L 4 KR 279/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 KR 80/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 279/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 24. Oktober 2003 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2003 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme einer noch nicht abgeschlossenen kieferorthopädischen Behandlung des Klägers.

Der 1984 geborene Kläger ist über seinen Vater, der als freiwilliges Mitglied Kostenerstattung gewählt hat, bei der Beklagten familienversichert. Nach Auskunft der behandelnden Kieferorthopäden Dres.S. suchte ihn der Kläger am 25.02. 2002 auf zur kieferorthopädischen Untersuchung und Beratung, wobei er ärztlicherseits auf die dringend erforderliche kieferorthopädische Behandlungsnotwendigkeit hingewiesen wurde. Die über diesen Arztbesuch am 28.03.2002 erstellte Rechnung nach BEMA-Z weist verschiedene Leistungen auf, die nach Auffassung der Beklagten allerdings nicht auf Maßnahmen hinweisen, die im Zusammenhang mit einer kieferorthopädischen Behandlung stehen. Am 02.05.2002 erstellte Dr.S. einen privatzahnärztlichen kieferorthopädischen Heil- und Kostenplan nach GOÄZ für eine vierjährige Behandlungsdauer mit voraussichtlichen Kosten von ca. 7.000,00 EUR. Zu dem ihr am 08.05.2002 vorgelegten Plan teilte die Beklagte mit Schreiben vom 13.05.2002 mit, vor einer Entscheidung eine gutachterliche Stellungnahme der Kassenzahnärztlichen Vereinigung einzuholen. Die eingeschaltete Gutachterin Frau Dr.R. wertete am 26.06.2002 die vom behandelnden Arzt vorgelegten Unterlagen dahin aus, als die Gebisssituation beim Kläger zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit einer kieferorthopädischen Behandlung bedürfe, eine Ausnahmeregelung im Sinne des Gesetzes läge nicht vor. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 10.07.2002, gerichtet an den Vater, mit, dass keine vertragliche kieferorthopädische Behandlung geleistet werden könne, wie sich schon daraus schließen lasse, dass der behandelnde Arzt einen privatzahnärztlichen Behandlungsplan vorgelegt habe. Der Klägervertreter erwiderte am 29.07.2002 darauf, anders als die Beklagte unterstelle, habe der Kläger die kieferorthopädische Behandlung bereits am 25.02. 2002, also vor Vollendung des 18. Lebensjahres, begonnen. Die Beklagte solle ihre Ablehnung zurücknehmen. Daraufhin übermittelte die Beklagte dem Klägervertreter am 14.08. 2002 ein Schreiben, in dem es anfänglich heißt: "Nach einer eingehenden Überprüfung der Unterlagen müssen wir Ihnen leider mit- teilen, dass es bei unserer Entscheidung vom 10.07.2002 bleibt. Dies begründen wir folgendermaßen: ... "Nach weiterer Ausführung zu § 28 SGB V findet sich die Formulierung: "Der Beginn einer kieferorthopädischen (Kfo) Behandlung ist wie folgt definiert: In der Regel beginnt die Kfo-Behandlung mit diagnostischen Maßnahmen. Nach Aufstellung des Kfo-Plans und seiner Zustimmung durch die Krankenkasse werden die im Kfo-Plan vorgesehenen Maßnahmen begonnen." und des Weiteren: "Bei dem von Ihnen genannten Behandlungstermin erfolgte lediglich eine eingehende Untersuchung und diagnostische Maßnahmen, die nicht der Beginn einer Kfo-Behandlung bedeuten ... Die klinische Untersuchung hat ergeben, dass bei Ihrem Sohn eine Zahn- bzw. Kieferfehlstellung vorliegt, für die die Krankenkasse nicht leistungspflichtig ist ... Eine Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Kassen darf deshalb nicht erfolgen. Falls es Ihnen möglich ist, einen Behandlungsplan gemäß den Richtlinien einzureichen, besteht die Möglichkeit, daß die Behandlung von der Kasse bewilligt werden kann. Auf Grund der oben dargelegten Sach- und Rechtslage sehe ich mich außer Stande, ihrem Einspruch stattzugeben. Sollten Sie dennoch der Meinung sein, dass Sie ihren Widerspruch weiterhin aufrechterhalten wollen, bitte ich Sie, mir dieses innerhalb der nächsten vier Wochen mitzuteilen." Nach weiterem Schriftverkehr erließ die Beklagte am 30.01.2003 einen ablehnenden Widerspruchsbescheid, mit dem sie ihre bisherige Auffassung bestätigte, wonach die Behandlung nach Vollendung des 18. Lebensjahres begonnen habe und somit von ihr Leistungen nicht zu erbringen seien. Mit der dagegen gerichteten Klage vom 28.02.2003 ließ der Kläger vortragen, er habe sich am 25.02.2002 in der Praxis Dr.S. , der ihm empfohlen worden sei, entschlossen, die KFO-Behandlung zu beginnen, nachdem dieser ihn auf den drohenden Fristablauf aufmerksam gemacht habe. Auf die Dauer der Anfertigung des Behandlungsplanes habe er keinen Einfluss gehabt. Das Sozialgericht Regensburg hat mit Urteil vom 24.10.2003 der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die Kosten für die kieferorthopädische Behandlung des Klägers zu übernehmen, und zwar ohne Vorbehalt für den Fall eines Abbruchs. Dazu hat das Sozialgericht ausgeführt, dass hier ein Fall vorläge, in dem der Behandlungsbeginn bereits mit der diagnostischen Maßnahme bzw. der Untersuchung am 25.02.2002 anzusetzen sei. Darüber hinaus hafte die Beklagte aus der Zusicherung, die sie im Schreiben vom 14.08.2002 mit der Aussage abgegeben habe, dass die Kfo-Behandlung mit diagnostischen Maßnahmen beginne. Der Kläger habe daraus schließen dürfen, dass die Beklagte durchaus bereit sei, den Beginn der Behandlung auf den 25.02.2002 festzulegen, worauf er auf den Gedanken gebracht worden sei, die Beklagte werde die kieferorthopädische Behandlung kostenmäßig übernehmen. Aus diesen Gesichtspunkten sei die Beklagte verpflichtet, die anfallenden Kosten der kieferorthopädischen Behandlung zu tragen.

