L 2 U 310/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 41 U 992/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 310/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Holt die Beklagte während des Klageverfahrens eine gutachterliche Stellungnahme ein, so ist sie vor Erteilung des Auftrags nicht verpflichtet, dem Kläger mehrere Gutachter zur Auswahl zu benennen. Die Regelung des § 200 Abs.2 SGB VII gilt hier nicht, da nur der interne Entscheidungsprozess der Beklagten betroffen ist, der ihr im Hinblick auf ihre Entscheidungsveranwortung unbeschränkt möglich sein muss und der auch anders praktisch nicht handhabbar wäre.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.08.2002 wird zu- rückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1945 geborene Kläger erlitt am 04.12.1996 einen Autounfall. Ein Pkw fuhr auf sein Auto auf, als er an einer Ampel angehalten hatte.

Der Durchgangsarzt, der Unfallchirurg Privatdozent Dr.K. , diagnostizierte am 04.12.1996 eine HWS-Distorsion. Die Röntgenaufnahmen zeigten eine Steilstellung der HWS, keine Hinweise auf frische knöcherne Verletzung, aber auf degenerative Veränderungen und Spondylose im Bereich HWK 5 bis 7. Der Neurologe Dr.G. stellte am 12.12.1996 die Diagnosen: HWS-Distorsion, posttraumatisches Kopfschmerzsyndrom. Am 15.01.1997 berichtete Dr.K. über erhebliche subjektive Beschwerden des Klägers. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr.B. wies am 07.02.1997 auf einen vertebragenen Schwindel bei HWS-Distorsion hin. Kopfschmerzen und Schwindel hätten sich erheblich gebessert. Der Chirurg Prof.Dr.W. erklärte in der Stellungnahme vom 13.02.1997, beim Unfall sei es zu einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule bei vorbestehenden Verschleißerscheinungen gekommen.

Gegenüber der Polizei gab der Kläger am 04.12.1996 an, als er an der Ampel zum Stehen gekommen sei, habe er im Rückspiegel den Wagen näher kommen sehen, der dann auf ihn aufgefahren sei. Er sei angeschnallt gewesen. Nach dem Unfall habe er Schmerzen im Nacken verspürt.

Am 24.07.1997 berichtete Dr.B. , es bestehe eine vertebragene Gleichgewichtstörung bei Zustand nach Trauma. Dr.K. stellte am 10.09.1997 fest, der Kläger gebe jetzt erhebliche Beschwerden im HWS-Bereich mit Parästhesien, in beide Schultern ausstrahlend an. Der Nervenarzt Dr.D. erklärte im Schreiben vom 14.07.1997, die persistierenden Beschwerden seien eindeutige Folge des HWS-Schleudertraumas und hätten nichts mit den alten spondylotischen Veränderungen zu tun.

Dr.K. erklärte im Schreiben vom 24.10.1997, die relative Spinalkanalstenose C 5/6 C 6/7 sei auf unfallunabhängig vorliegende degenerative Veränderungen zurückzuführen, es könne jedoch auch unfallbedingt zu einer richtunggebenden Verschlimmerung der Halswirbelsäulenveränderungen gekommen sein. Dr.B. vertrat im Schreiben vom 12.10.1997 die Auffassung, ein Zusammenhang von Schwindel und Kopfschmerzen mit dem Unfall sei nicht erkennbar. Der Radiologe Dr.V. wies am 16.09.1997 nach Kernspintomographie der Halswirbelsäule auf deutliche degenerative Veränderungen C 3 bis C 7 mit Steilstellung, Spondylosis deformans, osteochondrotischen Veränderungen und älteren Protrusionen C 4 bis C 7 hin, außerdem auf eine Spinalkanalstenose C 5/6 und C 6/7 und Neuroforaminalstenosen. Es bestehe kein Anhalt für einen frisch posttraumatischen Prolaps oder eine HWK-Fraktur. Dr.B. führte im Schreiben vom 05.12.1997 aus, die knöchernen Veränderungen in Höhe von C 5 bis C 7 seien degenerativ bedingt, die funktionellen Kopfgelenkstörungen eindeutig durch das Unfallereignis bedingt. Dr.D. wies am 24.12.1997 darauf hin, der Kläger leide unter erheblichen posttraumatischen Beschwerden in Form von Kopfweh, Schwindel, Vergesslichkeit und Konzentrationsschwächen.

