L 15 VJ 3/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 VJ 3/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VJ 3/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 29.01.2001 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision ist nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin im Zusammenhang mit einer am 20.12.1984 stattgefundenen Schutzimpfung gegen Kinderlähmung (Polio), Diphterie und Wundstarrkrampf (Tetanus) Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) bzw. dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zusteht.

Die am 1984 geborene Klägerin wurde am 20.12.1984, also im Alter von dreieinhalb Monaten, mit einer Dreifachimpfung gegen Kinderlähmung, Diphterie und Wundstarrkrampf geimpft.

Mit Schreiben vom 13.09.1993 beantragten die Eltern der Klägerin für diese Versorgung nach dem BSeuchG: Circa eine Woche nach der Dreifachimpfung sei bei der Klägerin eine eigenartige Hand - bzw. Fingerhaltung sowie Beinhaltung aufgetreten; die Stellung von Hand und Bein hätte sich nicht mehr verändert (Lähmung). Bei der Klägerin liege eine Hemiparese links vor.

Der Beklagte zog das Impfbuch der Klägerin bei und holte vom Staatlichen Gesundheitsamt K. den "Bericht über eine Gesundheitsstörung nach Schutzimpfung" vom 29.11.1993 ein, dem verschiedene medizinische Unterlagen beigefügt waren (u.a. Bericht des Impfarztes Dr.S. vom 27.10.1993; Krankenunterlagen betreffend Geburt der Klägerin in der Missionsärztlichen Klinik W. ; Ablichtungen aus dem "Untersuchungsheft für Kinder"). In dem o.a. Bericht des Gesundheitsamtes ist aufgeführt, nach den Angaben der Mutter sei dieser vier bis fünf Tage nach der Impfung vom 20.12.1984 aufgefallen, dass der linke Arm und das linke Bein der Klägerin weniger als die rechten Extremitäten bewegt worden seien; es sei der impfende Arzt aufgesucht worden, der gesagt habe, dass sich das wieder gebe; auch sei nach ca. vier Wochen der linke Arm wieder mehr bewegt worden, jedoch sei die Faust ständig geschlossen gehalten worden; etwa im April 1985 sei erstmalig der Kinderarzt Dr.M. aufgesucht worden; von diesem sei anläßlich der U6 am 22.07.1985 im Vorsorgeheft "Hemiparese links" angegeben worden. Der Beklagte zog darüber hinaus einen Bericht des Dr.S. vom 06.05.1994 bei, wonach die Lähmungserscheinungen der Klägerin auf Spätfolgen des protrahierten Geburtsverlaufes mit peripartaler Asphyxie (während Schwangerschaft/Geburt aufgetretener Sauerstoffmangel) zurückzuführen seien. Dem Bericht waren verschiedene medizinische Unterlagen und eine Kopie des von Dr.S. geführten Krankenblattes der Klägerin (1984/85) beigefügt. In einem versorgungsärztlichen Gutachten vom 12.08.1994 gelangte der Neurologe Dr.B. zu der Auffassung, die bei der Klägerin vorliegende Hemiparese links einschließlich verzögerter Sprachentwicklung sei eine Folge der bei der Geburt aufgetretenen Komplikationen und des danach festgestellten Sauerstoffmangels; eine Impfschädigung könne nicht wahrscheinlich gemacht werden. In einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 14.06.1995 stimmten die Nervenärztin Dr.S. und der Chirurg Dr.M. diesem Gutachten zu.

Mit Bescheid vom 19.07.1995 lehnte es der Beklagte daraufhin ab, der Klägerin aus Anlass der Impfung vom 20.12.1984 Beschädigtenversorgung zu gewähren.

Den dagegen eingelegten Widerspruch begründet die Klägerin u.a. damit, die Lähmungserscheinungen seien unmittelbar nach der Impfung vom 20.12.1984 aufgetreten und überdies hätte diese Impfung wegen des bei der Geburt aufgetretenen Sauerstoffmangels nicht bereits nach dreieinhalb Monaten, sondern vielmehr erst nach drei Jahren durchgeführt werden dürfen. Nach Einholung einer von Dr.B. am 11.09.1995 abgegebenen versorgungsärztlichen Stellungnahme wies der Beklagte mit Bescheid vom 27.03.1996 den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Dagegen hat diese Klage zum Sozialgericht Würzburg erhoben und - unter Verweisung auf die im Widerspruchsverfahren abgegebene Begründung - beantragt, die bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen als Impfschadensfolgen anzuerkennen und zu entschädigen.

