L 11 KA 89/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 33 KA 186/99
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KA 89/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 6 KA 14/01 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28.06.2000 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über Kürzungen des vertragsärztlichen Honorars gemäß § 7 Abs. 1 des Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) der Beklagten in den Quartalen IV/1997 und I/1998.

Der Kläger ist als Hals-Nasen-Ohrenarzt zur vertragsärztlichen Versorgung in A ... zugelassen. Die Beklagte kürzte seine Honorarforderungen für die Quartale IV/1997 und I/1998 wegen übermäßiger Ausdehnung der vertragsärztlichen Tätigkeit um ca. 8.400,-- DM und 19.500,-- DM. Mit seinen hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger im wesentlichen geltend, über die Ausführungsbestimmungen zur Berücksichtigung von Praxisabwesenheitszeiten erst verspätet im Mai 1998 unterrichtet worden zu sein. Wenn ihm die vom Vorstand der Beklagten beschlossene Regelung bekannt gewesen wären, hätte er in den Urlaubszeiten seine Praxis geschlossen und keine Praxisvertretung organisiert. Für das Quartal IV/1997 stellte er einen Antrag auf Gewährung einer Ausnahmeregelung von der Fallzahlzuwachsbegrenzung, weil die Praxis urlaubsbedingt im Dezember 1996 geschlossen gewesen sei. Außerdem verwies er darauf, dass die nächst erreichbare HNO-Praxis in S ... aufgegeben worden und hierdurch die Fallzahlüberschreitung in den streitigen Quartalen bedingt sei. Die Beklagte lehnte die beantragte Ausnahmeregelung mit Bescheid vom 13.01.1999 ab, weil eine Praxisabwesenheit nicht gemeldet worden sei. Die dagegen und gegen die Kürzungen eingelegten Widersprüche des Klägers wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 30.08.1999 zurück. § 7 Abs. 1 des HVM diene in zulässiger Weise dem Ziel, bei begrenzten Gesamtvergütungen und Steigen der Leistungsmenge dem einzelnen Vertragsarzt eine gewisse Planungs- und Kalkulationssicherheit zu geben. Eine Ausnahme könne nicht gewährt werden, weil Abwesenheitszeiten nicht angezeigt worden seien.

Dagegen hat sich die Klage gerichtet, zu deren Begründung der Kläger im wesentlichen auf sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren verwiesen hat.

Der Kläger hat beantragt,

die Quartalskonto/Abrechnungsbescheide für die Quartale IV/1997 und I/1998 hinsichtlich der Kürzungen nach § 7 Abs. 1 HVM in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die einbehaltenen Beträge nachzuvergüten,
hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.01.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.1999 zu verurteilen, eine Ausnahmeregelung hinsichtlich der Fallzahlzuwachsbegrenzung für die Quartale IV/1997 und I/1998 einzuräumen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 28.06.2000 die Kürzungen aufgehoben. Eine allein auf die Fallzahl abstellende, weder den Fall wert noch das Gesamtleistungsvolumen des Arztes berücksichtigende Begrenzungsregelung sei nicht von § 85 Abs. 4 Satz 4 SGB V gedeckt. Die Regelung diene insgesamt auch nicht der Verhinderung einer übermäßigen Ausdehnung, sondern der Stärkung der Verteilungsgerechtigkeit durch Nivellierung der Fallzahlen und der Anpassung an das System der Praxisbudgets. Dieser tatsächliche Regelungsgehalt werde in unzulässiger Weise verschleiert, indem § 7 HVM allein auf § 85 Absatz 4 Satz 4 SGB V gestützt werde.

Zur Begründung ihrer Berufung trägt die Beklagte vor, es bestehe keine Pflicht, bereits im Ausgangszeitpunkt optimale Entscheidungen bei der Honorarverteilung zu treffen. § 7 HVM begrenze in Erfüllung des gesetzlichen Auftrags aus § 85 Abs. 4 Satz 4 SGB V den überproportionalen Zuwachs der individuellen Fallzahlen einerseits und die übermäßige Überschreitung einer gruppenbezogenen Gesamtpunktzahl andererseits. Den Ärzten werde weiterhin eine Fallzahlsteigerung von fünf bis zehn Prozent gegenüber den Vorjahresquartalen zugestanden. Umstände des Einzelfalls könnte antragsgemäß berücksichtigt werden. Außerdem bestünden Ausnahmere gelungen für Ärzte, die weniger als 20 Quartale niedergelassen sein. Die Fallzahlbegrenzung sei ebensowenig zu beanstanden wie eine individuelle Bemessungsgrundlage nach festen Punktwerten unter Anknüpfung an frühere Abrechnungszeiträume. Flankierend zu den Praxis- und Zusatzbudgets sei der Fallzuwachs begrenzt worden, um ein Produzieren von Fällen etwa über vermehrte Überweisungen zu verhindern.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28.06.2000 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, auch des Vorbringens der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen. Deren Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.

