L 15 SB 121/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 12 SB 1501/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 121/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 08.09.2003 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der schwerbehinderte Kläger auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" wegen erheblicher Gehbehinderung erfüllt.

Bei dem 1964 geborenen Kläger war zuletzt mit Abhilfebescheid vom 15.12.1993 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) wegen "Spitzfuß beiderseits, links ausgeprägter; Fehlstellung der Hüft- und Kniegelenke" festgestellt worden.

Die versorgungsärztlich vorgeschlagene Feststellung eines GdB von 50 wegen einer zusätzlichen "Minderbegabung nach frühkindlichem Hirnschaden" mit Einzel-GdB 30, wurde nicht in den Bescheid aufgenommen, weil dies der Kläger nicht wollte.

Am 11.03.2003 ging ein Neufeststellungsantrag des Klägers beim Versorgungsamt München II ein, mit dem ein höherer GdB beantragt und geltend gemacht wurde, dass eine Diabeteserkrankung hinzugekommen sei, ferner eine komplette Einschränkung des Bewegungsapparates und schwere psychische Störungen aufgrund der körperlichen Situation und jahrelanger Arbeitslosigkeit.

Nach Beiziehung eines Befundberichtes von dem Internisten Dr.H. und Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr.B. erteilte der Beklagte am 03.05.2002 einen Ablehnungsbescheid, da im Vergleich zum Vorbescheid keine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten sei, abgesehen vom Hinzutreten einer Zuckerkrankheit, die mit Einzel-GdB 10 zu bewerten sei, jedoch den Gesamt-GdB nicht beeinflusse.

Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger Widerspruch und beantragte eine ausführliche Untersuchung. Diese wurde am 26.08. 2002 in R. von der Allgemeinärztin Dr.E. durchgeführt, die den Kläger bereits am 15.07.1983 versorgungsärztlich untersucht hatte. Bei dem 182 cm großen und 140 kg schweren Kläger wurde eine freie Hüft- und Kniegelenksbeweglichkeit festgestellt. Es seien allerdings Schmerzen vor allem im Bereich der Hüftgelenke angegeben worden. Es liege eine fixierte Spitzfußstellung nach Operationen, links von 30 Grad, rechts von 10 Grad vor. Supination und Pronation seien nicht möglich. Links bestehe eine Pseudobeinlängendifferenz. Beim Gehen und Stehen werde vorwiegend das rechte Bein benutzt. Der Kläger gehe ohne Gehstock, aber hinkend. Die Zuckerkrankheit sei mit GdB 20, ein Bluthochdruck mit GdB 10 zu bewerten. Einschließlich der Minderbegabung sei ein GdB von 50, jedoch kein Merkzeichen festzustellen. Dementsprechend erging am 14.10.2002 ein Bescheid, in dem dem Widerspruch "in vollem Umfang" abgeholfen und ab 11.03.2002 ein GdB von 50 aufgrund der oben genannten vier Behinderungen festgestellt wurde.

Auch gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und begehrte einen höheren GdB als 50, ferner die Feststellung des Merkzeichens "G". Außerdem verwahrte er sich gegen die "Zubilligung der Eigenschaft Minderbegabung". Nach versorgungsärztlicher Stellungnahme durch Dr.H. wurde am 25.11.2002 ein Widerspruchsbescheid erlassen, in dem festgestellt wurde, dass diese Behinderung (Nr.2) neu als "Psychische Störung" zu bezeichnen sei. Ein höherer GdB als 50 sei jedoch nicht zu begründen. Auch seien die Voraussetzungen für eine erhebliche Gehbehinderung nicht gegeben. Diesbezüglich werde der Widerspruch zurückgewiesen.

Mit Schriftsatz vom 11.12.2002 hat der Kläger dann zum Sozialgericht München Klage erhoben, da ihm zu Unrecht das Merkzeichen "G" nicht zuerkannt worden sei. Er sei aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht in der Lage, Wegstrecken, die Gesunde üblicherweise noch zu Fuß zurücklegen, ohne erhebliche Schwierigkeiten und ohne Gefahren für sich zurückzulegen. Im Übrigen lege er Wert darauf, dass er weder unter einer Minderbegabung noch unter psychischen Störungen leide. Letztere könne der Beklagte ohne psychologische oder psychiatrische Untersuchung ohnehin nicht feststellen. Im Übrigen werde ein höherer GdB als 50 nicht mehr begehrt. Nach Beiziehung von Röntgenaufnahmen von dem Orthopäden Dr.R. , der auch einen Arztbrief vom 29.08.2002 übersandt hat, sowie eines Befundberichts des Orthopäden Dr.K. (mit Beifügung eines MDK-Gutachtens vom 17.02.2003 und eines Arztbriefes des Radiologen Dr.B.) hat das Sozialgericht ein Gutachten von dem Orthopäden Dr.T. vom 22.05.2003 eingeholt. Der gerichtliche Sachverständige hat aufgrund einer Untersuchung des Klägers festgestellt, dass neuerdings Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule mit Muskelreizerscheinungen (Einzel-GdB 10) hinzugetreten seien. Es bestehe eine diskrete Steilhaltung der Wirbelsäule nach rechts. Bei Rechtsseitneigung sei eine Teilfixierung der Brustwirbelsäule aufgefallen. Der Gesamt-GdB von 50 werde hierdurch jedoch nicht berührt. Der Kläger sei mit gut sitzenden orthopädischen Schuhen versorgt, mit denen auch ein sehr zügiges, nur angedeutet linksseitig hinkendes Gangbild demonstriert worden sei. Beide Kniegelenke seien frei beweglich gewesen, wobei rechtsseitig ein Überstreck- und Druckschmerz über dem medialen und lateralen Gelenkspalt festgestellt worden sei. Das rechte Hüftgelenk sei hinsichtlich der Beugung schmerzbedingt gering eingeschränkt gewesen. Es habe aber eine kräftige Bemuskelung beider Beine vorgelegen, die einen ständigen Mindergebrauch unwahrscheinlich erscheinen ließe. Der Kläger sei nicht erheblich gehbehindert.

Mit Schriftsatz vom 13.06.2003 hat der Kläger bemängelt, die Untersuchung sei zu oberflächlich gewesen, insbesondere sei kein Gehtest, etwa auf einem Laufband, durchgeführt worden. Ergänzend ist mit Schriftsatz vom 24.06.2003 nochmals ausgeführt worden, dass der Kläger Wert darauf lege, nicht unter einer Minderbegabung zu leiden.

Im Rahmen einer Anhörung der Beteiligten, dass der Erlass eines Gerichtsbescheides beabsichtigt sei, hat der Kläger persönlich beantragt, ihm eine Fristverlängerung zur Beibringung eines medizinischen Gegengutachtens einzuräumen.

Das Sozialgericht hat die Fristverlängerung abgelehnt und mit Gerichtsbescheid vom 08.09.2003 die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G"; dies ergebe sich aus dem überzeugenden Gerichtsgutachten von Dr.T ...

Mit Schriftsatz vom 15.10.2003 hat der Kläger Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und weiterhin die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt. Das Sozialgericht habe nicht berücksichtigt, dass nach Nr.30 Abs.3 der "Anhaltspunkte" auch dann eine erhebliche Gehbehinderung vorliege, wenn der GdB für die unteren Gliedmaßen und die Lendenwirbelsäule unter 50 liege. Bei ihm wirke sich der beidseitige Spitzfuß erheblich auf die Gehfähigkeit aus, beim Zurücklegen längerer Wegstrecken nähmen die Schmerzen in den Hüften, am Spann, in den Knien und im Rücken drastisch zu. Auch leide er bei Außenbewegungen unter blitzartig einschießenden lähmenden Schmerzen in der rechten Leiste. Sein Übergewicht rechtfertige ohne Erfüllung der formalen Voraussetzungen der Regelbeispiele das Merkzeichen "G" ebenfalls. Dies ergebe sich aus Entscheidungen des LSG Berlin, LSG Rheinland-Pfalz und LSG Nordrhein-Westfalen. Im Gutachten sei auch zu Unrecht angenommen worden, dass die Wirbelsäule keine das altersübliche Maß überschreitende Einschränkung aufweise.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 21.11.2003 ist darauf hingewiesen worden, dass das BSG mit Urteil vom 13.08.1997 von seinem Urteil vom 10.12.1987 abgerückt sei, in dem es beim Bestehen einer Adipositas und einer Cerebralsklerose eine erhebliche Gehbehinderung allein deshalb bejaht hatte, weil der Behinderte eine ortsübliche Wegstrecke von zwei Kilometern nicht mehr in einer halben Stunde zurücklegen konnte. Im Urteil von 1997 sei klargestellt worden, dass eine erhebliche Gehbehinderung voraussetze, dass auch die Regelbeispiele in den "Anhaltspunkten" Nr.30 Abs.3 vom Behinderten erfüllt werden.

Im Rahmen eines am 25.03.2004 abgehaltenen Erörterungstermins wurde dem Kläger Gelegenheit gegeben, bis 05.05.2004 einen Orthopäden zu benennen, der ein Gutachten nach § 109 SGG erstellen soll.

Mit Beschluss vom 01.03.2004 (zugestellt am 08.04.2004) hat der Senat den Antrag des Klägers vom 15.01.2003, ihm für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wegen mangelnder Erfolgsaussicht abgelehnt.

Der Kläger hat keinen Antrag nach § 109 SGG gestellt und sich auch nicht innerhalb einer Frist bis 21.05.2004 geäußert, ob er die Berufung aufrechterhalten wolle.

Der Kläger beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts München vom 08.09.2003 und des Bescheides vom 14.10.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.11.2002 zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.

Der Bevollmächtigte des Beklagten beantragt, die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 08.09.2003 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten sowie die Gerichtsakten des ersten und zweiten Rechtszuges Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 51 Abs.1 Nr.7, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) erweist sich jedoch als unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G", weil er in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt ist gemäß § 146 Abs.1 Satz 1 So- zialgesetzbuch Neuntes Buch - SGB IX - i.V.m. Nr.30 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschä- digungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AP).

Nach § 146 Abs.1 Satz 1 SGB IX (früher: § 60 SchwbG) setzt das Merkzeichen "G" voraus, dass der Schwerbehinderte infolge einer Einschränkung seines Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVs 1/96 - SozR 3-3870 § 60 Nr.2) nennen die AP Regelfälle, in denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind. Sie bestimmen damit zugleich den Maßstab, nach dem im Einzelfall zu beurteilen ist, ob die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigen. Zwar ist nach Auffassung des BSG davon auszugehen, dass im Ortsverkehr üblicherweise Wegstrecken bis zu 2.000 m noch zu Fuß zurückgelegt werden und zwar in einer Gehzeit von 30 Minuten. Da aber das Gehvermögen eines Menschen keine statische Messgröße sei, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt sei und variiert werde, zum Beispiel von anatomischen Gegebenheiten des Körpers, Trainingszustand, Tagesform, Witterungseinflüssen, Art des Gehens sowie von Persönlichkeitsmerkmalen, vor allem der Motivation, dienen die Kriterien der AP unter Nr.30 dazu, alle jene unbeachtlichen Umstände herauszufiltern, die die Bewegungsfähigkeit eines Schwerbehinderten aus anderen Gründen als einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens etc. erheblich beeinträchtigen.

Da die Bewegungsfähigkeit des Klägers im Straßenverkehr durch Funktionsstörungen im Bereich des Gehvermögens eingeschränkt ist, müsste er somit Nr.30 Abs.3 der AP erfüllen. Danach liegt eine erhebliche Gehbehinderung vor, wenn Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Beim Kläger wurden die Funktionsstörungen im Bereich der Sprung- gelenke und der Hüften übereinstimmend sowohl von der Versorgungsärztin Dr.E. am 08.10.2002 als auch vom gerichtlichen Sachverständigen Dr.T. in seinem Gutachten vom 22.05. 2003 mit 30 bewertet. Die von Dr.T. zusätzlich festgestellten Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule mit Muskelreizerscheinungen (Einzel-GdB 10) beziehen sich vorrangig auf die Brustwirbelsäule und spielen daher für die Beeinträchtigung des Gehvermögens keine wesentliche Rolle. Zwar sind ausnahmsweise die Voraussetzungen für Merkzeichen "G" auch dann zu bejahen, wenn sich die Behinderungen nach den AP Nr.30 Abs.3 Satz 2 bei einem GdB von unter 50 auf die Gehfähigkeit besonders negativ auswirken, zum Beispiel bei Versteifung eines Hüftgelenkes (in günstiger Stellung), Versteifung eines Knie- oder Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Da beim Kläger weder eine Versteifung eines Hüft-, Knie- oder Fußgelenks vorliegt noch die bei ihm bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Gliedmaßen einen GdB von 40 bedingen, kann er auch nicht mit dieser Begründung das Merkzeichen "G" beanspruchen. Auch die Tatsache, dass der Kläger an einem erheblichen Übergewicht leidet, kann nicht als Begründung für eine erhebliche Gehbehinderung herangezogen werden, zumal die Adipositas als solche keinen Grad der Behinderung zur Folge hat. Vielmehr können lediglich Folge- und Begleitschäden (insbesondere am kardiopulmonalen System oder am Stütz- und Bewegungsapparat) die Annahme eines GdB begründen (vgl. AP Nr.16.15 S.120). Auch wenn der Kläger geltend macht, schmerzbedingt außerstande zu sein, pro Tag ein- bis zweimal Wegstrecken von 2 km in jeweils einer halben Stunde zurückzulegen, ist dieses Vorbringen nicht durch objektive ärztliche Befunde nachgewiesen. Nach dem im Sozialrecht geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast geht die Nichterweislichkeit solcher anspruchsbegründenden Tatsachen zu Lasten des Klägers.

Aus all diesen Gründen hatte die Berufung des Klägers keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nr.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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