Gegen das am 21.11.2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 05.12.2003 Berufung eingelegt und trägt dazu vor, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine KFO-Behandlung zu ihren Lasten nicht erfüllt seien. Auch habe sie dem Kläger mit besagtem Schreiben vom 14.08.2002 nicht zugesichert, die Kosten gleichwohl zu tragen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 24.10.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Das sozialgerichtliche Urteil gebe die Rechtslage zutreffend wieder. Auch seien erste diagnostische Maßnahmen vor dem 18. Geburtstag erfolgt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 145, 151 SGG). Es sind Leistungen von mehr als einem Jahr streitig, der Beschwerdewert übersteigt 500 EUR, auch wenn er derzeit sich noch nicht abschließend beziffern lässt.

Die Berufung ist begründet, denn die Beklagte ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verpflichtet, die Kosten für die kieferorthopädische Behandlung zu übernehmen.

Als Familienangehörige nach § 10 SGB V hat der Kläger aus der Versicherung seines Vaters einen eigenen Leistungsanspruch gegenüber der Beklagten, der hier gemäß § 13 Abs.2 SGB V in einen Kostenerstattungs- bzw. Übernahmeanspruch umgewandelt ist. Die vom Kläger im Laufe des Jahres 2002 begonnene Kfo-Behandlung zählt grundsätzlich nicht zu den von der Beklagten nach §§ 2, 11, 27 SGB V geschuldeten medizinischen Leistungen. Sie ist nach § 28 Abs.2 SGB V ausgeschlossen. Allerdings macht das Gesetz zwei Ausnahmen von diesem Ausschluss. Diese können zum einen in ganz bestimmten, außerordentlichen Indikationen liegen oder sind dann anzunehmen, wenn der Behandlungsbedürftige das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Die erste Variante ist gemäß § 28 Abs.2 Satz 7 i.V.m. § 29 SGB V dann anzunehmen, wenn ganz besondere Kieferanomalien vorliegen, deren nähere Bestimmung gemäß § 29 Abs.4 SGB V durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (2002 noch "Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen") i.V.m. § 92 Abs.1 SGB V in gesonderten Richtlinien erfolgt. Die KFO-Richtlinien vom 05.11.1993 i.d.F. 17.08.2001 zählen in ihrer Nr.5 die beim Kläger vorhandenen Erkrankungen, wie sie von Dr.S. diagnostiziert und Dr.R. bestätigt wurden, nicht zu den die kieferorthopädische Versorgung auslösenden Indikationen für über 18-Jährige. Das ist unter den Beteiligten auch nicht streitig, wurde vom behandelnden Zahnarzt nicht behauptet und von der MDK-Gutachterin Dr.R. in ihrem Gutachten vom 26.06. 2002 ebenso beurteilt. Mithin besteht auf dieser Grundlage kein Anspruch.

Die zweite Möglichkeit, kieferorthopädisch versorgt zu werden, besteht bei anderen, nicht unter die Richtlinien fallenden Indikationen für Versicherte, die zu Beginn der kieferorthopädischen Behandlung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Vollendet hatte der Kläger das 18. Lebensjahr mit Ablauf des 29.02.2002. Bis dahin war die Behandlung noch nicht begonnen. Was unter Behandlungsbeginn im Sinne des § 28 Abs.2 Satz 6 SGB V zu verstehen ist, hat das BSG in der bekannten Entscheidung vom 09.12.1997 - SozR 3-2200 § 28 Nr.3 klar definiert. Es ist der Zeitpunkt der Aufstellung des kieferorthopädischen Behandlungsplans, und zwar auch dann, wenn wichtige Vorbereitungshandlungen schon vor diesem Zeitpunkt liegen. Diese Auffassung hat das BSG im Urteil vom 25.03.2003 - SozR 4-2500 § 28 Nr.1 bestätigt und ausgeführt, dass die Aufstellung des Behandlungsplans im Regelfall als der Beginn der Behandlung anzusehen ist. Das ist allerdings dann nicht mehr der Fall, wenn der Beginn der Behandlung nicht in angemessenem zeitlichen Abstand nach der Planaufstellung umgesetzt wird, also wie in dem vom BSG entschiedenen Fall ein langer Zeitraum zwischen Planaufstellung und eigentlicher Durchführung des Eingriffs gelegen hat. Der Senat folgt den Entscheidungen des BSG von der Definition des Zeitpunkts des Behandlungsbeginns. Sie stellt klare Kriterien auf, die es den Versicherten wie auch den Versicherern ermöglicht, den gesetzlichen Stichtag vorhersehbar einzuhalten. Dadurch werden gerade solche, im nachhinein kaum aufklärbare Unstimmigkeiten wie im vorliegenden Fall, nämlich was konkret am 25.02.2002 vorgefallen war, bedeutungslos.

Offen lassen kann in diesem Zusammenhang der Senat die Frage, ob für den Eintritt des Behandlungsbeginns überhaupt ein von § 17 vom 13.11.1985 Abs.1 Satz 2 Bundesmantelvertragzahnärzte - BMV-Z - vom 13.11.1985 abweichender Behandlungsplan maßgeblich sein kann, wie er im vorliegenden Fall in seiner privatzahnärztlichen Form erstellt wurde. Aus dem Urteil des BSG vom 25.03.2003 a.a.O. lässt sich durchaus die Auffassung herleiten, dass als den Behandlungsbeginn auslösender Behandlungsplan nur der zu gelten hat, der nach Maßgabe dieser Vorschriften erstellt worden ist. Auch dieses Formerfordernis dient der Rechtssicherheit und schließt von vorneherein zahnärztliche Meinungsäußerung aus, bei denen Befundbeschreibungen oder bloße Überlegungen zum weiteren ärztlichen Vorgehen im Vordergrund stehen.

Auch aus dem Gedanken einer verbindlichen Zusicherung kann die Beklagte nicht zu der gewünschten Leistung verpflichtet werden. Eine solche liegt nicht vor, auch nicht in dem vom Sozialgericht angeführten Schreiben der Beklagten vom 14.08.2002. Dieses wurde an den Bevollmächtigten des Klägers gerichtet und beginnt mit der Feststellung, dass es bei der ablehnenden Entscheidung vom 10.07.2002 verbleibe und schließt mit ähnlichen Aussagen. Daraus eine Zusicherung im Sinne des § 34 SGB X auf Kostenübernahme herzuleiten, verbietet sich. Das Schreiben vom 14.08.2002 ist im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens ergangen, welches die Beklagte durch den klägerischen Brief vom 24.07. 2002 ausgelöst sah. Da dieser mit der Aufforderung endet, die Ablehnung der Kostenübernahme zurückzunehmen, ist er von der Beklagten richtigerweise als Widerspruch im Sinne der §§ 78, 83 SGG gedeutet worden. Die Reaktion des Sachbearbeiters der Beklagten darauf bestand in der Mitteilung an den Kläger, dass nicht beabsichtigt sei, den ergangenen Verwaltungsakt rückgängig zu machen, also nicht nach § 85 Abs.1 SGG abzuhelfen. Eine Zusicherung im Sinne des § 34 SGB X lässt sich dagegen nicht annehmen. "Eine solche ist nur dann anzunehmen, wenn die zuständige Behörde einem Betroffenen zusagt, einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen oder zu unterlassen. Die Zusicherung hat die Aufgabe, als verbindliche Zusage über das zukünftige Verhalten der Verwaltungsbehörde bei Erlass eines Verwaltungsaktes dem Adressaten, der seinerseits erst noch die Voraussetzungen für den Erlass des ihn begünstigenden Verwaltungsaktes herbeiführen muss, die Gewissheit zu verschaffen, dass seine Aufwendungen auch zu dem von ihm beabsichtigten Erfolg führen." (BSG vom 30.06.1999 Breithaupt 99, 957 in Wiedergabe von BSG vom 12.04.1984 - BSGE 56, 249). Diese Kriterien erfüllt die im Rahmen des Widerspruchsverfahrens ergangene Mitteilung von der Nichtabhilfe nicht. Schon gar nicht lässt sich ein aus dem Zusammenhang gerissener Satz über die Bestimmung des Behandlungsbeginns dazu verwenden, die eindeutigen Aussagen über die Leistungsablehnung in das Gegenteil umzudeuten. Die hier heranzuziehenden Auslegungskriterien des § 133 BGB erfordern das gesamte Verhalten des Erklärenden zu berücksichtigen, mithin der erklärte Wille, wobei auf den Empfängerhorizont eines praktizierenden Rechtsanwaltes abzustellen ist. Danach konnte und musste der Klägerbevollmächtigte das Schreiben vom 14.08.2002 in seiner Gesamtheit so verstehen, dass die Beklagte an der zuvor ausgesprochenen Weigerung der Kostenübernahme weiterhin festhält. Es findet sich keinerlei Zusicherung, künftig einen Verwaltungsakt im klägerischen Sinne zu erlassen, sondern das Gegenteil davon, nämlich am bisher erlassenen festzuhalten und nicht abzuhelfen, vielmehr das Widerspruchsverfahren durchzuführen, sofern der Kläger seinen Widerspruch nicht zurücknehmen würde. Aus einem derartigen Nichtabhilfebescheid das Gegenteil herauszulesen verbietet sich. Ansprüche, die dazu noch der oben erläuterten Rechtslage widersprächen, lassen sich daraus nicht herleiten.

Angesichts des Verfahrensausgangs stehen dem Kläger keine Ansprüche auf Erstattung der Verfahrenskosten zu (§ 193 SGG).

Die Entscheidung ergeht im Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung, so dass für die Zulassung der Revision kein Grund vorliegt (§ 160 SGG).
Rechtskraft
Aus
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