruf Fabrikarbeiter in der Spritzgussabteilung der Firma F. Würzburg war, einen Arbeitsunfall. Bei einer Störung der Spritzgussmaschine löste sich ein flüssiger Bleispritzer (350° heiß) und traf ihn am rechten Auge. Im Kopfklinikum Würzburg wurde am 24.05.1995 am rechten Auge eine Verbrennung II. Grades mit Hornhauterosio festgestellt (Bericht vom 20.06.1995). Vom 24.05. bis 09.06.1995 sowie vom 01.02. bis 05.02.1996 wurde der Kläger wegen der Augenverletzung im Kopfklinikum Würzburg stationär behandelt. Arbeitsunfähig war er ab 24.05.1995. Endgültig nahm er seine Arbeit wieder am 12.03.1996 auf.

Die Beklagte holte eine Krankheitenauskunft der AOK Bayern - Geschäftsstelle Kitzingen - vom 10.10.1995 sowie Befundberichte der Augenärzte Dr.R.E. (Kitzingen) vom 30.08.1995 und Dr.M.W. vom 11.09.1995, 18.12.1995, 03.03.1996 ein. Anschließend veranlasste sie ein Gutachten des Augenarztes Dr.G.B. (Nürnberg) vom 08.05.1996. Als Folgen des Arbeitsunfalles sah dieser eine narbig ausgeheilte Verbrennung der Lider und der Bindehaut am rechten Auge bei unfallunabhängiger juveniler Maculadegeneration an. Durch die Verbrennung seien insbesondere Ober- und Unterlid sowie die inneren Abschnitte der Bindehaut des rechten Auges betroffen. Eine Beeinflussung der Sehleistung an beiden Augen sei durch den Arbeitsunfall aber nicht eingetreten. Die MdE betrage wegen narbiger Veränderung am rechten Auge 10 vH.

Mit Bescheid vom 10.06.1996 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Verletztenrente ab. Als unfallbedingt sah sie eine narbige Verdickung mit Gefäßeinsprossung nasenseitig unter der Bindehaut (sog Flügelfell), eine Auswärtswendung des unteren Tränenpünktchens am Unterlid mit ständigem Tränen des Auges, zarte Narbenbildungen im Lidkantenbereich sowie glaubhafte Beschwerden im Bereich des rechten Auges nach zweitgradiger Verbrennung des rechten Auges an. Die MdE betrage 10 vH.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren zog die Beklagte weitere Befundberichte des Dr.M.W. vom 16.12.1996, 13.01.1997 und 28.05.1998 bei und veranlasste eine weitere gutachtliche Stellungnahme des Augenarztes Dr.G.B. vom 23.07.1998. Dieser führte aus, dass sich hinsichtlich der Unfallfolgen keine Verschlechterung ergeben habe. Mit Bescheid vom 16.09.1998 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat der Kläger Klage zum SG Würzburg erhoben und beantragt, Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 vH ab Wegfall der Arbeitsunfähigkeit sowie berufliche Rehabilitationsmaßnahmen zu gewähren. Hierzu hat er einen Arztbericht des Dr.W. vom 15.10.1998 vorgelegt, der von einer MdE von 70 bis 80 vH ausgeht.

Das SG hat die Schwerbehindertenakte des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg sowie einen Befundbericht des Dr.W. vom 07.09.1999 beigezogen und den Augenarzt Dr.D.P. (Würzburg) mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In dem Gutachten vom 01.12.1999 hat dieser ausgeführt, durch den Arbeitsunfall, der eine Hornhautnarbe am rechten Auge hinterlassen habe, sei der Visus auf 0,05 abgesunken. Auch sei die Blendempfindlichkeit deutlich überhöht, so dass von einer Gesamt-MdE von 15 vH auszugehen sei. Die Beklagte hat dem Gutachten unter Vorlage einer gutachterlichen Stellungnahme des Dr.G.B. vom 06.01.2000 widersprochen, der die Verschlechterung der Sehfähigkeit auf die Grundkrankheit zurückgeführt hat.

Auf Veranlassung des Klägers hat Dr.W. in seiner Stellungnahme vom 20.01.2000 noch auf kosmetische Beeinträchtigungen und Veränderungen am rechten Auge und der näheren Umgebung sowie auf Tränenträufeln hingewiesen. Dr.P. hat hierzu am 21.02.2000 Stellung genommen. Für die Beklagte hat der Augenarzt Prof.Dr.B.G. (Hamburg) in seiner Stellungnahme nach Aktenlage vom 22.03.2000 bemerkt, dass wesentliche und allein relevante Ursache für die geringe Sehschärfe die anlagebedingte Stargadt-Erkrankung sei. Im Laufe der Jahre nach dem Arbeitsunfall habe sich keine Visusänderung feststellen lassen.

In der mündlichen Verhandlung vom 24.05.2000 wurden die Streitsachen S 5 U 388/98 und S 5 U 74/99 (Klage wegen Gewährung von beruflicher Rehabilitation) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Mit Urteil vom 24.05.2000 hat das SG Würzburg die Beklagte verurteilt, dem Kläger berufliche Rehabilitationsmaßnahmen zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr.P. Bezug genommen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, die vor dem Arbeitsunfall bessere Sehkraft auf dem rechten Auge habe sich nochmals erheblich verschlechtert. Für seine Erwerbsfähigkeit sei dieses von größerer Bedeutung als das linke Auge.

Der Senat hat die Schwerbehindertenakte des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg beigezogen und ein Gutachten des Augenarztes Prof.Dr.F.G. (Augenklinik und Kopfklinikum Würzburg) vom 05.04.2001/10.08.2001 eingeholt. Dieser hat die durch den Arbeitsunfall verursachte Gesundheitsstörung im Bereich des rechten Auges bestätigt und auf eine Visusreduktion von 0,1 auf 0,032 hingewiesen. Die MdE hat er mit 20 vH bewertet, wobei er 15 vH für die weitere Minderung der Sehschärfe und 5 vH für die Unterlidfehlstellung, die Blendungsempfindlichkeit und das Tränenlaufen angenommen hat.

Die Beklagte hat dem widersprochen unter Vorlage einer gutachtlichen Stellungnahme nach Aktenlage von Prof.Dr.B.G. vom 07.05.2001, der von einer Visusbesserung links ausgeht, so dass keine MdE rentenberechtigenden Grades mehr erreicht wird.

Mit Beschluss vom 22.10.2001 hat der Senat dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt W.S. beigeordnet.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Urteils des SG Würzburg vom 24.05.2000 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 10.06.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.09.1998 zu verurteilen, Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH auf Grund der Folgen des Arbeitsunfalles vom 25.05.1995 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 24.05.2000 zurückzuweisen, hilfsweise eine Ergänzung des Gutachtens von Prof.Dr.G. vom 05.04.2001 bzw ein weiteres Gutachten über die Frage einzuholen, wie die MdE des Klägers nach den DOG-Werten einzuschätzen ist.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie der Archivakte des SG Würzburg (S 5 U 74/99) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig und auch begründet.

Der Kläger hat - entgegen der Auffassung des SG - einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente gem §§ 539 Abs 1 Nr 1, 548, 581 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nach einer MdE von 20 vH.

Die Vorschriften der RVO sind gem § 212 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) noch anwendbar, da über die Gewährung einer Verletztenrente auf Grund eines Versicherungsfalles vor dem 01.01.1997 zu entscheiden ist.

Ein Anspruch auf Verletztenrente setzt nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO voraus, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers infolge eines Arbeitsunfalles um wenigstens 20 vH gemindert ist. Voraussetzung dafür, dass eine Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalles anerkannt werden kann, ist, dass zwischen der unfallbringenden versicherten Tätigkeit und dem Unfall sowie dem Unfall und der Gesundheitsstörung ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Ein ursächlicher Zusammenhang liegt nach dem in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsbegriff nur dann vor, wenn das Unfallereignis mit Wahrscheinlichkeit wesentlich die Entstehung oder Verschlimmerung eines Gesundheitsschadens bewirkt hat (BSGE 1, 72, 76; 12, 242, 245; 38, 127, 129; Bereiter-Hahn/Schiecke/Mehrtens, Ges.Unfallvers., 4.Aufl, Anm 3, 3.4 zu § 548 RVO).

Diese Voraussetzungen des Anspruchs auf Gewährung von Verletztenrente sind im Hinblick auf den unfallbedingten Gesundheitszustand des Klägers erfüllt.

In Würdigung der Ausführungen des Sachverständigen Prof.Dr.G. (Gutachten vom 05.04.2001/10.08.2001) und zum Teil auch Dr.P. (Gutachten vom 01.12.1999/21.02.2000) steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen des Arbeitsunfalles vom 24.05.1995 im rentenberechtigenden Grade, dh nach einer MdE von 20 vH gemindert ist. Zutreffend hat Prof.Dr.G. als Folgen des Arbeitsunfalles am rechten Auge - Unterlidfehlstellung mit Nachaußenwendung des unteren Tränenpünktchens (Eversio puncti lacrimalis), - narbige Bindehautschrumpfung im Bereich der unteren nasenwärts gelegenen Bindehautumschlagfalte, - Pseudopterygium (Narbenpterygium), - exzentrischer irregulärer Astigmatismus mit zentraler optisch wirksamer Komponente, - erhöhte Blendungsempfindlichkeit, - Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,032 festgestellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger an einer unfallunabhängigen Grunderkrankung beider Augen, an einem Fundus flavimaculatus (Morbus Stagardt), gelitten hat, die die Sehschärfe lange vor dem Arbeitsunfall beidseits auf 0,1 reduziert hatte.

Der Arbeitsunfall hat aber unzweifelhaft zu einer Sehverschlechterung am rechten Auge geführt. Durch die zusätzlich zur Grunderkrankung tretende weitere Sehverschlechterung - Reduzierung der Ausgangsleistung des rechten Auges von 0,1 auf 0,032 - fühlt sich der Kläger sowohl im Alltagsleben als auch in seiner Berufsausübung erheblich beeinträchtigt. Im Vergleich zu dem Gutachten des Dr.P. vom 01.12.1999 stellt dies eine weitere Verschlechterung dar, da dieser Gutachter bei der Untersuchung des Klägers am 24.11.1999 die Sehleistung des rechten Auges noch mit 0,5 bewertete. Die Bewertung der MdE richtet sich hauptsächlich nach dem Ausmaß der Sehschädigung (Sehschärfe, Gesichtsfeldausfälle). Darüberliegende MdE-Werte kommen in Betracht, wenn zusätzlich erhebliche Beschwerden vorliegen. Bei der Ermittlung der MdE sind die Sehschärfewerte nach der Sehschärfentabelle 1981 entsprechend zu berücksichtigen. Einer starren Anwendung dieser "Richtlinien" wohnt aber die Gefahr von Ungerechtigkeit inne, da wesentliche Bemessungselemente, die ihrem Begriff gemäß bei der Beurteilung der MdE zu berücksichtigen sind, außer Betracht bleiben. Die Hilfstafel kann daher nur als Anhalt und Grundlage dienen, nicht mit maßgebender, sondern mit hinweisender Bedeutung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6.Aufl, S 351 ff).

Der Senat folgt dabei der Auffassung des Prof.Dr.G. , dass die MdE mit 20 vH einzuschätzen ist. Er geht davon aus, dass bislang - vor dem Arbeitsunfall - bei einer beidseitigen Sehschärfe von 0,1 die MdE mit 70 vH nach der Sehschärfentabelle 1981 einzuschätzen war. Durch die Verschlechterung der Sehfähigkeit des rechten Auges auf Grund des Arbeitsunfalles auf 0,032 ist eine MdE von 80 bis 90 vH eingetreten. Die unfallbedingte MdE allein auf Grund der Sehschärfe ist damit durch Subtraktion auf ca 15 vH festzulegen.

Nach Auffassung des Senats ist es nicht von wesentlicher Bedeutung, dass nach dem Gutachten des Prof.Dr.G. eine Besserung der Sehfähigkeit des linken Auges von 0,1 auf 0,16 eingetreten ist. Bei der Höhe der MdE sind nämlich noch die Unterlidfehlstellung, die als entstellende Verletzung der Lider anzusehen ist, sowie das Tränenlaufen, das auf eine Verletzung der Tränenwege schließen lässt, zu berücksichtigen. Da bereits einseitig eine entstellende Verletzung der Lider sowie die Verletzung der Tränenwege jeweils mit 10 vH einzuschätzen sind (Schönberger aaO, S 358), ist eine MdE von 20 vH - unabhängig davon, ob die Sehfähigkeit des unverletzten linken Auges mit 0,1 bzw 0,16 zu bewerten ist - vertretbar.

Nicht folgen kann der Senat den Feststellungen des Dr.B ... Er geht zu Unrecht davon aus, dass die zusätzlich reduzierte Sehleistung am rechten Auge netzhautbedingt ist. Dagegen spricht der anlässlich der Untersuchung vom 13.12.2000 festgestellte Retinometervisus mit einem Wert von 0,12 beidseits. Eine weitere Verschlechterung durch die Grunderkrankung ist also nicht anzunehmen. Auch ist zu bemängeln, dass in seinem Gutachten die Sehschärfe nicht mit Landoltringen ermittelt wurde. Prof.Dr.G. geht in Übereinstimmung mit Prof.Dr.G. davon aus, dass die Sehminderung unfallbedingt ist. Wenn er auf die Besserung der Sehschärfe des unverletzten linken Auges auf 0,16 hinweist, ist dem aber neben der zusätzlichen, die MdE beeinflussenden Verletzung der Tränenwege und der Lider entgegenzuhalten, dass auf Grund der schlechten Sehschärfe des rechten Auges eine zusätzliche unfallbedingte Verschlechterung sich auch faktisch auswirkt. Da die Visusbestimmung einer logarithmischen Skala folgt, ist eine dezimalbezogene Aufrechnung nicht vertretbar. Im Übrigen hat Prof.Dr.G. seine Stellungnahme nur nach Aktenlage abgegeben. Er hat also nicht selbst das Aussehen der Augenpartie sowie die Sehschärfe beurteilt. Eine Ergänzung des Gutachtens Prof.Dr.G. bzw Einholung eines neuen Gutachtens bedarf es daher nicht, zumals Prof.Dr.G. in seinem Gutachten bereits ausführlich und überzeugend Stellung zu den gesundheitlichen Einschränkungen an den Augen des Klägers genommen hat.

Nach alledem hat der Kläger Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab Ende der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit. Das Urteil des SG Würzburg vom 24.05.2000 war daher insoweit abzuändern.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved