L 14 RA 232/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 11 RA 237/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 RA 232/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 272/03 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16. Oktober 2001 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 10. Juni 1997 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom 9. Oktober 1998 in vollem Umfang abgewiesen.
II. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge werden nicht erstattet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die 1950 geborene Klägerin ist gelernte Einzelhandelskauffrau. Nach berufsfremden Tätigkeiten als Löterin und angelernte Näherin war sie ab 1986 als Schuhverkäuferin und danach als Inhaberin eines kleinen Schuhgeschäfts selbständig tätig; anschließend arbeitete sie erneut als Schuhverkäuferin, Kassiererin und ab 1997 in wechselndem Umfang als Bäckereiverkäuferin.

Seit 1996 bezieht die Klägerin unter anderem nach einer unfallbedingten Sprunggelenksfraktur links eine private Berufsunfähigkeitsrente.

Ihren am 26.02.1997 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10.06.1997 ab. Zugrunde lag ein orthopädisches Gutachten des Dr. S. , mit dem dieser eine teilkonsolidierte Weber C-Fraktur linkes Sprunggelenk mit rezidivierender Schwellneigung des Knöchels und verschiedener Befunde von Seiten der Wirbelsäule und Hüften diagnostiziert und ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung angenommen hatte (Gutachten vom 18.04.1997).

Auf den Widerspruch der Klägerin gegen den ablehnenden Bescheid erfolgte eine weitere Begutachtung durch den Nervenarzt Dr. E ... Dieser erhob in seinem Gutachten vom 05.11.1997 eine Bulimie, ein allgemein psychosomatisches Krankheitsbild mit vegetativer Labilität sowie eine Agoraphobie und eine agitiert depressive Verstimmung. Dr. E. hielt die psychiatrischen Leiden der Klägerin, die nie in fachärztlicher Behandlung gewesen sei, für nicht austherapiert und empfahl eine entsprechende Therapie in einer stationären Einrichtung, bevor über den Rentenantrag endgültig entschieden werde; nach Therapie müssten die bisherigen Tätigkeiten wieder möglich sein.

Die Beklagte bot medizinische Leistungen zur Rehabilitation an und zog in der Folgezeit weitere ärztliche Unterlagen, darunter einen Operationsbericht vom 10.11.1997 über die erfolgte Platten- und Zugschraubenentfernung nach konsolidierter Weber-C-Fraktur linkes Sprunggelenk, sowie eine Arbeitgeberauskunft vom 25.05.1998 (Teilzeittätigkeit als Kaufmannsgehilfin im Handel, Verkauf und Kasse, drei bis vier Stunden täglich, Grundvergütung 1.600,00 DM brutto) bei. Nach Einholung einer prüfärztlichen Stellungnahme wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 09.10.1998 zurück mit der Begründung, die Klägerin könne nach den medizinischen Ermittlungen noch körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt halb- bis untervollschichtig ausüben; ein entsprechender Arbeitsplatz stehe zur Verfügung.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) legte die Klägerin verschiedene ärztliche Unterlagen sowie einen Änderungsbescheid des Versorgungsamtes vom 18.02.1999 über die Erhöhung des GdB von 30 auf 60, u.a. wegen eines psychovegetativen Syndroms mit depressiver Verstimmung und Bulimie, vor. Das Gericht holte Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. T., Dr. F. , Dr. D. und Dr. C. ein, ferner die Schwerbehindertenakten des Versorgungsamtes Landshut. Es erhob Beweis über den Gesundheitszustand und die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch Gutachten auf nervenärztlichem und orthopädischem Fachgebiet.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. erhob in seinem Gutachten vom 18.01.2000 folgende Gesundheitsstörungen: "Lumboischialgie-Syndrom beidseits bei bekannten degenerativen Veränderungen im Bereich der LWS (Osteochondrose zwischen LWK 4 und 5); zwischenzeitlich remittierte depressive Störung in Verbindung mit einer bulimischen Essstörung bei Adipositas permagna; dringender Verdacht auf Calpaltunnelsyndrom rechts; Tinnitus nach mehreren Hörstürzen im Bereich des rechten Ohres; Spannungskopfschmerz seit über 20 Jahren; bekannte Periarthropathia humeroscapularis links bei Bursitis calcarea 2/99; Weber-C-Fraktur links 1996; Nephrolithiasis links; Status varicosis linksbetont; arterielle Hypertonie".

Der Gutachter legte dar, dass die Beschwerden von Seiten der Lendenwirbelsäule im Vordergrund stünden; hier lägen degenerative Veränderungen vor, nicht jedoch neurologische Ausfälle. Das depressive Syndrom sei demgegenüber zurückgetreten, Angstsymptom und Essstörungen seien abgeklungen. Bei Berücksichtigung aller Störungen hielt er leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung halb- bis untervollschichtig für möglich. Im Übrigen ging er von einer eingeschränkten Umstellungsfähigkeit und bezüglich der bestehenden Schmerzsymptomatik von einer Aussicht auf Besserung aus.

Der Orthopäde Dr. B. erhob auf seinem Fachgebiet ein chronisches Lumbalsyndrom bei degenerativen Veränderungen und Fehlstatik, eine chronische Schwellneigung am linken Unterschenkel und linkem Sprunggelenk bei Zustand nach Varizenentfernung und Weber-C-Fraktur, ein Carpaltunnelsyndrom rechts, eine AC-Gelenkreizung bei initialer Arthrose der linken Schulter, ein chronisches HWS-Syndrom bei muskulärer Imbalance sowie eine diskrete Hüftdysplasie mit funktioneller Einschränkung der Beweglichkeit beidseits. Er sah leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten ohne ständiges Stehen, am besten im Wechsel der Körperhaltungen, ohne Zwangshaltungen und ohne Nässe, Kälte oder Zugluft vollschichtig als möglich und zumutbar an. Als Kauffrau mit ausschließlich stehender Tätigkeit sei noch halb- bis untervollschichtiges Leistungsvermögen gegeben (Gutachten vom 17.08.2000).

Der zuvor gehörte Nervenarzt Dr. G. blieb auf Rückfragen bei seiner hiervon abweichenden vollschichtigen Leistungsbeurteilung. In der ergänzenden Stellungnahme vom 25.10.2000 hielt er es für wenig wahrscheinlich, dass die Klägerin selbst unter der Möglichkeit der Einnahme wechselnder Arbeitspositionen regelmäßig vollschichtig leistungsfähig sei. In der weiteren Stellungnahme vom 12.06.2001 nahm er aufgrund der vorliegenden Schmerzsymptomatik im Bereich der Lendenwirbelsäule eine Einsatzfähigkeit für drei bis sechs Stunden an, wobei die Belastungsgrenze eher bei sechs Stunden liege.

Die Klägerin legte Gehaltsabrechnungen von Dezember 1997 und August 2000, eine Arbeitgeberauskunft vom 13.11.2000 ("Verkauf von Backwaren, angelernte Tätigkeit - Anlernzeit sechs Wochen, 25 Stunden/Woche") sowie eine Auskunft der Regierung von Niederbayern vom 04.07.2000 über den monatlichen Bruttolohn nach dem Gehaltstarifvertrag für die Beschäftigten im Einzelhandel in Bayern in der Endstufe ab 01.01.2000 vor. Sie machte geltend, ihre Entlohnung (Stundenlohn DM 16,00) entspreche nicht der einer gelernten Einzelhandelskauffrau.

Das SG, das seinerseits eine ähnlich lautende Arbeitgeberauskunft vom 10.04.2000 sowie noch eine Auskunft der zuständigen Krankenkasse über Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin seit 2000 eingeholt hatte, wies mit Urteil vom 16.10.2001 die auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit gerichtete Klage für den Zeitraum bis zum 31.12.2000 unter Bezugnahme auf §§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31.12.2000 gültigen Fassung ab, da die Klägerin mit dem verbliebenen Leistungsvermögen nicht berufs- oder erwerbsun- fähig im Sinne dieser Vorschriften sei. Dabei komme es nicht darauf an, ob das Leistungsvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit vier bis sechs Stunden entsprechend Dr. G. oder aber mit vollschichtig entsprechend der Auffassung des Dr. B. zu beurteilen sei. Die Klägerin habe einen leidensgerechten Arbeitsplatz inne, auf dem sie gesundheitlich nicht überfordert sei. Anhaltspunkte dafür, dass sie die Tätigkeit als Bäckereiverkäuferin nur unter zumutbarer Anspannung der Willenskraft oder auf Kosten der Gesundheit verrichte, hätten sich nicht ergeben. Sie übe ihre erlerte Tätigkeit am derzeitigen Arbeitsplatz aus und verwerte mit der gesundheitsbedingten Einschränkung der Arbeitszeit ein Leistungsvermögen, das noch nicht im Sinne des § 43 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung auf weniger als die Hälfte von vergleichbaren gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken sei. Bei Heranziehen des Tarifvertrages für die Arbeitnehmer der Bayer. Bäckereien ergebe sich, dass das von der Klägerin erzielte Monatsbrutto von DM 1.544,00 bzw. DM 1.600,00 die Hälfte des Monatsbruttos für Bäckereiverkäuferinnen auch der Tätigkeitsgruppe I ("ausgebildete Bäckereifachverkäuferin") übersteige.

Für die Zeit ab 01.01.2001 sprach das SG der Klägerin dagegen eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs.1 SGB VI in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung zu. Es schloss sich den Darlegungen des Dr. G. zu den Auswirkungen des von der Lendenwirbelsäule ausgehenden Schmerzsyndroms auf die noch möglichen Arbeitshaltungen und einer daraus resultierenden zeitlichen Leistungseinschränkung auf drei bis sechs Stunden an. Diese verdienten gegenüber der anders lautenden Leistungseinschätzung des Dr. B. , der die Schmerzsymptomatik offensichtlich unterschätzt habe, den Vorzug. Eine Rente wegen voller Erwebsminderung könne dagegen wegen des noch untervollschichtigen Leistungsvermögens und des noch inne gehaltenen Arbeitsplatzes nicht in Betracht kommen.

Mit der Berufung wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil. Sie hält die Feststellung eines Leistungsvermögens von unter sechs Stunden für nicht nachvollziehbar; dieses komme lediglich für die vorwiegend stehende Tätigkeit als Bäckereiverkäuferin wegen des Zustands nach Weber-C-Fraktur und des Krampfaderleidens mit Schwellneigung - welche allerdings durch Versorgung mit einem Kompressionsstrumpf gebessert werden könne - in Betracht. Der nervenärztliche Gutachter Dr. G. habe die quantitative Leistungsminderung auch für leichte Tätigkeiten abweichend von den Vorbegutachtungen im Rentenverfahren auf die Schmerzsymptomatik im Bereich der LWS zurückgeführt, obwohl er in diesem Bereich keine wesentliche Änderung seit 1997 gefunden und die psychische Symptomatik durch die medikamentöse Behandlung für ausreichend gebessert gehalten habe; funktionelle Störungen im LWS-Bereich oder Zeichen einer Wurzelkompression oder neurologische Ausfälle habe er nicht mitgeteilt. Die subjektiven Angaben der Klägerin könnten dagegen nicht ausschlaggebend sein; im Übrigen sei eine Klopf- und Druckschmerzhaftigkeit im Bereich der unteren LWS bei degenerativen Veränderungen mit einer leichten körperlichen Tätigkeit bei Möglichkeit zum Haltungswechsel vereinbar. Auch die nur bei Bedarf erforderliche Schmerzmedikation und das Freizeitverhalten der Klägerin spreche gegen ein leistungsminderndes Schmerzsyndrom. Insgesamt bleibe unkar, warum das SG der Auffassung des Dr. G. gegenüber der des Dr. B. den Vorzug gegeben habe. Zudem lasse sich aus dem Gutachten des Dr. G. eine sechstündige Leistungsfähigkeit der Klägerin und damit auch für die Zeit ab 2001 ein vollschichtiges Leistungsvermögen ableiten.

Die Klägerin begehrt unter Hinweis auf wieder vermehrt bestehende Arbeitsunfähigkeitszeiten und eine am 22.02.2002 erfolgte Rotatorenmanschettenruptur die Verurteilung der Beklagten zur rückwirkenden "Rente wegen voller Erwerbsminderung".

Mit Beschluss vom 02.01.2002 setzte der Senat auf Antrag der Beklagten die Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil aus.

Er zog die Schwerbehindertenakten bei und holte Befundberichte und ärztliche Unterlagen der behandelnden Ärzte Dr. E. , Dr. T. , Dr. T. und Dr. D. ein. In ihrer Stellungnahme zu diesen Unterlagen verwies die Beklagte auf eine mögliche längere Zeit der Arbeitsunfähigkeit wegen der Schulterverletzung, die aber keine andauernde Leistungsminder mit sich bringe, ferner darauf, dass die wechselnden psychischen Befindlichlichkeiten der Klägerin medikamentös behandelbar seien und eine ambulante Psychotherapie insoweit nicht erfolge und auch nicht erforderlich sei.

Der Senat holte im Wege der weiteren Beweisaufnahme ein erneutes orthopädisches Gutachten durch Dr. S. vom 08.08.2002 ein. Der Gutachten fand bei seiner Untersuchung keinerlei Ödeme an den Unterschenkeln und eine unauffällige Beweglichkeit an den Sprunggelenken, auch eine inzwischen gute aktive Beweglichkeit der linken Schulter mit weiter zu erwartender Besserungstendenz. Er diagnostizierte nach umfassender Untersuchung "Einschränkungen seitens der LWS bei degenerativen Veränderungen, insbesondere L5/S1, aber auch L1/L2; ISG-Arthrose beidseits; Zustand nach Weber-C-Fraktur und Varizenentfernung am linken Unterschenkel und Sprunggelenk ohne Lymphödem; Carpaltunnel-Syndrom rechts ohne motorische Ausfälle und Atrophien, lediglich mit Sensibilitätsstörung in den Fingerspitzen I bis III; unauffällige Hüftgelenke; HWS mit Streckstellung, jedoch ohne degenerative Veränderung und mit freier Beweglichkeit".

Aufgrund der genannten Gesundheitsstörungen hielt Dr. S. noch leichte körperliche Tätigkeiten im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen oder mit überwiegendem Stehen und Gehen vollschichtig für zumutbar. Es sei insoweit seit den Vorbegutachtungen zu einer Verbesserung der Beschwerdesituation gekommen, jedoch seien zu vermeiden Umwendebewegungen der Arme, Beuge- und Streckbewegungen des rechten Handgelenks, überwiegende Überkopftätigkeit und überwiegend gebückte Haltung. Der Gutachter ging von einer zu erwartenden weiteren Besserung des Befundes an der Schulter aus und empfahl das Tragen von Kompressionsstrümpfen und einer Ellbogengelenksbandage.

Die Klägerin wandte gegen dieses Gutachten ein, es sei widersprüchlich und nicht überzeugend. Sie legte u.a. einen ärztlichen Bericht vom 26.08.2002 über den Verdacht einer beginnenden Polyarthritis der Fingergelenke (ohne Mitteilung von Funktionsbeschränkungen) vor, ferner eine Aufstellung ihrer Arbeitsunfähigkeitszeiten im Jahre 2002. Sie teilte mit, wegen der zunehmenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber die Arbeitszeit ab September 2002 auf wöchentlich 18 Stunden reduziert zu haben.

Im Hinblick auf die offenbar wechselnde psychische Symptomatik beauftragte der Senat den Gutachter Dr. R. mit der Erstellung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens. Dieser diagnostizierte bei der Klägerin eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen, ein beginnendes Carpaltunnel-Syndrom und eine leichte Depression mit Überlagerung der körperlichen Symptomatik (Gutachten vom 20.02. 2003). Er fand bei der Untersuchung im Wesentlichen dieselben Befunde vor wie zuvor Dr. S. , Hinweise für eine somatoforme Schmerzstörung oder ein chronisches Schmerzsyndrom ergaben sich nicht. Die psychische Symptomatik war laut Dr. R. auch weiterhin unter der derzeitigen Medikation gut kompensiert, die Klägerin habe - abgesehen von der leichten Verstimmung über ihre aktuelle Lebenssituation - bestimmt und durchsetzungsfähig gewirkt. Zum Vorgutachten des Dr. G. führte Dr. R. aus, aus den erhobenen Befunden lasse sich eine zeitliche Leistungseinschränkung nicht ableiten; offenbar seien die Angaben der Klägerin in der Anamnese, sie bewältige eine Teilzeitarbeit von vier Stunden, nicht aber von täglich acht Stunden, in den psychopathologischen Befund eingeflossen; dabei gehe Dr. G. aber von einem regelrechten neurologischen Befund und von einer Verbesserung der psychischen Symptomatik bei fast unauffälligem psychopathologischen Befund sowie von einer unbeeinträchtigten geistigen Leistungsfähigkeit aus. Das von ihm empfohlene orthopädische Gutachten ergebe dementsprechend auch ein vollschichtiges Leistungsbild.

Insgesamt hielt der Gutachter leichte körperliche Tätigkeiten ohne besonderen Zeitdruck, ohne Heben und Tragen schwerer Lasten, im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen vollschichtig für zumutbar; er ging von einer Verbesserung des Gesundheitszustandes bei konsequenter nervenärztlicher und orthopädischer Behandlung sowie Gewichtsabnahme aus.

Die Beklagte nahm hierzu dahingehend Stellung, dass eine Einsatzfähigkeit der Klägerin als Kassiererin an Sammelkassen bzw. Etagenkassen in Kaufhäusern oder großen Bekleidungsgeschäften nach den Gehaltsgruppen K 2 und K 3 im Einzelhandel in Betracht komme. Die Klägerin, die auch dieses Gutachten für nicht überzeugend hielt, teilte in der Folgezeit die weitere Reduzierung ihrer Arbeitszeit als Bäckereiverkäuferin auf wöchentlich 14 Stunden ab Dezember 2002 und auf 11 Stunden ab 2003 mit, ferner eine Arbeitsunfähigkeit ab 24.02.2003 wegen eines weiteren Arbeitsunfalls mit Prellung der rechten Hand. Sie legt ein ärztliches Attest vom 03.06.2003 ("keine stehenden Tätigkeiten wegen Varikosis und chronisch-venöser Insuffizienz Grad I") und ein für die private Unfallversicherung erstelltes Gutachten des Dr. S. vom 14.03.2003 über eine nach Rotatorenmanschettenruptur links noch bestehende konzentrische Einschränkung im Umfang von "1/4 Armwert" vor und verweist auf eine geplante Venenoperation.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16.10.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen und die Beklagte unter Aufhebung der zugrunde liegenden Bescheide und in Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Landshut vom 16.10.2001 zu verurteilen, ihr anstelle der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Januar 2001 zu zahlen.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Rentenakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143 ff., 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), sie erweist sich auch als begründet. Die Anschlussberufung der Klägerin ist ebenfalls zulässig, in der Hauptsache aber nicht begründet.

Das angefochtene Urteil ist hinsichtlich der Abweisung eines Rentenanspruchs für die Zeit bis zum 31.12.2000 nicht zu beanstanden. Soweit es für die Zeit ab 01.01.2001 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs.1 in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung zuspricht, kann es dagegen keinen Bestand haben. Der Senat gelangt bei der Prüfung des bisherigen Verfahrens unter Einbeziehung des Ergebnisses der weiteren Beweisaufnahme in zweiter Instanz zu der Auffassung, dass weder ein Anspruch auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit nach altem Recht (§§ 43, 44 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung) ab Antragstellung besteht, noch für die Zeit ab 01.01. 2001 ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs.1 SG VI n.F.

Das Erstgericht hat die Voraussetzungen der §§ 43, 44 SGB VI a.F. ebenso wie des § 43 Abs.1 n.F. im Einzelnen dargelegt. Durch die im Berufungsverfahren auch im Hinblick auf eine geltend gemachte Verschlechterung erfolgte erneute Begutachtung durch den Orthopäden Dr. S. und den Nervenarzt Dr. R. ist klargestellt, dass die Voraussetzungen nicht gegeben sind. Zwar klagte die Klägerin bei den Untersuchungen auch weiterhin über seit Jahren bestehende Wirbelsäulenbeschwerden mit Ausstrahlung ins linke Bein und über Unterschenkelschwellungen, Bewegungseinschränkung und Schmerzen durch Rotatorenmanschettenruptur links, über Schwerhörigkeit mit Tinnitus und über depressive Verstimmungen wechselnder Intensität (vgl. Gutachten des Dr. S. vom 08.08.2002). Dieser fand aber keine Ödeme an den Unterschenkeln, eine unauffällige Beweglichkeit der Sprunggelenke und eine inzwischen gute aktive Beweglichkeit der linken Schulter bei zu erwartender Besserungstendenz und sprach von einem in den Hintergrund getretenen Schmerzsyndrom mit depressiver Symptomatik. Bei der Untersuchung durch Dr. R. war die Klägerin etwas niedergeschlagen, aber nicht eigentlich depressiv verstimmt bei gewisser Fixierung auf die körperlichen Symptome; die erhobenen Befunde waren nach den Ausführungen des Dr. R. deutlich geringer ausgeprägt, als aufgrund der Beschwerdeschilderung zu erwarten gewesen wäre. Trotz der von beiden Gutachtern positiv erhobenen Befunde auf orthopädischem und nervenärztlichem Gebiet konnte und kann die Klägerin auch weiterhin leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung vollschichtig verrichten, wobei lediglich Umwendebewegungen der Arme, Beuge- und Streckbewegungen des rechten Handgelenks, überwiegende Überkopftätigkeiten und gebückte Haltung sowie besonderer Zeitdruck vermieden werden müssten. Dr. R. legte dazu nachvollziehbar dar, dass eine zeitliche Leistungseinschränkung sich auch nicht aus den vom nervenärztlichen Vorgutachter Dr. G. erhobenen Befunden rechtfertigen lässt, so dass diesem Gutachten in der Leistungsbeurteilung nicht zu folgen ist. Der Senat hält die Ausführungen der Gutachter Dr. S. und Dr. R. in der Befunderhebung wie in der Leistungsbeurteilung für überzeugend und schließt sich ihnen in vollem Umfang an. Dabei verkennt er nicht, dass bei der Klägerin zuletzt immer wieder aufgetretene Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen kleinerer Unfälle, Venenoperation etc. bestehen. Die zugrunde liegenden Befunde sind jedoch behandelbar und haben jeweils keine zu einer Rentengewährung führende Erwerbsminderung von Dauer zur Folge.

Mit dem ihr verbliebenen vollschichtigen Leistungsvermögen bei lediglich gewissen qualitativen Leistungseinschränkungen ist die Klägerin nicht berufsunfähig. Sie kann zwar ihren erlernten und nach langjähriger anderweitiger Tätigkeit (angelernte Näherin) mit Unterbrechungen etwa 1986 wieder ausgeübten Beruf einer Einzelhandelskauffrau (Verkäuferin) wegen der von Seiten der Wirbelsäule und der Extremitäten zu beachtenden qualitativen Leistungseinschränkungen nicht oder jedenfalls nicht mehr vollschichtig verrichten, weil das regelmäßig damit verbundene ausschließliche Gehen und Stehen und auch die je nach Einsatzbereich immer wieder anfallenden Überkopfarbeiten für sie nicht mehr günstig und damit nicht zumutbar sind. Damit steht der Klägerin aber noch keine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu, denn sie ist nach § 43 Abs.2 SGB VI a.F. auch auf andere geeignete Tätigkeiten verweisbar, wobei nach dem Gesetz ein gewisser sozialer bzw. wirtschaftlicher Abstieg zugemutet wird. Nach dem vom Bundessozialgericht aufgestellten Berufsgruppenschema (1. Angestellte mit hoher beruflicher Qualität, die regelmäßig eine akademische oder vergleichbare Qualifikation voraussetzt; 2. Angestellte mit einer längeren als zweijährigen, regelmäßig dreijährigen Ausbildung; 3. Angestellte mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren; 4. Unausgebildete Angestellte) ist die Klägerin aufgrund ihrer dreijährigen Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann trotz zwischenzeitlich langjähriger Tätigkeit im angelernten Bereich am ehesten in die Gruppe 2 einzuordnen, wobei der Senat davon ausgeht, dass die Klägerin ab 1986 wieder als gelernte Verkäuferin tätig war und auch nach der Aufgabe der 1988 bis 1992 ausgeübten (versicherungspflich- tigen) selbständigen Erwerbstätigkeit als Inhaberin eines Schuh- geschäftes im gelernten Bereich u.a. wieder als Verkäuferin/ Kassiererin arbeitete; soweit der letzte Arbeitgeber, der in einer Bescheinigung vom 25.05.1998 noch von einer Tätigkeit als Kaufmannsgehilfin im Handel, Verkauf und Kasse, gesprochen hatte, in den später vorgelegten Arbeitsbescheinigungen eine angelernte Tätigkeit als Bäckereiverkäuferin bescheinigt, mag dies auf dem für die Klägerin neuen Tätigkeitsbereich (Bäckerei) beruhen oder auch auf einer durch die vorhandenen Gesundheitsstörungen bedingten gegenüber einer Fachverkäuferin geringeren Bezahlung. Jedenfalls ist die Klägerin als gelernte Einzelhandelskauffrau auf alle ihr nach Ausbildungsstand, Berufserfahrung und gesundheitlichem Zustand möglichen Berufstätigkeiten in derselben Gruppe sowie der darunterliegenden Gruppe verweisbar. In Betracht kommt insoweit die von der Beklagten aufgezeigte Tätigkeit einer Kassiererin an der Sammelkasse eines Kaufhauses. Es handelt sich dabei um eine qualitativ gleichwertige Verweisungstätigkeit, die der Klägerin auch gesundheitlich zumutbar ist. Sie besteht vor allem im Kassieren, Geldwechseln, Ausstellen von Rechnungen und Quittungen, Behandlung von Warenrückgaben und Auswahlen, Verpackungs- und Kontrolltätigkeiten sowie Informationsservice für Kunden und ist als körperlich leichte Arbeit anzusehen, die ohne häufiges Heben und Tragen von Lasten und im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen verrichtet werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 14.05.1996 in SozR 3-2600 § 43 Nr.13 zur Verweisbarkeit einer Fleischereifachverkäuferin auf Tätigkeiten einer Kassiererin an Sammelkassen). Es ist auch davon auszugehen, dass die Klägerin, die bereits kurzzeitig als Kassiererin tätig war, nach ihrer bisherigen Berufskompetenz einer solchen Tätigkeit gewachsen ist und nur einer kurzen Einweisung von jedenfalls weniger als drei Monaten bedarf. Maßgebend ist für eine entsprechende Verweisung nicht, ob derartige Stellen offen oder besetzt sind (BSG a.a.O.). Von einer hinreichenden Zahl solcher Arbeitsplätze kann ausgegangen werden, auf die Arbeitsmarktlage kommt es nicht an.

Da die Klägerin nach alledem nicht berufsunfähig ist, ist erst recht keine Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 44 Abs.2 SGB VI a.F. gegeben. Auch eine teilweise Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs.1 SGB VI in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung kann im Hinblick auf die noch vollschichtige Leistungsfähigkeit der Klägerin - abweichend von den Ausführungen des Erstgerichts - nicht in Betracht kommen.

Aus den genannten Gründen war der Berufung der Beklagten stattzugeben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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