L 2 U 466/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 24 U 131/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 466/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Legt der Sachverständige irrtümlich seiner Beurteilung Tatsachen
zugrunde, die nicht zutreffen und ist für den Versicherten erkennbar, dass das
für ihn vom Sachverständigen gefundene günstige Ergebnis darauf beruht, so
muss er den Sachverhalt richtig stellen. Ist der Versicherte Ausländer, so
kann er sich nicht auf mangelnde Deutschkenntnisse berufen.
Arglist des Versicherten liegt vor, wenn er etwas unredlich verschweigt, das
den Versicherungsträger möglicherweise von einer zusprechenden Entscheidung
abhalten würde.
Der Versicherungsträger, der aufgrund des Gutachtens, dem unzutreffende, nicht
richtig gestellte Tatsachen zugrunde liegen, ein Anerkenntnis in der
mündlichen Verhandlung abgibt, kann dieses Anerkenntnis gemäß § 123 BGB
anfechten.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 5. November 1998 aufgehoben.
II. Die Kostenentscheidung bleibt dem weiter anhängigen Klageverfahren vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte ein von ihr im vorangegangenen Klageverfahren abgegebenes Anerkenntnis wirksam angefochten hat und das Klageverfahren damit beendet wurde.

Der aus Jugoslawien stammende Kläger war ab 29.10.1968 mit einer Unterbrechung zwischen dem 28.10.1969 und 26.01.1970 bei der ... AG als Schweißer beschäftigt. Bei den Ermittlungen des Beklagten über die berufliche Lärmexposition des Klägers ergab sich sowohl aus der Auskunft des Arbeitgebers vom 08.12.1992 als auch aus Angaben des Klägers vom 11.01.1993, daß er jeweils noch als Schweißer tätig war. Auf Veranlassung der Beklagten holte das Bayerische Landesinstitut für Arbeitsmedizin ein Gutachten von dem HNO-Arzt Dr ... vom 01.06.1993 ein. Dieser führte im Gutachten aus, wegen der nicht ausreichenden deutschen Sprachkenntnisse sei für die Erhebung der Anamnese und die Durchführung der Untersuchung die Hinzuziehung eines jugoslawischen Dolmetschers erforderlich gewesen. In dem Gutachten wurde von einer bis zur Gutachtenserstellung anhaltenden Lärmexposition zwischen 85 und 89 dbA ausgegangen. Die Arbeitsanamnese, das tonaudiometrische Bild und der Nachweis eines Haarzellschadens sprächen für eine beruflich durch Lärm verursachte Schwerhörigkeit. Der Schwerhörigkeitsgrad habe wegen der nicht ausreichenden deutschen Sprachkenntnisse nach der Tabelle Röser 80 geschätzt werden müssen. Die Resultate der sprachaudiometrischen Messungen seien wegen der mangelnden deutschen Sprachkenntnisse nicht sicher verwertbar. Die lärmbedingte Schwerhörigkeit betrage 10 v.H. Es sei darauf zu achten, daß der Kläger bei der lärmgefährdeten Tätigkeit konsequent Gehörschutz benutze.

Mit Bescheid vom 06.07.1993 erkannte die Beklagte eine Berufskrankheit nach Nr.2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (Lärmschwerhörigkeit) an, verneinte jedoch einen Rentenanspruch, da die Minderung der Erwerbsfähigkeit 10 v.H. betrage.

Dagegen ließ der Kläger durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt Widerspruch einlegen, mit dem Begehren, die MdE mit 20 v.H. zu bemessen. Zur Begründung legte er eine ärztliche Bescheinigung des HNO-Arztes Dr ..., München, vom 12.01.1994 vor, wonach auch bei wiederholten Messungen im Audiogramm die Innenschwerhörigkeit beidseits bei 2000 Hertz die 40-db-Grenze überschreite und die höheren Frequenzen noch stärker abfielen und deshalb eine MdE berufsbedingt von 20 v.H. anzunehmen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.03.1994 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück, da die von Dr ... festgestellten Hörverluste denen im Gutachten des Dr ... entsprächen, die darauf beruhende Bewertung des Dr ... jedoch nicht den im Unfallversicherungsrecht geltenden Bewertungskriterien (Königsteiner Merkblatt) entspreche.

Dagegen hat der Kläger, wiederum mit Berufung auf das Attest des Dr ..., Klage erhoben und eine Rente von mindestens 20 v.H. der Vollrente begehrt. Das Sozialgericht hat zur Beweiserhebung ein Gutachen von der HNO-Ärztin Dr ..., Fürstenfeldbruck, vom 05.04.1996 eingeholt und zuvor den Klägerbevollmächtigten befragt, ob der Kläger einen Dolmetscher benötige. Nachdem der Klägerbevollmächtigte dies bejaht hatte, wurde die Sachverständige um Beiziehung eines Dolmetschers gebeten. Die gutachterliche Untersuchung erfolgte am 13.03.1996. Zur Vorgeschichte ist in dem Gutachten angemerkt, sie sei nach Angaben des Klägers mit Hilfe einer Dolmetscherin für die serbokroatische Sprache erhoben worden. Darin ist u.a. ausgeführt, 1968 sei der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland gekommen und habe zunächst als Schlosser, später als Schweißer gearbeitet. Seit Dezember 1995 sei er arbeitslos. Während der beruflichen Tätigkeit habe er niemals Gehörschutz getragen. Seit etwa zwei Jahren bemerke er eine allmählich zunehmende Schwerhörigkeit. Im Gutachten ist weiter ausgeführt, da der Kläger über recht gute Deutschkenntnisse verfüge, sei der Versuch eines Sprachhörtests unternommen worden. Das Ergebnis sei mit der bei fehlenden Deutschkenntnissen anzuwendenden Tabelle Röser 80 verglichen worden. Da der Kläger über recht gute Deutschkenntnisse verfüge, dürfe das Sprachaudiogramm den Tatsachen entsprechen. Die MdE betrage 20 v.H. ab dem Untersuchungstag, früher erhobene Tonaudiogramme rechtfertigten nur eine MdE um 15 v.H. Sollte der Kläger, der seit Dezember 1995 arbeitslos sei, nicht mehr in das Berufsleben eintreten, empfehle sich das Datum des Ausscheidens aus der beruflichen Tätigkeit als der Beginn der Berufskrankheit, da eine Lärmschwerhörigkeit nach Beendigung der beruflichen Tätigkeit erfahrungsgemäß nicht weiter fortschreite. Eine weitere Verschlechterung der Schwerhörigkeit sei dann in keinem Fall mehr auf berufliche Einflüsse zurückzuführen.

Die Beklagte hat die gutachterlichen Wertungen in Zweifel gezogen und dazu ein Gutachten des HNO-Arztes Dr ... vom 30.04. 1996 vorgelegt. Dieser führt u.a. aus, die Beurteilung der MdE nach dem Sprachaudiogramm sei bei schlechten Deutschkenntnissen nicht üblich. Nach den vorliegenden übrigen Bewertungsgrundlagen betrage die MdE nunmehr 15 v.H., da auch die Hörverschlechterung von 1993 bis 1996 mit Wahrscheinlichkeit auf die chronische Lärmbelastung zurückzuführen sei. Dabei war der Sachverständige davon ausgegangen, daß "seit 12/95 keine Lärmbelästigung mehr (arbeitslos)" bestanden habe. Weiter ist ausgeführt, sofern die Hörstörung ohne weitere Lärmexposition fortschreite, sei eine endogene Schwerhörigkeit als wesentlicher Mitwirkungsfaktor gesichert. Die quantitative Abgrenzung der beiden Komponenten könne nur durch Schätzungen erfolgen, wobei man sich von der Stärke und der Dauer der Lärmexposition leiten lassen müsse.

Hierzu hat die Sachverständige Dr ... in einer Stellungnahme vom 20.06.19996 ausgeführt, sie habe die Deutschkenntnisse des Klägers für ausreichend gehalten, um ein Sprachaudiogramm durchzuführen. Sie habe sich während der Anamnese und Untersuchung ausführlich mit dem Kläger unterhalten und dies nicht nur mit Hilfe einer Dolmetscherin. Hierzu wiederum hat die Beklagte eingewendet, die Deutschkenntnisse des Klägers müßten als eingeschränkt angesehen werden.

In der mündlichen Verhandlung vom 31.10.1996, die in Anwesenheit des Klägers, seiner Prozeßbevollmächtigten und einer Dolmetscherin durchgeführt wurde, wies die Vorsitzende ausweislich der Niederschrift nach dem Sachvortrag darauf hin, daß die Gerichtsgutachterin Dr ... nach vierstündiger Untersuchung festgestellt habe, daß der Kläger über ausreichende Deutschkenntnisse zur Durchführung einer sprachaudiometrischen Untersuchung verfüge. Nach der Unfallbegutachtungsliteratur bilde die sprachaudiometrische Untersuchung eine wichtige Grundlage für die Bewertung der MdE. Dr ... habe dagegen den Kläger nicht gesehen und könne somit die Sprachkenntnisse des Klägers nicht beurteilen. Seine Ausführungen könnten insoweit nicht überzeugen und die Klage habe aus Sicht der Vorsitzenden Aussicht auf Erfolg. Daraufhin hat der Vertreter der Beklagten folgendes Anerkenntnis abgegeben: Die Beklagte erklärt sich bereit, den Bescheid vom 06.07. 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.03. 1994 aufzuheben und dem Kläger wegen seiner Lärmschwerhörigkeit ab 14.03.1996 Rente nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Die Beklagte übernimmt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Bevollmächtigte nimmt dieses Anerkenntnis an. Die Parteien sind sich darüber einig, daß damit der Rechtsstreit in vollem Umfang erledigt ist.

Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung ist bei der Beklagten am 13.11.1996 eingegangen. Mit Schreiben vom 27.11.1996 hat die Beklagte beim letzten Arbeitgeber des Klägers angefragt, wann der Versicherte letztmals lärmgefährdet tätig gewesen sei, wann er ausgeschieden sei und ob er zwischenzeitlich Urlaub gehabt habe oder arbeitsunfähig gewesen sei. Mit Schreiben vom gleichen Tage hat die Beklagte beim Arbeitsamt München angefragt, wann sich der Versicherte arbeitslos gemeldet habe und für welchen Zeitraum er Leistungen bezogen habe. Aus der bei der Beklagten am 13.12.1996 eingegangenen Auskunft des Arbeitsamtes München ergibt sich, daß der Kläger ab 07.09. 1993 bis 29.01.1996 mit Ausnahme von kurzzeitigen Unterbrechungen arbeitslos war. Nach der am 20.12.1996 bei der Beklagten eingegangenen Auskunft des Arbeitgebers konnte dieser nicht mehr feststellen, wann der Kläger letztmals lärmgefährdet tätig war, er sei am 30.06.1993 aus dem Unternehmen ausgeschieden.

Mit Schreiben vom 31.01.1997, beim Sozialgericht eingegangen am 03.02.1997, hat die Beklagte das abgegebene Anerkenntnis gemäß §§ 119 Abs.2, 123 Abs.1 BGB angefochten und die Einrede der Arglist erhoben. Grundlage des Anerkenntnisses sei das Gutachten der Dr ... gewesen, wonach der Kläger ab Dezember 1995 arbeitslos und bis dahin lärmgefährdet tätig gewesen sei. Davon sei auch der Terminsvertreter ausgegangen. Der Kläger sei aber nur bis Oktober 1993 lärmgefährdet tätig gewesen. Damit hätten nicht Audiogramme von 1996 zugrunde gelegt werden dürfen und die MdE hätte auch nicht auf 20 v.H. geschätzt werden können. Der Kläger habe gegenüber der Sachverständigen bewußt falsche Angaben gemacht. Zudem sei das Anerkenntnis nur unter dem massiven Druck der Richterin abgegeben worden.

Hierzu hat der Kläger mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 17.03.1997 geäußert, er habe zu keinem Zeitpunkt erklärt, er sei seit Dezember 1995 arbeitslos und damit bis Dezember 1995 lärmgefährdet tätig gewesen. Richtig sei, daß er seit Oktober 1993 arbeitslos gemeldet sei. Er habe die Unterlagen des Arbeitsamtes bei der gutachterlichen Untersuchung dabei gehabt. Gegenüber der Sachverständigen habe er sinngemäß angegeben, er sei schon lange beim Arbeitsamt gemeldet, er habe jedoch kein Datum angegeben. Er könne sich auch nicht erklären, wie die Sachverständige auf dieses Datum gekommen sei. Rein vorsorglich bestreitet er, daß die Beklagte von den wahren Umständen keine Kenntnis gehabt habe.

Das Sozialgericht hat den Beteiligten angekündigt, daß es beabsichtige, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Dem hat sich die Beklagte widersetzt.

Mit Gerichtsbescheid vom 05.11.1998 hat das Sozialgericht festgestellt, daß der Rechtsstreit durch Anerkenntnis erledigt sei. Es hat in der Begründung die Voraussetzungen des § 119 Abs.1 BGB dahingestellt sein lassen, da die Anfechtung nicht rechtzeitig nach § 121 BGB erfolgt sei. Es habe auch kein Anfechtungsgrund nach § 123 BGB bestanden, weil es keine Anhaltspunkte dafür gebe, daß der Kläger die Gutachterin getäuscht habe und die Beklagte dadurch zum Anerkenntnis bewogen worden sei. Es liege auf der Hand, daß die Beklagte den Zeitpunkt der Beendigung der beruflichen Tätigkeit des Klägers selbst unproblematisch feststellen könne. Es sei auch nicht ersichtlich, welches Übel dem Beklagtenvertreter vom Gericht in Aussicht gestellt hätte werden können.

Mit ihrer Berufung begehrt die Beklagte die Aufhebung des Gerichtsbescheides und die Zurückverweisung an das Sozialgericht. Sie hat zusätzlich ausgeführt, wegen der Weihnachtsfeiertage und der ersten Kalenderwoche habe die Fallbearbeitung erst am 07.01. aufgenommen werden können. Man habe sich beim Terminsvertreter telefonisch informiert, eine angeforderte kurze schriftliche Stellung des Verhandlungsverlaufes sei am 27.01. 1997 eingegangen. Die Anfechtung sei deshalb zeitgemäß. Es sei nicht vorstellbar, daß der Kläger die Unrichtigkeit seiner Angaben nicht gekannt habe. Bei Kenntnis der wahren Sachlage wäre das Anerkenntnis nicht abgegeben worden.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Er bestreitet weiterhin, die Angabe zum Beginn der Arbeitslosigkeit gemacht zu haben. Er ist ebenfalls der Ansicht, die Beklagte habe diesen Zeitpunkt leicht selbst ermitteln können. Im übrigen spiele die Frage, ab wann der Kläger arbeitslos gewesen sei, für das Gutachten keine Rolle. Mit Hinweis auf das Attest des Dr ...ist er der Ansicht, die Zugrundelegung des zutreffenden Sachverhaltes hätte zu keiner anderen Beurteilung geführt.

Zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung sind die Akte der Beklagten und die Akte des Sozialgerichts München in dem vorangegangenen Klageverfahren. Auf ihren Inhalt wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die von der Beklagten form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; eine Beschränkung der Berufung nach § 144 SGG liegt nicht vor.

Die Berufung ist auch begründet, weil die Beklagte das abgegebene Anerkenntnis wirksam nach § 123 BGB angefochten hat, die prozeßbeendigende Wirkung der Anfechtung damit nicht eingetreten ist und das Klageverfahren fortgeführt werden muß.

Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, hat das Anerkenntnis eine Doppelnatur als Prozeßhandlung einerseits und materiell-rechtliche Erklärung zur Gestaltung des Rechtsverhältnisses andererseits. Das Anerkenntnis kann nur wirksam werden oder Bestand haben, wenn beide Aspekte rechtlich wirksam geworden sind und ihr Bestand nicht nachträglich beseitigt wurde (vgl. Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 6. Auflage, § 101 Rdnr.24; Pawlak in Hennig, Kommentar zum SGG, § 101 Rdnr.49 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen; BSG, Die Sozialversicherung 1981, 243; BSG SozR 1500 § 101 Nr.8). Die Anfechtung eines solchen Anerkenntnisses ist in entsprechender Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften, u.a. der §§ 119 und 123 BGB, zulässig (BSG, Die Sozialversicherung 1981, 243).

Ob der Beklagten ein Anfechtungsrecht nach § 119 BGB zugestanden hat, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, denn die Anfechtung ist nicht, wie § 121 Abs.1 BGB fordert, unverzüglich erfolgt, nachdem die Beklagte von dem als Anfechtungsgrund in Betracht kommenden Sachverhalt Kenntnis erlangt hatte. Auch wenn zugunsten der Beklagten unterstellt wird, daß sie erst mit dem Eingang der Arbeitgeberauskunft am 20.12.1996 vollständige Kenntnis vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt erhalten hatte und wenn ferner zu ihren Gunsten angenommen wird, daß ihr bei der Frage der Unverzüglichkeit einer Anfechtungserklärung die Untätigkeit zwischen dem 20.12.1996 und dem 07.01.1997 aus behördeninternen Gründen nicht zum Nachteil gereicht, so kann doch die erst mit Schreiben vom 31.01.1997 abgegebene Anfechtungserklärung nicht mehr als rechtzeitig angesehen werden. Zwar muß die Anfechtung nach § 119 BGB nicht jeweils sofort, d.h. immer schon spätestens am Tag nach der Erlangung der Kenntnis erklärt werden. Ein weiteres Zuwarten ist jedoch nur dann ohne schuldhaftes Zögern, wenn es durch die Umstände des Falles noch geboten ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob eine Frist von zwei Wochen als Obergrenze anzusehen ist (s. hierzu Palandt 58.Aufl., § 121 BGB Rdnr.3; BAG NJW 1991, 2723). Im vorliegenden Fall sind für den Zeitablauf zwischen dem 07. und dem 31.01.1997 keine Gründe ersichtlich, die ein Zuwarten noch als geboten oder als angemessen erschienen ließen. Der entscheidungsrelevante Sachverhalt war der Beklagten bereits zu Beginn dieses Zeitraumes vollständig bekannt und sie bedurfte weder einer weiteren rechtlichen Beratung noch eines aufwendigen internen Entscheidungsprozesses, um sich über die Anfechtung klar zu werden. Es war ihr auch möglich und zumutbar, binnen kürzester Frist von ihrem Terminsvertreter solche Auskünfte einzuholen, die es ihr ermöglichten, zu beurteilen, ob bei diesem Vorstellungen relevant waren, die ein Anfechtungsrecht ausschließen würden.

Die Beklagte hat das Anerkenntnis jedoch wirksam nach § 123 Abs.1 BGB angefochten. Hierfür gilt das Erfordernis der unverzüglichen Anfechtungserklärung nach § 121 BGB nicht.

Der Senat läßt dahingestellt, ob der Kläger wider besseres Wissen gegenüber der Sachverständigen Dr ... angegeben hat, er sei seit Dezember 1995 arbeitslos. Dafür würden einige gewichtige Tatsachen sprechen. Für die Sachverständige war ausweislich des Gutachtens relevant, wie lange der Kläger tatsächlich lärmexponiert gearbeitet hatte und wann die eine solche Lärmexposition ausschließende Arbeitslosigkeit begonnen hatte. Die Sachverständige hat nach ihrem Gutachten die entsprechende Anamnese sowohl mittels einer Dolmetscherin als auch in deutscher Sprache erhoben, wobei nach ihrer Ansicht eine entsprechende Verständigung ohne weiteres möglich war. Ein einfaches Versprechen oder Verhören ist unwahrscheinlich, da weder der wiedergegebene Monat noch die wiedergegebene Jahreszahl einen Bezug zur tatsächlichen Tätigkeitsaufgabe mit dem Monat Juni und der Arbeitslosmeldung im Monat September sowie mit der Jahreszahl 1993 haben. Ein entsprechendes mehrfaches Mißverständnis ist eher unwahrscheinlich. Dieser Sachverhalt kann jedoch dahingestellt bleiben, denn es wäre die Pflicht des Klägers gewesen, das Gericht und die Beklagte auf die fehlerhafte Sachverhaltsannahme hinzuweisen. Eine Täuschung im Sinne des § 123 Abs.1 BGB kann nicht nur durch eine ausdrücklich falsche Tatsachenwiedergabe erfolgen, sondern auch durch das Verschweigen solcher Tatsachen, deren Angabe in dem im Streit stehenden Rechtsverhältnis erwartet werden muß, ferner durch das Unterlassen einer Richtigstellung, zu der eine Verpflichtung in dem betreffenden Rechtsverhältnis besteht (vgl. Palandt a.a.O., § 123 Rdnr.5 ff.; BGH NJW 1998, S.1317). Diese Rechtspflicht zur Offenbarung entscheidungserheblicher Tatsachen und zur Berichtigung falscher Sachverhaltsangaben ergibt sich im vorliegenden Fall aus dem zwischen dem Kläger und der Beklagten bestehenden Sozialversicherungsverhältnis nach § 60 SGB I. Nach dessen Abs.1 hat, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind und Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen. Danach wäre es die Pflicht des Klägers gewesen, nach Erhalt des Gutachtens der Sachverständigen Dr ..., spätestens jedoch nach der Vorlage der gutachterlichen Stellungnahme des Dr ... durch die Beklagte, den Sachverhalt bezüglich der Angaben über den Beginn seiner Arbeitslosigkeit richtig zu stellen. Diese Verpflichtung hätte schon dann bestanden, wenn sich die Entscheidungsrelevanz dieser Angaben nicht bereits deutlich aus diesen Gutachten ergeben hätte. Sie bestand dann jedoch um so mehr, als für jeden Außenstehenden erkennbar war, daß die nunmehr in Betracht kommende MdE um 20 v.H. erst erhebliche Zeit nach der Tätigkeitsaufgabe zustehen konnte und daß eine zwischen der ersten und der zweiten gutachterlichen Untersuchung entfallene Lärmexposition einer Erhöhung der berufsbedingten MdE entgegenstehen würde. Daran würde sich nichts ändern, wenn der Kläger wegen mangelnder Deutschkenntnisse die Gutachtensinhalte nicht hinreichend wahrgenommen hätte. Dem Kläger muß der Inhalt von Gutachten und von gegnerischen Stellungnahmen nicht übersetzt werden, da im Verwaltungs- und im Gerichtsverfahren die Sprache deutsch ist (§§ 184 bis 191 GVG, § 19 SGB X). Es ist Sache eines ausländischen ebenso wie eines deutschen Versicherten, den Stoff des von ihm angestrengten Prozesses zur Kenntnis zu nehmen und nach § 60 SGB 1 falsche Tatsachendarstellungen zu berichtigen. Ein ausländischer Kläger, der sich nicht durch Übersetzung Kenntnis vom Prozeßstoff verschafft, ist nicht anders zu behandeln, als ein deutscher Kläger, der den Prozeßstoff ignoriert.

Die Beklagte ist durch die fehlerhafte Angabe über den Beginn der Arbeitslosigkeit getäuscht worden. Sie hatte ausweislich des Akteninhaltes keine Kenntnis von der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bei der ... AG im Jahre 1993.

An der Tatsache des bei der Beklagten bestehenden Irrtums ändert nichts, daß sie den zutreffenden Sachverhalt ohne weiteres ermitteln konnte. Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung ist nicht ausgeschlossen, wenn der Getäuschte die wahre Sachlage aus Fahrlässigkeit nicht kannte (BGH NJW 1971, 1795) oder sich die erforderlichen Informationen anderweitig beschaffen konnte (BGH NJW 1998, 1317). Auch das Bestehen eines Verdachtes, der aus den Anfragen nach Abgabe des Anerkenntnisses geschlossen werden könnte, reicht nicht zur Annahme, es liege keine Täuschung vor und steht damit auch einer Anfechtung nach § 123 BGB nicht entgegen (Kammergericht Berlin NJW 1998, 1082).

Das Verhalten des Klägers war arglistig im Sinne des § 123 Abs.1 BGB. Für diesen subjektiven Tatbestand genügt das Bewußtsein, etwas unredlich zu verschweigen, das den Versicherungsträger möglicherweise von einer zusprechenden Entscheidung abhalten würde. Es genügt, wenn der Kläger zumindest damit gerechnet und billigend in Kauf genommen hat, daß die Beklagte von der erheblich früheren Beendigung der schädigenden Tätigkeit keine Kenntnis hatte (vgl. BGH NJW 1998 S.1317). Eine solche billigende Inkaufnahme muß im vorliegenden Fall aus dem Verhalten des Klägers geschlossen werden, der den Inhalt der Gutachten der Dr ... und des Dr ... entweder zur Kenntnis genommen und bewußt nicht richtiggestellt hat oder den darin dargestellten Sachverhalt pflichtwidrig ignoriert und Leistungen der Beklagten beansprucht hat, auch wenn ihnen falsche Sachverhaltsannahmen zugrunde lagen.

Der bei der Beklagten bestehende Irrtum war auch entscheidungsrelevant. Dies ergibt sich aus den Gutachten sowohl der Dr ... als des Dr ... und entspricht allgemein anerkannten wissenschaftlichen Beurteilungsgrundsätzen (vgl. Schoenberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, S.389). Daß die Beklagte nicht schon aufgrund der Messungen des Dr ... eine MdE um 20 v.H. angenommen hätte, ergibt sich aus dem Widerspruchsbescheid und daß sie sich zu Recht so verhalten hat, ergibt sich aus den Gutachten der Dr ... und des Dr ...

Mit der wirksamen Anfechtung des Anerkenntnisses durch die Beklagte ist dessen Rechtswirksamkeit sowohl prozessual als auch materiell-rechtlich entfallen. Die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache nach § 101 Abs.2 SGG ist nicht eingetreten. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 05.11.1998 war demnach aufzuheben. Da das Klageverfahren nicht beendet ist, hat ihm das Sozialgericht Fortgang zu geben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Klageverfahren vorbehalten.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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