Das Sozialgericht hat die die Klägerin betreffende Akte des Beklagten beigezogen und Berichte der Dres. S. , M. und S. eingeholt, denen verschiedene medizinische Unterlagen beigefügt waren. Im Auftrag des Sozialgerichts hat die Ärztin für Innere Medizin und für Öffentliches Gesundheitswesen, Dr.B. am 07.02.2000 ein Gutachten erstattet. Sie vertrat darin die Auffassung, obwohl die spastische Halbseitenlähmung der Klägerin eindeutig eher für eine durch Sauerstoffmangel während der Geburt verursachte Behinderung spreche und bei durch Polioimpfung bedingten Impfschäden eher eine schlaffe Lähmung zu erwarten sei, ließen die Angaben der Eltern und besonders die mitgebrachten Fotos doch Zweifel aufkommen. Es werde deshalb empfohlen, ein weiteres Gutachten bei einem in Neurologie erfahrenen Kinderarzt, z.B. an der Universitätskinderklinik W. , durchführen zu lassen.

Dementsprechend hat das Sozialgericht schließlich Prof. Dr.S. , den ärztlichen Leiter der Ambulanz für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsauffälligkeiten und Behinderungen im Frühdiagnosezentrum W. , mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 29.09.2000 gelangte der Sachverständige zu der Auffassung, die Behinderungen der Klägerin (Halbseitenlähmung links) seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Ausdruck einer bereits vor der Geburt entstandenen Hirnschädigung infolge einer Durchblutungsstörung in der mittleren großen Hirnarterie im Sinne eines Hirninfarktes rechts. Ein Sauerstoffmangel bei der Geburt habe nicht stattgefunden; im Übrigen gebe es auch bei Risikokindern und den meisten neurologischen Auffälligkeiten keine Einschränkungen zur Durchführung von Schutzimpfungen, insbesondere nicht der bei der Klägerin durchgeführten Dreifachimpfung; Impfungen erst nach Ablauf von drei Lebensjahren seien heutzutage eindeutig als falsche ärztliche Behandlung anzusehen.

Mit Urteil vom 29.01.2001 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es stützte sich dabei insbesondere auf das Gutachten des Prof. Dr. S ...

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt: Aus dem durch Fotos belegbaren Umstand, dass sie bis wenige Tage nach der Impfung vom 20.12.1984 Beine, Arme und Hände seitengleich habe bewegen können und erst dann linksseitige Lähmungserscheinungen aufgetreten seien, müsse auf einen wahrscheinlichen Kausalzusammenhang dieser Gesundheitsstörungen mit der Impfung geschlossen werden. Der Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. S. , es handle sich lediglich um ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen von Schutzimpfung und Manifestation der Lähmungserscheinungen, deren alleiniger Grund in einer bereits vor der Geburt erfolgten Hirnschädigung im Sinne eines rechtsseitigen Hirninfarktes zu sehen sei, müsse entschieden widersprochen werden.

Der Senat hat die die Klägerin betreffenden Impfschadens- und Schwerbehindertenakten des Beklagten sowie einen Bericht der Radiologen Dres. M./R. vom 17.07.2001 über den am 08.02.1995 erhobenen Befund einer bei der Klägerin durchgeführten Computertomographie des Schädels beigezogen. Auch hat der Senat Berichte/Auskünfte einschließlich Patientenkarte der Klägerin von Dr.M. eingeholt und Dr.S. am 18.11.2001 schriftlich als Zeugen zu etwaigen Auffälligkeiten der Klägerin in der Zeit nach der Impfung vom 20.12.1984 befragt.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 29.01.2001 sowie des Bescheides vom 19.07.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.03.1996 zu verurteilen, ihr unter Anerkennung einer "Hemiparese links mit Sprachentwicklungsverzögerung" als Impfschadensfolge (Impfung vom 20.12.1984) ab Antragstellung Versorgung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen, weil das angefochtene Urteil der Sach - und Rechtslage entspreche.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten I. und II. Instanz sowie auf den Inhalt der zu Beweiszwecken beigezogenen Akten/Unterlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig (§ 61 Abs.2 BSeuchG bzw. § 68 Abs. 2 IfSG i.V.m. §§ 143, 151 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin aus Anlass der bei dieser bestehenden Hemiparese links (deutliche spastische Bewegungsstörung des linken Armes und des linken Beines mit einer Verschmächtigung der Muskulatur und einer verminderten Länge von Ober- und Unterarm sowie einer Verschmächtigung der linken Hand) und Sprachentwicklungsverzögerung, Versorgung zu gewähren. Dass ist dann der Fall, wenn es sich bei diesen Gesundheitsstörungen um Folgen der Dreifachimpfung vom 20.12.1984 gegen Kinderlähmung, Diphterie und Tetanus handelt.

Dies hat das Sozialgericht mit Recht verneint.

Entsprechend der Regelung des - seit 01.01.2001 durch § 60 Abs.1 IfSG ersetzten - § 51 Abs.1 BSeuchG erhält derjenige, der durch eine Impfung, die u.a. gesetzlich vorgeschrieben oder von einer zuständigen Behörde öffentlich empfohlen ist, einen Impfschaden erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Voraussetzung im Einzelnen dafür ist, dass die vorgeschriebene Impfung die Gesundheitsstörungen wahrscheinlich verursacht hat (§ 52 Abs.2 Satz 1 BSeuchG bzw. § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlich in diesem Sinne ist die Kausalität dann, wenn wenigstens mehr für als gegen sie spricht, d.h. die für den Zusammenhang sprechenden Umstände mindestens deutlich überwiegen. Die Impfung als schädigende Einwirkung, der Impfschaden - das ist ein über die übliche Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden (§ 52 Abs.1 Satz 1 BSeuchG bzw. § 2 Nr.11 IfSG) - und die Schädigungsfolge (Dauerleiden) müssen nachgewiesen, nicht nur wahrscheinlich sein (BSG, 19.03.1986, 9 a RV 2/84, und 26.06.1985, 9 a RVi 3/83 = BSG, SozR 3850 Nr.9 und 8).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Bei der Dreifachschutzimpfung, der sich die Klägerin am 20.12.1984 unterzog, handelte es sich zwar unstreitig um eine öffentlich empfohlene Impfung. Auch bestehen keine Zweifel am Vorliegen von linksseitigen spastischen Lähmungen bei der Klägerin.

Es ist aber weder ein Impfschaden gesichert noch kann ein wahrscheinlicher Kausalzusammenhang zwischen der Hemiparese der Klägerin und der Impfung vom 20.12.1984 angenommen werden.

Entsprechend den "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", Ausgabe 1996 (AP), kommen als Impfschaden nach einer Polio-Schutzimpfung poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen vor. Bei der Klägerin lagen und liegen aber spastische Lähmungen vor. Auch die in den AP nach Diphterie- und Tetanusschutzimpfungen beschriebenen Impfschäden decken sich nicht mit der bei der Klägerin - nach den Angaben der Eltern wenige Tage nach der Impfung aufgetretenen - schlaffen Lähmungen der linken Körperseite.

Die nach Angaben der Eltern kurz nach der Impfung aufgetretenen linksseitigen Lähmungen können aber insbesondere deshalb nicht als Impfschaden angesehen werden, weil es trotz des zeitlichen Zusammenhanges nicht wahrscheinlich ist, dass diese Gesundheitsstörungen mit der Dreifachschutzimpfung in wesentlichem Zusammenhang stehen. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof.Dr.S. in dessen Gutachten vom 29.09.2000. Danach ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die computertomographisch nachgewiesene Strukturstörung der rechtsseitigen Großhirnhälfte durch einen noch während der Schwangerschaft aufgetretenen Hirninfarkt verursacht worden ist. Die weitaus häufigste Ursache dafür sind Gerinnselbildungen in der Plazenta, die oft ohne klinische Symptome bereits vor der Geburt zu einer Embolie (Verstopfung) der Hirnarterien - hier der großen mittleren Hirnarterie - führen. Die linksseitige Hemiparese ist eine Folge der nachgewiesenen Strukturstörung der rechtsseitigen Großhirnhälfte. Dass bei der Klägerin in den ersten drei bis vier Lebensmonaten nach Angaben der Eltern eine seitengleiche Beweglichkeit der Arme und Beine vorlag, erklärt sich nach den schlüssigen und überzeugenden Darlegungen des Prof.Dr.S. zwanglos aus der während dieser Zeit erst stattfindenden Ausreifung der Hirnbahnen im Rahmen der Hirnentwicklung. Bei dem nach Angaben der Eltern wenige Tage nach der Impfung erfolgten erstmaligen Auftreten der Lähmungserscheinungen - das im Übrigen durch die Ermittlungen des Senats (Aussage Dr.S. ; Auskunft Dr.M.) nicht bestätigt wurde - handelt es sich folglich nur um ein zeitlich zufälliges Zusammentreffen mit der Impfung, ohne dass daraus, wie es die Klägerseite tut, auf einen wesentlichen Kausalzusammenhang geschlossen werden kann.

Ein solcher ergibt sich auch nicht aus einem etwaigen von der Klägerseite wegen der peripartalen Asphyxie als verfrüht angesehenen Impftermin. Denn zum einen hat Prof. Dr.S. den versorgungsärztlich und auch von Dr.S. angenommenen wesentlichen Sauerstoffmangel während oder kurz nach der Geburt mit überzeugenden Gründen verneint; zum anderen hat der Sachverständige zutreffend dargelegt, dass - selbst wenn eine derartige Sauerstoffmangelsituation vorgelegen hätte - nach aktuellem ärztlichen Kenntnisstand eine Verschiebung der Impfung bis zum Alter von drei Jahren aus diesem Grund oder auch wegen anderer neurologischer Auffälligkeiten nicht veranlaßt gewesen und sogar eindeutig als falsche ärztliche Behandlung anzusehen wäre.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 29.01.2001 war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved