L 5 RJ 368/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 14 RJ 163/00 A
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 RJ 368/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird die Beklagte in Abänderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Landshut vom 12. April 2002 sowie des Bescheides vom 31. Mai 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. November 1999 verurteilt, dem Kläger ab 1. Mai 1999 Rente wegen Berufsunfähigkeit und ab 1. Juni 2003 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat dem Kläger drei Viertel der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitgegenstand ist die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der 1946 in Bosnien-Herzegowina geborene Kläger hat in der Zeit von 1961 bis 1964 in seiner Heimat den Beruf des Elektroinstallateurs erlernt. Während seiner am 01.04.1970 begonnenen Beschäftigung als Monteur bei der Firma S. AG erlitt er 1971 und 1977 Arbeitsunfälle, die einen Kniescheibenbruch, einen Handgelenksbruch und eine Oberschenkelhalsfraktur zur Folge hatten und seit 01.10.1977 eine MdE von 30 v.H. bzw. ab 01.09. 1977 eine solche von 40 v.H. und ab 01.01.1997 eine zusätzliche MdE von 10 v.H. bedingen. Wegen der Unfallfolgen und zur Vorbereitung einer Technikerprüfung erfolgte am 01.11.1980 eine betriebsinterne Umsetzung in die Registratur und eine Herabstufung von der Lohngruppe 8 der Bayerischen Metallindustrie in die Lohngruppe 7. Ende Januar 1982 beendete der Kläger seine Beschäftigung in Deutschland und kehrte in seine Heimat zurück.

1992 kam er als Flüchtling erneut nach Deutschland, wo er zwischen Dezember 1992 und Juli 1993 bei drei verschiedenen Arbeitgebern kurzfristig als Elektroinstallateur und vom 04.10. 1993 bis 18.02.1994 als Kundendienstmonteur bei der nicht mehr existenten Firma M.-Technik GmbH beschäftigt war. Von März 1995 bis September 1995 war er als Hausmeister und von September 1995 bis Juni 1999 als Beschilderer und Verpacker bei der Firma L. AG beschäftigt, die ihn nach der Lohngruppe 4 des Tarifvertrags der Bayerischen Metallindustrie entlohnte. Mangels Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis wurde das letzte Arbeitsverhältnis bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit ab 23.04. 1999 gekündigt.

Den Rentenantrag vom 27.01.1999 lehnte die Beklagte am 31.05. 1999 mit der Begründung ab, der Kläger könne noch mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichten. Im Widerspruchsbescheid vom 18.11.1999 heißt es, der Kläger genieße keinen Berufsschutz als Facharbeiter, da der bis 1994 ausgeübte Beruf als Elektriker nicht aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben worden sei.

Im Klageverfahren hat der Kläger geltend gemacht, zwischen 1992 und 1995 sieben Arbeitsplätze jeweils durch Krankheit verloren zu haben. Er hat verschiedene Kündigungsschreiben, Vermittlungsangebote des Arbeitsamtes und Bewerbungsschreiben vorgelegt.

Der Allgemeinarzt Dr. Z. hat in seinem von Amts wegen eingeholten Gutachten vom 30.08.2000 ausgeführt, der Kläger könne nur leichte, gelegentlich mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung überwiegend im Sitzen vollschichtig verrichten. Demgegenüber hat der Unfallchirurg Dr. H. in seinem gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachten vom 13.09.2001 ab 1999 ein untervollschichtiges Leistungsvermögen und ab 01.12. 2000 ein untersechsstündiges Leistungsvermögen mit zusätzlichen qualitativen Leistungseinschränkungen bejaht. Dem haben sich weder Dr. Z. noch Dr. L. , der Beratungsarzt der Beklagten, anschließen können.

Das Sozialgericht hat die Klage - gestützt auf das Gutachten Dr. Z. - am 12.04.2002 abgewiesen: Der Kläger habe sich 1994 vom erlernten Beruf gelöst. Gesundheitliche Gründe seien nicht nachgewiesen, nachdem die Firma M. aus Arbeitsmangel gekündigt, der Kläger sich nach 1995 um eine Stelle als Elektriker beworben und er nach den Arbeitsunfällen 1971 und 1977 noch bis Februar 1995 als Elektroinstallateur gearbeitet habe. Als bisheriger Beruf gelte daher der als Beschilderer, weshalb der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisen sei.

Gegen den am 05.05.2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 16.07.2002 Berufung eingelegt und Berufsschutz sowie ein fehlendes vollschichtiges Leistungsvermögen geltend gemacht.