Hierzu erklärte der beratende Arzt der Beklagten, der Chirurg Dr.P. , die unfallbedingte Behandlung sei spätestens zum 31.12.1997 beendet.

Im Gutachten vom 13.05.1998 führte der HNO-Arzt Dr.G. aus, krankhafte Veränderungen oder Folgen des Unfalles seien auf seinem Fachgebiet auszuschließen. Bei der Prüfung der Gleichgewichtsfunktion hätten weder latente Schwindelerscheinungen noch ein HWS-abhängiger Nystagmus gesehen werden können. Der übrige HNO-Fachbefund habe der Norm entsprochen.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.N. kam im Gutachten vom 13.05.1998 zusammenfassend zu dem Ergebnis, der Kläger habe am 04.12.1996 eine Zerrung der Halswirbelsäule erlitten, die dem Schweregrad Erdmann I zuzuordnen sei. Zu keinem Zeitpunkt hätten neurologische Ausfallerscheinungen bestanden, sie ließen sich auch jetzt nicht wahrscheinlich machen. Unfallunabhängig seien degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule gegeben, ebenso ein Hypertonus, der auch ursächlich für die diffusen Kopfschmerzen sein könne. Die MdE auf nervenärztlichem Fachgebiet werde auf 0 v.H. eingeschätzt.

Die Chirurgen Dr.R. und Prof.Dr.B. führten im Gutachten vom 13.05.1998 aus, beim Unfall sei es zu einem Retroflexionstrauma der vorgeschädigten Halswirbelsäule gekommen. Wegen der Vorschäden sei ein prolongierter Behandlungszeitraum anzunehmen und die MdE für drei Monate mit 20 v.H., dann für ein weiteres Jahr mit 10 v.H., danach mit unter 10 v.H., einzuschätzen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 08.07.1998 die Gewährung einer Rente unter Hinweis auf die eingeholten Gutachten ab.

Mit Widerspruch vom 17.07.1998 wandte der Kläger ein, er leide unfallbedingt an Schwindel, außerdem habe das Trauma zu einer richtunggebenden Verschlimmerung der Vorschäden geführt. Er übersandte eine Stellungnahme des Nervenarztes Dr.D. vom 09.07.1998. Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen gehörten zum neurologischen Fachgebiet, sie seien unmittelbare Unfallfolgen und auch durch Dr.N. nicht wegzudeuten. Man könne das HWS-Beschleunigungstrauma nicht irgendeinem Schweregrad nach Erdmann zuordnen. Es handle sich um Fehlbegutachtungen durch die Hausgutachter der Beklagten. Weiter wurde ein Schreiben des Dr.V. vom 23.07.1998 nach Kernspinangiographie der Kopf-Halsgefäße vorgelegt, in dem ausgeführt wurde, eine ergänzende dopplersonographische Untersuchung der Arteria vertebralis sei zum Ausschluss eines Gefäßverschlusses erforderlich.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.11.1998 (147) zurück. Die Unterlagen der AOK zeigten Erkrankungszeiten wegen Nackenbeschwerden seit 1986. Im November/Dezember 1994 habe ein Heilverfahren wegen HWS-Beschwerden stattgefunden. Dr.D. irre, wenn er meine, dass nur die untere Halswirbelsäule vorgeschädigt gewesen sei, das Kernspintomogramm beweise das Gegenteil. Zusätzlich zu den degenerativen HWS-Veränderungen bestehe, auch unfallfremd, ein Hypertonus. Schwindelerscheinungen seien bei der Prüfung der Gleichgewichtsfunktion nicht nachgewiesen worden. Der Unfall habe die vorbestehenden Gesundheitsstörungen nicht dauernd oder richtunggebend verschlimmert. Prof.Dr.B. habe ausgeführt, dass lediglich eine vorübergehende Verschlimmerung anzunehmen sei.

Zur Begründung der Klage vom 14.12.1998 hat der Kläger eingewandt, der Unfall habe zu Kopfschmerzen, Schwindel, Vergesslichkeit, Konzentrationsbeschwerden sowie einer endgradigen Einschränkung der Halswirbelsäulenbeweglichkeit geführt, sodass eine MdE von 30 v.H. gegeben sei.

Der vom SG zum ärztlichen Sachverständigen ernannte Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof.Dr.S. hat im Gutachten vom 30.01.2001 zusammenfassend ausgeführt, die HWS-Distorsion sei in ihrem Heilverlauf durch degenerative HWS-Veränderungen, Bandscheibenleiden, relative Spinalkanalenge und eine anlagebedingte Minderentwicklung der linken HWS-Arterie verzögert gewesen. Kopfschmerzen, Schwindel, Vergesslichkeit und Konzentrationsbeschwerden seien nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den Unfall wesentlich verursacht. Auf Grund wechselseitiger Symptomverstärkung zwischen verletzungsbedingten und vorbestehenden bzw. anlagebedingten Gesundheitsstörungen sei von einem deutlich verlängerten Verlauf auszugehen. Vom 12.12.1996 bis 03.02.1997 habe eine MdE von 100 v.H., vom 04.02.1997 bis 04.08.1997 von 60 v.H., vom 05.08.1997 bis 05.02.1998 von 40 v.H. und vom 06.02.1998 bis 13.05.1998 von 20 v.H. bestanden, danach habe sie unter 10 v.H. gelegen.

Die Beklagte hat ein Gutachten nach Aktenlage des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr.B. vom 19.06.2001 übersandt, in dem Dr.B. ausgeführt hat, es ergäben sich keine Hinweise für die Annahme, dass es bei der HWS-Distorsion zu einer Verletzung von Nerven- oder Gefäßstrukturen gekommen sei. Unfallfolge sei ein zeitlich befristetes cervikales Schmerzsyndrom gewesen, jetzt fänden sich auf neurologischem Fachgebiet keine Gesundheitsstörungen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Unfallfolge zu bewerten wären. Unfallunabhängig bestünden eine vermutlich angeborene vertebrale Hyperplasie, außerdem auf orthopädischem Fachgebiet degenerative Veränderungen, Kniebinnenschädigung beiderseits, Veränderungen verschiedener Gelenke und auf internistischem Fachgebiet Hypertonus, Hyperurikämie, Hyperlipidämie, Adipositas, Hepatopathie nach Hepatitis, latenter Diabetes mellitus, Varikosis und auf urologischem Fachgebiet ein Prostataadenom. Die MdE sei vom 03.02.1997 bis 02.05.1997 auf 30 v.H., vom 03.05.1997 bis 02.08.1997 auf 20 v.H., vom 03.07.1997 bis 02.05.1998 auf 10 v.H. und ab 03.05.1998 auf 0 v.H. einzuschätzen.

Im Hinblick auf dieses Gutachten hat die Beklagte im Schreiben vom 02.07.2001 ein Vergleichsangebot gemacht: Sie sei bereit, vom 03.02.1997 bis einschließlich 02.05.1997 Rente in Höhe von 30 v.H. und vom 03.05.1997 bis einschließlich 02.08.1997 in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu gewähren.

Mit Schreiben vom 22.08.2001 und 25.09.2001 hat der Kläger den Vergleichsvorschlag abgelehnt. Die Beurteilung des Dr.B. sei objektiv nicht nachvollziehbar. Dr.B. verkenne, dass es auch ohne Beeinflussung nervaler Strukturen nach einem klassischen Schleudertrauma zu HWS-bedingten Beschwerden kommen könne, auch wenn strukturelle Schäden nie nachweisbar gewesen seien.

Der auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG zum ärztlichen Sachverständigen ernannte Orthopäde Dr.O. hat im Gutachten vom 04.02.2002 ausgeführt, beim Kläger bestehe ein chronifiziertes posttraumatisches cervikocephales Syndrom, dass sich in Kopfschmerzen, Schwindel, Vergesslichkeit und Konzentrationsbeschwerden äußere. Diese Beschwerden seien anderweitig medizinisch nicht sinnvoll zu erklären. Die MdE habe vom 12.12.1996 bis 03.02.1997 100 v.H., vom 04.02.1997 bis 04.08.1997 60 v.H., vom 05.08.1997 bis 05.02.1998 40 v.H. und ab 06.02.1998 bis auf weiteres 20 v.H. betragen.

Das Sozialgericht München hat die Beklagte mit Urteil vom 08.08.2002 unter Abänderung des Bescheides vom 08.07.1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.11.1998 verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 04.12.1996 Verletztenrente für die Zeit vom 03.02.1997 bis 13.05.1998 zu gewähren, und zwar gestaffelt nach folgender MdE: 30 v.H. für die Zeit vom 03.02.1997 bis 04.08.1997, 20 v.H. für die Zeit vom 05.08.1997 bis 13.05.1998. Im Übrigen werde die Klage abgewiesen.

Die Kammer schließe sich den Ausführungen des Sachverständigen Prof.Dr.S. insoweit an, dass vom 03.02.1997 bis 13.05.1998 eine rentenberechtigende MdE bestehe, und zwar im Hinblick auf die wechselseitige Symptomverstärkung zwischen verletzungsbedingten und anlagebedingten Gesundheitsstörungen mit der Folge eines deutlich verlängerten Heilungsverlaufs. Die Annahme einer unfallbedingten MdE von 20 v.H. über den 13.05.1998 hinaus durch Dr.O. überzeuge nicht. Die Kammer sei jedoch abweichend von Prof.Dr.S. der Auffassung, dass ab 03.02.1997 bis 04.08.1997 lediglich eine unfallbedingte MdE von 30 v.H. und anschließend bis 13.05.1998 von 20 v.H. angenommen werden könne, da eine höhere MdE mit den anerkannten unfallmedizinischen Bewertungsgrundsätzen nicht in Einklang zu bringen sei. Selbst bei Halswirbelsäulendistorsionen des Schweregrades III könne nach den Erfahrungswerten eine MdE von 30 v.H. nur bis zum Ende des ersten halben Jahres und von 20 v.H. nur bis zum Ende des zweiten Unfalljahres angenommen werden, wenn - wie beim Kläger - keine neurologischen Ausfälle festgestellt werden könnten. Beim Kläger sei aber lediglich eine Distorsion nach Schweregrad I anzunehmen. Die Gesundheitsstörungen Kopfschmerzen, Schwindel, Vergesslichkeit und Konzentrationsbeschwerden seien nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den Unfall verursacht. Dies habe Prof.Dr.S. festgestellt, der gegenüber dem Orthopäden Dr.O. die größere Sachkunde besitze. Der Feststellungsantrag des Klägers im Sinne des § 55 Abs.1 Nr.3 SGG sei daher in vollem Umfang abzuweisen, da außer den anerkannten Unfallfolgen keine weiteren Unfallfolgen bestünden.

Zur Begründung der Berufung machte der Kläger geltend, das Sozialgericht sei ohne Grund von den Bewertungen des Prof.Dr. S. abgewichen. Im Übrigen habe es das Gutachten des Dr. B. nicht verwerten dürfen, da ein Verstoß gegen § 200 Abs.2 SGB VII i.V.m. § 76 Abs.2 SGB X vorgelegen habe. Die Beklagte habe Dr.B. die Sozialdaten des Klägers rechtswidrig übermittelt und dem Kläger kein Auswahlrecht bezüglich des Gutachters eingeräumt. Im Übrigen habe Dr.O. überzeugend aufgezeigt, dass es hinreichend wahrscheinlich sei, dass eine unfallbedingte MdE in Höhe von 20 v.H. über den 13.05.1998 hinaus bestehe. Dr.O. führe richtig aus, dass alternative Ursachen für die Beschwerden nicht ersichtlich seien.

Mit Bescheid vom 13.12.2002 führte die Beklagte das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.08.2002 aus. Sie berichtigte diesen Bescheid mit Schreiben vom 23.01.2003 hinsichtlich eines Additionsfehlers. Die Beklagte übersandte einen Beschluss des Bundessozialgerichts vom 06.01.2003 (B 2 U 235/02 B), in dem das BSG ausführte, der als Soll-Vorschrift gefasste Abs.2 des § 200 SGB VII halte nach seinem klaren Wortlaut allein den Unfallversicherungsträger an, dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl zu benennen und beziehe sich daher nicht auf das gerichtliche Verfahren, zumal sich auch aus den Gesetzesmaterialien nichts anderes ergebe und auch soweit ersichtlich in der Literatur keine anderen Auffassungen vertreten würden. Soweit der Kläger eine Verletzung des § 76 Abs.2 SGB X rüge, sei zu berücksichtigen, dass die Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten gemäß § 67B Abs.1 Satz 1 SGB X nur zulässig sei, soweit u.a. der Betroffene eingewilligt habe. Eine solche Einwilligung bedürfe der Schriftform und müsse höchstpersönlich erklärt werden. Eine Erteilung durch den bevollmächtigten Vertreter reiche nicht aus. Dies gelte auch für den Widerruf einer solchen Erklärung und entsprechend für die Ausübung des Widerspruchsrechts gemäß § 76 Abs.2 Nr.1 Halbsatz 2 SGB X.

Der Kläger stellt den Antrag aus dem Schriftsatz vom 15.11.2002, mit der Maßgabe, dass auch der Bescheid vom 13.02.2002 in der Fassung des Schreibens vom 23.01.2003 entsprechend abgeändert werden soll. Hilfsweise beantragt er, die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den wesentlichen Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten, der Akte der LVA Oberbayern sowie der Klage- und Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Die Entscheidung des Rechtsstreits richtet sich nach den bis 31.12.1996 geltenden Vorschriften der RVO, da der geltend gemachte Versicherungsfall vor dem 01.01.1997 eingetreten ist und über einen daraus resultierenden Leistungsanspruch vor dem 01.01.1997 zu entscheiden gewesen wäre (§§ 212, 214 Abs.3 SGB VII i.V.m. § 580 RVO).

Der Kläger hat unstreitig am 04.12.1996 einen Arbeitsunfall (§ 548 RVO) erlitten. Eine höhere MdE als im Urteil des Sozialgerichts München vom 08.08.2002 ausgesprochen, insbesondere eine MdE von mindestens 20 v.H. der Vollrente über den 13.05.1998 hinaus, liegt aber nicht vor.

Es ist dem Sozialgericht München darin zuzustimmen, dass eine höhere MdE als 30 v.H. bis zum 05.08.1997 und von 20 v.H. bis zum 13.05.1998 nicht gegeben ist. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten eines Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (vgl. BSGE 4, 147 und 41, 99). Doch ist die Frage, welche MdE vorliegt, eine Rechtsfrage. Sie ist ohne Bindung an ärztliche Gutachten unter Berücksichtigung der Einzelumstände nach der Lebenserfahrung zu entscheiden (vgl. Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, Anm.5 zu § 581 RVO).

Die von den ärztlichen Sachverständigen festgestellten Gesundheitsstörungen und Funktionseinschränkungen sind im Hinblick auf die unfallversicherungsrechtlichen Erfahrungswerte zu bewerten. Der Kläger hat am 04.12.1996 eine Halswirbelsäulendistorsion des Grades I nach Erdmann erlitten. Dafür sprechen die Tatsache, dass das Auto mit einer Kopfstütze ausgerüstet war, die die Überstreckung der Halswirbelsäule verhindern konnte, außerdem, dass ein Überraschungseffekt nicht gegeben war, da der Kläger das auffahrende Auto im Rückspiegel kommen sah und sich mehr oder weniger mit einer Nackenmuskelanspannung und Abwehrreaktion schützen konnte (vgl. Schoenberger-Mehrtens- Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003, S.553); weiter war insbesondere ein beschwerdefreies Intervall nach den eigenen Angaben des Klägers gegeben. Wenn man berücksichtigt, dass bei einer Halswirbeldistorsion Grad I von einer MdE von 20 v.H. für die Dauer von höchstens drei Monaten ausgegangen wird, so trägt die dem Kläger durch Urteil zugebilligte MdE von 30 v.H. bis Mai 1997 und von 20 v.H. bis Mai 1998 der auf Grund der massiven Vorschäden anzunehmenden verlängerten Heilungsdauer ausreichend Rechnung. Immerhin wird selbst für eine HWS-Distorsion des Schweregrades II eine MdE von 20 v.H. nur bis zum Ende des ersten Jahres nach dem Unfall, das wäre im vorliegenden Fall Dezember 1997, angenommen (vgl. Schoenberger-Mehrtens-Valentin a.a.O., S.562).

Eine höhere MdE bzw. eine Rentengewährung über den Mai 1998 hinaus ist im Hinblick auf die festgestellten Gesundheitsstörungen nicht zu begründen.

Weitere Gesundheitsstörungen, die durch den Unfall verursacht oder richtunggebend verschlimmter worden wären, liegen nicht vor. Im Hinblick auf die Ergebnisse bei der Untersuchung bei Dr. K. am 08.12.2000 ist davon auszugehen, dass beim Kläger keine verletzungsbedingte Strömungsbehinderung der Vertebralarterie vorliegt, sondern dass es sich um eine anlagebedingte Störung handelt. Denn bei einem verletzungsbedingten Dissecans-Aneurysma der linken Vertebralarterie hätte dies mit größter Wahrscheinlichkeit auch die Blutströmung in der Basilararterie beeinflusst, was aber nicht der Fall ist. Obwohl sich, wie Prof.Dr.S. erläuterte, diese Frage rund vier Jahre nach der Unfallverletzung nicht mehr mit allerletzter Sicherheit entscheiden lässt, ist sie daher mit weitaus überwiegender Wahrscheinlichkeit dahingehend zu beantworten, dass eine anlagebedingte Störung vorliegt. Solche Fehlbildungen sind, worauf Prof.Dr.S. hinweist, relativ häufig. Im Übrigen löst eine einseitige vertebrale Hyperplasie oder Aplasie normalerweise keinerlei neurologische Defizite und nicht einmal Beschwerden aus. Fällt die Blutversorgung durch eines der beiden Halsgefäße anlagemäßig oder durch späteren langsamen Gefäßverschluss weg, so bleibt das im Allgemeinen symptomlos, da die übrigen Gefäße den gemeinsamen Strömungspool ausreichend versorgen. Allerdings kann es bei fortgeschrittenen degenerativen Halswirbelsäulenveränderungen bei schnellen Kopfbewegungen zu einer momentanen Minderdurchblutung insbesondere im Basilarisbereich kommen. Symptom ist dann ein kurzes momentanes Schwindelgefühl. Insofern ist, so Prof.Dr.S. , zwar ein deutlich verzögerter Heilverlauf nach einer HWS-Verletzung zu unterstellen. Andererseits können langfristig persistierende Beschwerden nicht mehr, auch nicht teilweise, auf den Verletzungshergang zurückgeführt werden, betont Prof.Dr.S ...

Für die vom Kläger geltend gemachte atlanto-axiale Dislokation oder anderweitige Übergangsanomalien haben die radiologischen Untersuchungen keinerlei Anhalt ergeben. Bereits in der Auswertung der Halswirbelsäulenübersichtsaufnahmen vom Unfalltag wurde ausdrücklich vermerkt, dass das Atlanto-Axial-Gelenk unauffällig war.

Verletzungseinflüsse auf die vorbestehenden degenerativen Veränderungen der mittleren bis unteren Halswirbelsäule sind nicht anzunehmen; eine entsprechende Symptomatik wurde weder unmittelbar nach dem Unfallereignis noch später angegeben. Wie Prof.Dr.S. erläutert, ließen sich bei den neurologischen Untersuchungen keine zugeordneten sensomotorischen Wurzelsyndrome feststellen.

In diesem Zusammenhang sind insbesondere auch die in den Akten dokumentierten Vorerkrankungen zu berücksichtigen. So wurde bereits im September 1978 ein rezidivierendes HWS- und LWS-Syndrom erwähnt. 1979 wurden während eines Heilverfahrens in Bad A. Tendomyosen im Bereich der Halswirbelsäule beschrieben, auch 1992 diagnostizierten die Ärzte beim Heilverfahren ein Halswirbelsäulensyndrom, ebenso wie während des Heilverfahrens in Bad R. 1994. Kurz vor dem Arbeitsunfall vom 04.12.1996 erwähnte der behandelnde Internist schwere degenerative Veränderungen der gesamten Wirbelsäule, wegen denen eine Kur erforderlich sei. Bei der Begutachtung in Rahmen des Reha-Antrages am 12.11.1996 wurde ebenfalls ein degeneratives Halswirbelsäulensyndrom diagnostiziert. Im Übrigen sind beim Kläger auf internistischem Fachgebiet arterieller Hypertonus, Fettstoffwechselstörung, Hyperurikämie, Hepatopathie, Varikosis und ein Prostataadenom diagnostiziert. Insofern kann die Argumentation von Dr.O. , die Beschwerden in Form von Kopfschmerzen, Schwindel, Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen seien als Ausdruck des chronifizierten posttraumatischen cervikocephalen Syndroms aufzufassen, da sie anderweitig medizinisch nicht sinnvoll zu erklären seien, da alternative Ursachen nirgendwo angedeutet und ersichtlich seien, im Hinblick auf die zahlreichen Gesundheitsstörungen des Klägers, die, wie z.B. der Hypertonus, Kopfschmerzen und Schwindel zu Folge haben können, nicht überzeugen.

Eine Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger vor Erteilung des Auftrages an Dr.B. mehrere Gutachter zur Auswahl zu benennen, hat nicht bestanden. Zunächst einmal handelt es sich hier nur um eine ärztliche gutachterliche Stellungnahme zur Entscheidungshilfe für die Beklagte, für die die Regelung des § 200 Abs.2 SGB VII ohnehin nicht gilt, da hier nur der interne Entscheidungsprozess der Beklagten betroffen ist, der ihr im Hinblick auf ihre Entscheidungsverantwortung unbeschränkt möglich sein muss und der auch anders nicht praktikabel handhabbar wäre (vgl. Kasseler Kommentar, § 200 SGB VII Rdnr.4). Außerdem gilt diese Vorschrift, wie sich aus ihrem Wortlaut ergibt, nur für das Verwaltungs-, nicht aber für das Klageverfahren. Darauf hat das Bundessozialgericht im Beschluss vom 06.01.2003 (B 2 U 235/02 B) ausdrücklich hingewiesen. Der als Soll-Vorschrift gefasste Absatz 2 des § 200 SGB VII hält nach seinem klaren Wortlaut allein den Unfallersicherungsträger an, dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl zu benennen und kann sich daher nicht auf das gerichtliche Verfahren beziehen, zumal sich auch aus den Gesetzesmaterialien nichts anderes ergibt und in der Literatur keine anderen Auffassungen vertreten werden.

Soweit der Kläger die Verletzung des § 76 Abs.2 SGB X rügt, ist auf den Wortlaut dieser Vorschrift hinzuweisen, die ausdrücklich einen Widerspruch des Betroffenen fordert, soweit es sich um die Weitergabe von Sozialdaten, die im Zusammenhang mit einer Begutachtung übermittelt worden sind, handelt. Wie das Bundessozialgericht zu Recht ausgeführt hat, muss der Widerruf der Einwilligungserklärung schriftlich und höchstpersönlich erklärt werden (BSG, Beschluss vom 06.01.2003 a.a.O.). Der Kläger hat sich am 09.01.1999 ausdrücklich einverstanden erklärt, dass die vom Gericht für erforderlich gehaltenen Unterlagen beigezogen würden, und zugleich die Entbindung von der Schweigepflicht für die beteiligten Ärzte erklärt. Obwohl das Schreiben der Beklagten vom 21.03.2001, in dem sie mitteilte, dass sie eine gutachterliche Stellungnahme von Dr.B. einholen wolle, dem Bevollmächtigten des Klägers am 02.04.2001 übermittelt wurde, hat der Bevollmächtigte im Schreiben vom 15.06.2001 weder einen Widerspruch des Klägers übersandt noch einen solchen angekündigt.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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