L 17 U 368/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 46/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 368/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 26.09.2002 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Verletztenrente wegen einer als Berufskrankheit (BK) anerkannten Lärmschwerhörigkeit hat.

Der 1937 geborene Kläger arbeitete seit 1952 vorwiegend als (Bau-)Schlosser, seit Mai 1986 als Schlosser und Geschäftsführer. Seit dem 15.03.1996 war er arbeitsunfähig krank. Nach der Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten vom 25.07.1997 war er insgesamt 33 Jahre lärmgefährdend tätig (Beurteilungspegel 90 dB und mehr). Zuletzt - bei der Firma S. ab Mai 1986 - betrug der Beurteilungspegel über 85 dB (A). Die Beklagte holte nach Meldung einer möglichen BK ein Gutachten des HNO-Arztes L.S. vom 29.05.1998 / 11.09.1998 ein. Dieser stellte rechts eine geringgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit mit einem prozentualen Hörverlust von 20 % und links eine mittelgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit mit einem Hörverlust von 50 % fest und führte aus, überwiegend sei von einer Lärmgenese auszugehen, wobei sich die zusätzliche Hörverschlechterung links durch eine frühkindliche Mastoiditis und im 4. Lebensjahr durchgeführte Mittelohroperation erkläre. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei mit 10 v.H. zu bewerten. Darin sei auch ein überwiegend berufsbedingter, aber eher diskreter Tinnitus enthalten.

Mit Bescheid vom 29.09.1998 anerkannte die Beklagte eine berufsbedingte Schwerhörigkeit nach Nr.2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV). Als Folgen der BK führte sie an: "Knapp geringgradige Schwerhörigkeit mit beidseitigen Ohrgeräuschen" - ohne rentenberechtigende MdE (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 25.11.1998).

Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum SG Würzburg erhoben und beantragt, ihm Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. zu gewähren. Schließlich habe er sein ganzes Leben im Lärmbereich gearbeitet.

Das SG hat einen Befundbericht des HNO-Arztes Dr.W. vom 11.10.1999 sowie die Schwerbehinderten-Akte des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg zum Verfahren beigezogen. Sodann hat der Gutachter Dr.N. am 02.03.2000 ein HNO-ärztliches Gutachten erstellt. Er hat die berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit beidseits (Schallempfindungsschwerhörigkeit) einschließlich der damit verbundenen Ohrgeräusche mit einer MdE von 10 v.H. eingeschätzt.

Mit Urteil vom 26.09.2002 hat das SG die Klage abgewiesen und ausgeführt, die beruflich verursachte Hörschädigung des Klägers inklusive des Tinnitus sei nicht mit einer MdE im rentenberechtigenden Grade von mindestens 20 v.H. zu bewerten. Das Gericht hat sich auf das Gutachten des Dr.N. gestützt.

Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, dass er bereits ab Beginn seiner Lehrzeit 1952 im Lärmbereich gearbeitet habe. Er müsse deswegen jetzt ein Hörgerät auf beiden Ohren tragen. Der Senat hat einen Befundbericht der HNO-Ärztin Dr.L. vom 24.02.2003 sowie die Gerichtsakten des SG Würzburg (S 9 SB 124/97 und S 11 SB 127/2000) beigezogen. Sodann hat der HNO-Arzt Dr.D. am 04.08.2003 ein Gutachten erstellt, in dem dieser eine pancochleäre, hochbetonte Schwerhörigkeit beidseits - links mehr als rechts - sowie einen mitteltonigen Tinnitus rechts - unabhängig von der Ursache - feststellte. Für den beruflichen Anteil könne nur die Schwerhörigkeit wie sie sich am Ende der Berufstätigkeit darstellte, herangezogen werden. Die MdE hierfür betrage unter 20 v.H.

Der Kläger beantragt (sinngemäß), die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Würzburg vom 26.09.2002 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 29.09.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.11.1998 zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. wegen der als BK anerkannten Lärmschwerhörigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 26.09.2002 zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten, der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie der Archivakten des SG Würzburg (S 9 SB 124/97 und S 11 SB 127/00) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet.

Die als BK Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV anerkannte Lärmschwerhörigkeit bedingt keine rentenberechtigende MdE in Höhe von mindestens 20 v.H., da die Voraussetzungen nicht vorliegen (§§ 551 Abs. 1, 581 Abs. 1 Nr. 2, Reichsversicherungsordnung ).

Der Anspruch des Klägers ist nach den Vorschriften der RVO zu beurteilen, da die BK vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01.1997 eingetreten ist (Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII).

Die Entscheidung der Frage, in welchem Grad die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert ist, ist eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSGE 4, 147, 149; 6, 267, 268; BSG vom 23.04.1987 - 2 RU 47/86). Die Bemessung des Grades der unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Verletzten durch die Unfallfolgen und nach dem Umfang der dem Verletzten damit verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, betrifft in erster Linie das ärztlich-wissenschaftliche Gebiet. Doch ist die Frage, welche MdE vorliegt, eine Rechtsfrage. Sie ist ohne Bindung an ärztliche Gutachten unter Berücksichtigung der Einzelumstände nach der Lebenserfahrung zu entscheiden (vgl. Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3.Aufl., Anm. 5 d zu § 581 RVO). Ärztliche Meinungsäußerungen hinsichtlich der Bewertung der MdE sind auch eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richtige Einschätzung des Grades der MdE, vor allem, soweit sie sich darauf bezieht, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG in SozR § 581 RVO Nrn. 23, 27).

Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und - medizinischem Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungsgrundsätze - entsprechend dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft -, insbesondere das sogenannte "Königsteiner Merkblatt" zu beachten. Zwar sind diese nicht im Einzelfall bindend, aber sie sind geeignet, die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis zu bilden (BSG vom 23.04.1987 a.a.O.; BSG in SozR 1200 § 581 Nr. 27).

Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Verletztenrente liegen danach nicht vor. Aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen Dr.D. (Gutachten vom 04.08.2003), Dr.N. (Gutachten vom 02.03.2000) und L.S. , dessen im Auftrag der Beklagten erstattetes Gutachten im anhängigen Rechtsstreit berücksichtigt werden kann (BSG SozR Nr. 66 zu § 128 SGG), steht zur Überzeugung des Senates fest, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen der als BK anerkannten Lärmschwerhörigkeit einschließlich des Tinnitus auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens nicht um mindestens 20 v.H. gemindert ist.

Der Kläger, der in seinem Arbeitsleben mehr als 30 Jahre einem gehörschädigenden Dauerlärm von mindestens 90 dB (A) während des überwiegenden Teils der Arbeitszeit ausgesetzt war, leidet - wie Dr.D. ausführt - an einer pancochleären, hochbetonten Schwerhörigkeit beidseits - links mehr als rechts - sowie einem mitteltonigen Tinnitus rechts. Es ist aber nur die hochbetonte Innenohrschwerhörigkeit zum Zeitpunkt der Berufsaufgabe 1996 mit der geforderten Wahrscheinlichkeit auf die berufliche Tätigkeit im Lärmbereich zurückzuführen. Für das maximal mögliche Ausmaß der Lärmschwerhörigkeit ist das Tonaudiogramm vom 22.08.1996 als erstes Audiogramm nach dem Ende der Berufstätigkeit im Lärm maßgebend, denn eine berufsbedingte Schwerhörigkeit kann nur auftreten bzw. sich solange verschlechtern, solange der Versicherte noch im beruflichen Leben tätig ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7.Auflage, Seite 420). In diesem Tonaudiogramm errechnete sich nach der Dreifrequenztabelle von Röser ein prozentualer Hörverlust rechts von 15 % für die Knochenleitung und 35 % für die Luftleitung und links ein prozentualer Hörverlust von 5 % für die Knochenleitung und 30 % für die Luftleitung. Die MdE hierfür betrug für die gesamte Knochenleitung (Innenohrbefund) 0 % und für die Luftleitung unter Berücksichtigung einer Mittelohrschwerhörigkeit - und diese Mittelohrkomponente ist immer lärmfremd, weil eine chronische Lärmexposition nach geltender Lehrmeinung nur eine Haarzellschädigung im Innenohr verursacht - 15 %. Aus dem Tonaudiogramm vom August 1997 ist ein prozentualer Hörverlust rechts von 15 % für die Knochenleitung und 35 % für die Luftleitung und links ein prozentualer Hörverlust von 15 % für die Knochenleitung und 25 % für die Luftleitung ersichtlich. Die MdE für die gesamte Innenohrschwerhörigkeit betrug ebenfalls 0 % und für die Luftleitung 20 %, wobei die lärmfremde Mittelohrkomponente zu berücksichtigen ist. Für das Sprachaudiogramm vom August 1997 ergab sich rechts ein prozentualer Hörverlust von 20 % und links von 40 %. Dies ergibt eine MdE zwischen 10 und 15 v.H. Damit lag die gesamte ton- und sprachaudiometrische MdE unabhängig von der Ursache 1996/1997 bei 15 v.H.

Erst in der Folgezeit und zwar belegt durch die Befunde von 2001, 2002 und 2003 wurden beim Kläger größere prozentuale Hörverluste festgestellt. Bei der Untersuchung durch Dr.D. zeigte sich im Tonaudiogramm vom 01.08.2003 rechts ein prozentualer Hörverlust von 70 % und links von 65 % und im Sprachaudiogramm rechts von 50 % und links von 60 %. Die MdE, die sich nach dem besseren Sprachaudiogramm zu richten hat (Schönberger/ Mehrtens/Valentin a.a.O. Seite 435), beträgt demnach 30 v.H - wie Dr.D. überzeugend darlegt.

Auch aus dieser Tatsache, dass nämlich die MdE zurzeit unabhängig von der Ursache bei nachweisbarer Verschlechterung nach Berufsaufgabe 30 v.H. beträgt, lässt sich nachvollziehen, dass der lärmbedingte MdE-Anteil nicht 20 v.H. betragen kann.

Eine rentenbegründende MdE von mindestens 20 v.H. wird auch nicht durch den mit Wahrscheinlichkeit während der lärmbedingten Berufstätigkeit entstandenen Tinnitus des Klägers erreicht. Dieser Tinnitus ist mit einer MdE von unter 10 v.H. zu bewerten. Eine Höherbewertung ist deshalb nicht möglich, weil erst ein dauerhaft vorhandener lästiger Tinnitus eine MdE von 10 v.H. ergibt. Der Kläger selbst hat aber angegeben, der Tinnitus sei zwar immer da, wirke aber nur zeitweise belästigend. Die HNO-Ärztin Dr.L. hat in ihrem Befundbericht vom 24.02.2003 nur von zeitweisen Ohrgeräuschen gesprochen. Der Tinnitus hat auch nicht zu einer Therapie geführt und macht sich nicht in Schlafstörungen oder anderen vegetativen Problemen beim Kläger bemerkbar. Eine MdE für den Tinnitus von unter 10 v.H. wirkt aber nicht additiv, sondern nur integrierend (Schönberger/Mehrtens/Valentin a.a.O. Seite 442), so dass die Gesamt-MdE des Klägers, die beruflich bedingt ist, somit nicht auf 20 v.H. geschätzt werden kann.

Demzufolge hat der Kläger wegen der anerkannten BK der Lärmschwerhörigkeit keinen Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente.

Die Berufung ist als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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