L 3 U 359/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 23 U 308/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 359/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 30.07.2003 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte berechtigt war, die Veranlagung des Unternehmens des Klägers, einem Nachhilfeinstitut, zu ihrem Gefahrtarif für die Zeit vom 01.01. 1998 bis 31.12.2000 (Gefahrtarif 1998) zu ändern mit der Folge, dass der Kläger höhere Beiträge zu leisten hat.

Die Beklagte nahm das Nachhilfeinstitut des Klägers am 01.04. 1998 in ihr Mitgliederverzeichnis auf und veranlagte es mit Bescheid vom 06.04.1998 zur Gefahrtarifstelle 20 (Zusammenschluss zur Verfolgung gemeinsamer Interessen) in der Gefahrklasse 1,14. Aufgrund dieser Veranlagung errechnete sie mit Bescheid vom 22.04.1999 für 1998 Beiträge in Höhe von 105,14 DM. Am 30.11.1999 teilte sie dem Kläger mit, richtigerweise gehöre sein Unternehmen in die Gefahrtarifstelle 07 (Schule, schulische Einrichtung) mit der höheren Gefahrklasse 1,63. Sie beabsichtige eine entsprechende Berichtigung, die mit Beginn des Kalendermonats nach Bekanntgabe des Änderungsbescheides gemäß § 160 Abs.3 des Siebten Sozialgesetzbuches (SGB VII) wirksam werde. Mit Bescheid vom 14.01.2000 nahm sie die neue Veranlagung - wie angekündigt - vor. Der Kläger erhob dagegen Widerspruch und wandte ein, sein Institut sei keine Schule; der Nachhilfeunterricht finde vor Ort beim jeweiligen Schüler statt und nicht in den Räumen des Instituts. Er vermittle lediglich den gewünschten Nachhilfelehrer. Er schlage deshalb eine Veranlagung zur Tarifstelle 18 (Makler, Vermittler) vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 13.03.2000 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Selbst wenn Einzelnachhilfe bei den Schülern zuhause erteilt werde, handle es sich um eine Schule oder schulische Einrichtung. Darunter werde die planmäßige Vermittlung von Wissen, Bildung und/oder Fertigkeiten verstanden. Die Veranla- gungsänderung sei - aufgrund ihres Fehlers nur für die Zukunft - erst zum 01.02.2000 erfolgt.

Dagegen hat der Kläger beim Sozialgericht München (SG) am 13.04.2000 Klage mit dem Antrag erhoben, den Bescheid vom 14.01.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.03. 2000 aufzuheben und es bei der Veranlagung zur Gefahrtarifstelle 20 zu belassen oder hilfsweise eine Veranlagung nach der Tarifstelle 18 vorzunehmen. Zur Begründung hat der Kläger wiederholt, bei dem von ihm betriebenen Nachhilfeinstitut handle es sich um Lehrtätigkeit, die von den von ihm vermittelten Lehrern in freier Arbeit vor Ort bei den jeweiligen Schülern verrichtet werde; er unterhalte somit keine schulische Einrichtung. Mit Urteil vom 30.07.2003 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben, weil Rechtsgrundlage für eine Veranlagungsänderung aufgrund eines Irrtums der Beklagten § 160 Abs.3 SGB VII i.V.m. § 45 SGB X sei. Danach hätte die Beklagte ihr Ermessen ausüben müssen, ob sie den bindenden Veranlagungsbescheid wegen Änderung ihrer Rechtsansicht aufheben wolle. Eine solche Ermessensausübung habe sie nicht vorgenommen, da sie davon ausgegangen sei, ihr stünde ein Ermessen nicht zu, weil § 160 Abs.3 SGB VII als lex specialis eingreife. Darüber hinaus handle es sich beim Unternehmen des Klägers nicht um eine Schule oder schulische Einrichtung. Hierzu gehöre das Erteilen von Unterricht an mehrere Schüler und nicht in der Form des Einzelunterrichts. Die Veranlagungsänderung zur Tarifstelle 07 sei rechtswidrig.

Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und vorgetragen, sie sei - auch nach Hinweis des Senats auf das inzwischen ergangene Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 09.12.2003 (B 2 U 54/02 R) - der Auffassung, § 160 Abs.3 SGB VII sei lex specialis im Verhältnis zu den §§ 44 ff. SGB X und berechtige ohne weitere Vorgaben und ohne Ermessensausübung zu einer Korrektur der Veranlagung auch zum Nachteil des Klägers für die Zukunft. In diesem Sinne habe auch das Landessozialgericht Brandenburg in einem Urteil vom 23.02.2004 (L 7 U 74/00) entschieden. Im Übrigen habe sich das BSG im vorgenannten Urteil vom 09.12.2003 nicht hinreichend mit der Problematik des Verhältnisses von § 160 Abs.3 SGB VII zu § 45 SGB X befasst. Schließlich sei der vom BSG entschiedene Fall nicht mit dem vorliegenden Rechtsstreit vergleichbar, denn das BSG habe seine Entscheidung darauf stützen können, dass die in § 45 SGB X vorgeschriebene Zweijahresfrist, innerhalb derer seit Bekanntgabe des zu ändernden Bescheides eine Aufhebung möglich sei, verstrichen gewesen sei. Dies sei hier anders, so dass sich das BSG noch einmal mit der Problematik befassen müsse.

Die Beklagte beantragt, auf ihre Berufung das Urteil des Sozialgerichts München vom 30.07.2003 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 14.01.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2000 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 30.07.2003 zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG, das inzwischen durch das BSG-Urteil vom 09.12.2003 untermauert worden sei, für zutreffend.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß § 136 Abs.2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens - wie auch des Klageverfahrens - ist ausschließlich der Veranlagungsbescheid vom 14.01. 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2000 und nicht die darauf basierenden nachfolgenden Beitragsbescheide, die - wie vom SG zutreffend behandelt - entgegen den Hinweisen der Beklagten nicht Gegenstand des Verfahrens nach § 96 SGG oder analog § 96 SGG geworden sind (vgl. BSG vom 09.12.2003 a.a.O.).

Die angefochtenen Bescheide erweisen sich als rechtswidrig, weil sie ihre Rechtsgrundlage in § 45 SGB X haben und § 160 Abs.3 SGB VII nur den Zeitpunkt der Änderung regelt. Dies wurde vom SG bereits eingehend dargestellt und findet volle Bestätigung im Urteil des BSG vom 09.12.2003. Bis zur Entscheidung des BSG war in der Tat die Meinung in der Literatur, zur Frage, ob § 160 SGB VII im Verhältnis zu § 45 SGB X ein lex specialis darstellt, uneinheitlich. Der Senat sieht die Streitfrage durch die Entscheidung des BSG in jeder Hinsicht und eingehend für geklärt an. Er schließt sich der Auffassung des BSG in vollem Umfang an. Danach lässt sich den Gesetzesmaterialien (Bundestagsdrucksache 13/2204 S.112) entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 160 SGB VII im Wesentlichen das bisher geltende Recht des § 734 Abs.2 Reichsversicherungsordnung (RVO) übernehmen wollte und lediglich das Wirksamwerden der Aufhebung eines Veranlagungsbescheides in den von Abs.1 und 2 abweichenden Fällen in § 160 Abs.3 SGB VII bestimmen wollte. Es sei nicht beabsichtigt gewesen - so das BSG -, zugunsten der Unfallversicherungsträger eine uneingeschränkte Möglichkeit zu schaffen, Veranlagungsbescheide für die Zukunft abändern zu können. Ein Vertrauensschutz, wie er dem § 45 SGB X innewohne und bereits aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs.3 Grundgesetz abzuleiten sei, gelte nicht nur für Versicherte im Leistungsrecht, sondern auch für Unternehmer hinsichtlich der von ihnen zu zahlenden Beiträge. Auch gebe es kein generelles System des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen den §§ 44 ff. SGB X sowie Vorschriften in den besonderen Teilen des SGB. Demzufolge finde sich keine hinreichende Stütze für die Annahme, § 160 Abs.3 SGB VII sei lex specialis und verdränge die Vorschriften des SGB X. Mit diesen Erläuterungen stellt das BSG eindeutig fest, dass insbesondere § 45 SGB X mit seinem - vorübergehend für den Veranlagungszeitraum geltenden - Vertrauensschutz und seinen Fristenregelungen anzuwenden ist. Entgegen der Meinung der Beklagten kann der Entscheidung des BSG nicht entnommen werden, die Frage, ob eine Vertrauensschutzprüfung vorgenommen werden müsse, sei offen geblieben.

Damit steht fest, dass Rechtsgrundlage für die von der Beklagten vorgenommene Änderung nur § 45 SGB X i.V.m. § 160 Abs.3 SGB VII sein kann und die dort genannten Voraussetzungen bereits deshalb nicht erfüllt sind, weil die Beklagte - wie sie stets vorgetragen hat und im Berufungsverfahren weiter vorträgt - keine Ermessensentscheidung getroffen hat. Nach § 45 Abs.1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, in bestimmtem Umfang zurückgenommen werden. Eine Rücknahme ist nach Abs.2 ausgeschlossen, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Der Bescheid muss erkennen lassen, dass sich die Behörde bewusst war, einen Ermessensspielraum zu haben und die Gesichtspunkte zentraler Bedeutung aufzeigen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (von Wulffen, SGB X, 4. Auflage § 45 Anm.4). Eine derartige Begründung liefern weder der Bescheid vom 14.01.2000 noch der Widerspruchsbescheid vom 13.03.2000. Da das Widerspruchsverfahren vor dem 02.01.2001 und damit vor dem In-Kraft-Treten der Änderung des § 41 SGB X durch das 4. Euro-Einführungsgesetz vom 21.12.2000 (BGBl.I 2000, 1983) abgeschlossen war, konnte Ermessen nur noch im Widerspruchsbescheid nachgeholt werden. Dass dies nicht geschehen ist, weil die Beklagte ohnehin glaubte, nicht zur Ermessensausübung verpflichtet und berechtigt zu sein, wurde bereits dargelegt. Sofern das Vorbingen der Beklagten dahin zu verstehen sein soll, aus der Tatsache, dass sie die Veranlagung nur mit Wirkung für die Zukunft geändert habe, sei auf eine Ermessensentscheidung zu schließen, ist ihr entgegenzuhalten, dass dies in keiner Weise genügt. Insoweit kann sie sich auch nicht auf die Entscheidung des BSG vom 17.04.1996 (- 3 RK 18/95 -, Breithaupt 1997, S.89 ff.) stützen. In dem zu dieser Entscheidung abgefassten Leitsatz heißt es zwar, sofern eine Behörde einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt nur für die Zukunft, nicht aber auch für die Vergangenheit zurücknehme, liege darin grundsätzlich eine hinreichende Ausübung des Rücknahmeermessens. Dieser Leitsatz muss jedoch im Zusammenhang mit den weiteren Ausführungen verstanden werden. Darin wird dargelegt (Breithaupt 1997, S.93), dass im Widerspruchsbescheid die Formulierung enthalten war, das öffentliche Interesse habe es geboten, den dortigen Kläger wie alle anderen Abgabepflichtigen auch, tatsächlich für abgabepflichtig zu erklären, sein Vertrauen in den Bestand des Bescheides sei für die Zukunft nicht schutzwürdig und der die Abgabepflicht verneinende Bescheid sei daher insoweit zurückzunehmen. Diese Formulierung habe - so das BSG dort - den Begründungsanforderungen des § 35 Abs.1 SGB X genügt. Derartige Ausführungen enthält jedoch der hier zu überprüfende Bescheid vom 14.01.2000 und der Widerspruchsbescheid vom 13.03.2000 nicht. Daraus folgt, dass auf den Empfängerhorizont, nämlich auf den des Klägers abgestellt, eine Ermessensausübung mit Vertrauensabwägung nicht zu erkennen ist. Wie vom SG zutreffend dargestellt, sind die angefochtenen Bescheide bereits aus diesem Grunde rechtswidrig. Sie waren aufzuheben, zumal bei einem Neuerlass eines entsprechenden Veranlagungsänderungsbescheides ausschließlich für einen in die Vergangenheit reichenden Zeitraum zu entscheiden wäre und die in § 45 SGB X genannten Fristen (Abs.3 und Abs.4) verstrichen sind.

Bei dieser Sachlage konnte der Senat ungeprüft lassen, ob und inwieweit die Zuordnung des Unternehmens des Klägers zur Gefahrtarifstelle 07 zutreffend war.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 30.07.2003 war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die hier streitige Frage bereits höchstrichterlich geklärt ist und keine Gründe vorgetragen wurden, die einer darüber hinausgehenden Klärung bedürften (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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