Im Auftrag des Senats hat der Orthopäde Dr. G. am 30.05.2003 nach ambulanter Untersuchung vom 13.05.2003 ein Gutachten erstellt. Der Sachverständige hat pathologische Veränderungen an der Lendenwirbelsäule, an der Hüfte links, am rechten Knie, am linken Sprunggelenk sowie an der linken Hand festgestellt und nur leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen ohne das Heben und Tragen von Lasten über 5 kg, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltung sowie ohne Akkord und repetitive manuelle Tätigkeiten mit der linken Hand für vollschichtig zumutbar gehalten. Seines Erachtens sei der Kläger ab 1994 wegen der Steh- und Gehbehinderung an beiden Beinen als Elektroinstallateur bzw. Elektromechaniker nicht mehr berufsfähig gewesen. Die glaubhafte Gehleistung liege bei ca. 15 Minuten; in dieser Zeit könne der Kläger bei mittlerer Gehgeschwindigkeit 500 m gerade noch zurücklegen.

Der Kläger hat das Vorliegen einer vollschichtigen Leistungsfähigkeit bestritten und aktuelle fachärztliche Befunde hauptsächlich aus dem orthopädischem Fachgebiet übersandt.

Der Kläger beantragt sinngemäß, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 12.04.2002 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 31.05.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.11.1999 zu verurteilen, ihm ab 01.02.1999 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

In der mündlichen Verhandlung am 12.01.2004, zu der der Kläger nicht erschienen ist, erklärt sich die Beklagte in Abänderung des Bescheides vom 31.05.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.11.1999 bereit, beim Kläger mit Wirkung ab 1. Mai 1999 Rente wegen Berufsunfähigkeit anzuerkennen.

Soweit das Begehren des Klägers über das Anerkenntnis hinaus- geht, beantragt die Beklagte, die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 12.04.2002 zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten der Beklagten, des Sozialgerichts Landshut, des Arbeitsamtes Passau, der Schwerbehindertenakte sowie der Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und weitgehend auch begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 12.04.2002 ist ebenso abzuändern wie der Bescheid der Beklagten vom 31.05.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.11.1999. Der Kläger hat ab 01.05.1999 Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit und ab 01.06.2003 Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Kläger ist seit 23.04.1999 berufsunfähig und seit dem Zeitpunkt der Untersuchung bei Dr.G. am 13.05.2003 voll erwerbsgemindert.

Nach dem Teilanerkenntnis der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 13.01.2004 ist die Begründung der Verurteilung zur Rentengewährung wegen Berufsunfähigkeit entbehrlich. Das Teil-anerkenntnisurteil ist gemäß § 202 SGG i.V.m. § 313b ZPO ohne Begründung zulässig. Ergänzend sei lediglich darauf hingewiesen, dass der Leistungsfall im Zeitpunkt des Beginns der Arbeitsunfähigkeit als Beschilderer und Verpacker am 23.04.1999 eingetreten ist. Ab diesem Zeitpunkt konnte der Kläger weder seinen "bisherigen Beruf" als Elektroinstallateur noch eine zumutbare Verweisungstätigkeit verrichten.

Der Kläger hat - entgegen der Einlassung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung - auch Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Soweit ein Rentenanspruch am 31.12.2000 nicht bestand, aber für die nachfolgende Zeit in Betracht kommt, ist die ab 01.01.2001 geltende Neuregelung heranzuziehen (§ 300 Abs.1 i.V.m. Abs.2 SGB VI - entsprechend dem 5. Senat des BSG am 28.08.2002, Az B 5 RJ 8/02 R). Nach § 43 Abs.2 Satz 2 SGB VI nF sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dagegen besteht kein Rentenanspruch, wenn der Versicherte unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs.3 SGB VI nF).

Die zusätzlich erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind mit Blick auf die für den gesamten in Betracht kommenden Zeitraum bereits gewährte Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit unstreitig erfüllt.

Dem Kläger ist nachweislich seit 13.05.2003 der Arbeitsmarkt verschlossen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist das relevante Leistungsvermögen an den individuellen Verhältnissen des Versicherten unter den konkreten Bedingungen des Arbeitsmarkts zu messen (SozR 3-2200 § 1247 Nr.10; SozR 3-2600 § 44 Nr.8 mwN). Nur das Leistungspotential, das auf dem Arbeitsmarkt konkret einsetzbar ist, kann als Maßstab für die Fähikgeit eines Versicherten, Erwerbseinkommen zu erzielen, herangezogen werden. Folglich gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (vgl.u.a. BSG in SozR 3-5864 § 13 Nr.2 Seite 4 ff. m.w.N.). Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des nach § 44 SGB aF, § 43 SGB VI nF versicherten Risikos (BSG, Urteile vom 17. Dezember 1991 in SozR 3-2200 § 1247 Nr.10 und vom 14. März 2002 Az.:B 13 RJ 25/01 R). Dass diese von der Rechtsprechung für die Beurteilung der Wegefähigkeit herausgearbeiteten Kriterien sich auch für die Anwendung des neuen Rechts heranziehen lassen, hat das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 28. August 2002 (Az.: B 5 RJ 8/02 R) festgestellt.

Erwerbsfähigkeit setzt voraus, Strecken von mehr als 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zu bewältigen und zweimal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Ein nur noch zumutbarer Fußweg bis zu einer Entfernung von 500 m ist im allgemeinen nicht für den üblichen Weg zur Erreichung der Arbeitsstätte ausreichend (vgl. BSG vom 06.06.1986 in SozR 2200 § 1247 Nr.47). Ist das Gehvermögen so erheblich eingeschränkt, dann sind die Chancen des Versicherten, einen Arbeitsplatz zu bekommen, in einem Maße geschrumpft, dass der Versicherungsträger sich zur Hilfestellung entschließen muss, wenn er den Rentenantrag ablehnen will. Die Erwerbsunfähigkeit lässt sich in solchen Fällen nur konkret widerlegen, wenn der Versicherte einen Arbeitsplatz mit den Wegebedingungen inne hat, die ihm zugemutet werden können. Der Kläger hat jedoch keinen Arbeitsplatz inne und verfügt lediglich über ein Gehvermögen von 500 m.

Mit dieser Beurteilung stützt sich der Senat auf das Gutachten des Sachverständigen Dr.G. , der das Gehvermögen aufgrund der Veränderungen an den Hüft-, Knie- und Sprunggelenken erheblich eingeschränkt fand. Der orthopädische Sachverständige, der über umfangreiche Erfahrung auf sozialmedizinischem Gebiet verfügt, hat den Kläger persönlich untersucht, die vorhandenen Vorbefunde und die Krankengeschichte sorgfältig gewürdigt sowie seine Schlussfolgerungen nachvollziehbar begründet. Von Beklagtenseite sind zu diesem Punkt keinerlei Einwände erhoben worden. Eine prüfärztliche Stellungnahme ist trotz Aktenübersendung und Aufforderung zur Stellungnahme zum Gutachten nicht für notwendig befunden worden.

Der Kläger leidet bei einem Zustand nach operativ versorgter Oberschenkelhalsfraktur unter einer fortgeschrittenen Hüftgelenksarthrose linksseitig, die eine deutliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit und eine glaubhaft schmerzhaft reduzierte Belastungsfähigkeit zur Folge hat. Hinzu kommt am rechten Kniegelenk bei Zustand nach zweimaliger Kniescheibenfraktur eine fortgeschrittene Retropatellararthrose. Zwar ist die Beweglichkeit am rechten Kniegelenk bei deutlich eingeschränkter Beweglichkeit der Kniescheibe nur gering herabgesetzt; die erheblichen degenerativen Veränderungen sind jedoch mit glaubhaften Belastungsbeschwerden verbunden. Deutlich und schmerzhaft ist die Bewegungseinschränkung am linken unteren Sprunggelenk und der Chopart schen Fußwurzelreihe. Diese Beschwerden gehen auf eine posttraumatische untere Sprunggelenksarthrose in Folge knöchern konsolidierter Frakturen des Sprungbeins und des 5. Mittelfußknochens mit Luxation im Grundgelenk D 5 zurück. Vor diesem Hintergrund ist es glaubhaft, dass der Kläger seit der Untersuchung bei Dr.G. am 13.05.2003 nur noch ca. 15 Minuten gehen kann. In dieser Zeit können bei mittlerer Gehgeschwindigkeit 500 m gerade noch zurückgelegt werden. Diese Leistung ist entsprechend der oben dargelegten höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht ausreichend, um einen Arbeitsplatz erreichen zu können. Nachdem Dr.G. zudem eine Verschlechterung der Gehleistung in der Zukunft für plausibel hält und die vom Kläger vorgelegten orthopädischen Befunde aus der Folgezeit keine Besserung erkennen lassen, ist davon auszugehen, dass dem Kläger der Arbeitsmarkt seit Mai 2003 verschlossen ist. Gemäß § 102 Abs.2 Satz 4 SGB VI beginnt daher die Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.06.2003. Sie ist unbefristet zu gewähren.

Ein früherer Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung kommt nicht in Betracht, weil in der Zeit davor von einem vollschichtigen Leistungsvermögen auszugehen ist. Die Sachverständigen Dres. G. und Z. hielten den Kläger für leichte Tätigkeiten mit qualitativen Leistungseinschränkungen für vollschichtig einsatzfähig. Demgegenüber vermochte das Gutachten des gemäß § 109 SGG gehörten Arztes Dr.H. nicht zu überzeugen. Zutreffend hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass im Gutachten eine Begründung für die zeitliche Leistungseinschränkung fehlt. Insoweit wird gemäß § 153 Abs.2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen. Ebenso wird wegen einer möglichen Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen auf den Inhalt der Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils verwiesen.

Aus diesen Gründen war die Berufung teilweise erfolgreich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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