Das Sozialgericht hat zutreffend die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 HVM einbehaltenen Honoraranteile nachzuvergüten. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtswidrig und beschweren den Kläger i.S.v. § 54 Abs. 2 SGG.

Die Regelung in § 7 Abs. 1 HVM, auf die die Kürzungen in den streitigen Bescheiden gestützt wird, entbehrt einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt § 85 Abs. 4 Satz 4 SGB V als Ermächtigungsgrundlage nicht in Betracht. Eine allein auf die Überschreitung bestimmter Fallzahlengrenzwerte abstellende und den Leistungsumfang im übrigen völlig außer Betracht lassende Regelung ist nicht durch diese Vorschrift gedeckt. Alle Begrenzungsregelungen im ärztlichen Bereich, über die das BSG in den letzten Jahrzehnten zu entscheiden hatte, stimmten insoweit überein, als als Indikatoren für eine übermäßige Ausdehnung entweder lediglich die Überschreitung eines bestimmten Punktzahlengrenzwertes (z.B. BSG 2200 § 368 f Nr. 15; BSG SozR 3-2500 § 85 Nr. 8) oder eine Kombination von Fall- und Punktzahlobergrenzen (z.B. BSG SozR 2200 § 368 f Nr. 15) normiert waren. Honorarverteilungsregelungen, die ohne Berücksichtigung von Fallzahl und Gesamthonorar der Praxis allein auf den Fallwert abgestellt haben, sind indessen nicht durch § 85 Abs. 4 Satz 5 SGB V gedeckt (BSGE 75, 37, 44). Nichts anderes gilt für eine allein an die Fallzahl anknüpfende, den Behandlungsumfang pro Fall und damit auch die Gesamthonorarforderung überhaupt nicht berücksichtigende Regelung der Honorarverteilung. Die Fallzahl allein gibt keinen Aufschluss darüber, in welchem Umfang ärztliche Leistungen erbracht werden und ob sich der Arzt dem einzelnen Patienten mit der erforderlichen Sorgfalt widmen kann (BSG - 6 RKA 21/97 - SozR 3-2500 § 85 Nr. 23). Die Begrenzungsregelung in § 7 Abs. 1 HVM stellte aber allein auf eine Überschreitung einer sich aus Vorjahresquartalen berechnenden Fallzahl ab und berücksichtigt weder das gesamte Leistungsvolumen noch das Behandlungsvolumen pro Fall. Ein Rückschluss auf den Umfang der ärztlichen Leistungen sowie die dem Versicherten gegenüber erbrachte Sorgfalt bei der ärztlichen Behandlung ist nicht möglich.

Es ist auch - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht möglich, die allein an die Fallzahl anknüpfende Regelung in § 7 Abs. 1 HVM als Teil einer in § 7 Abs. 1 und 2 HVM getroffenen Gesamtregelung anzusehen. Einer solchen Auslegung steht der klare Wortlaut in § 7 HVM entgegen. Denn die Vorschrift stellt darauf ab, dass eine Vertragsarztpraxis einer Kürzung unterliegt, wenn die in Abs. 1 beschriebene Fallzahlbegrenzung und/oder die in Abs. 2 aufgeführten Grenzwerte überschritten werden. Durch die Verwendung der Worte "und/oder" sowie den einleitenden Worten in Abs. 2 "unabhängig von Kürzungsmaßnahmen gemäß Abs. 1" wird deutlich ausgedrückt, dass eine Kürzungsmaßnahme nach dem Willen des Normgebers auch dann erfolgen kann, wenn allein die Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind.

Eine Ermächtigungsgrundlage kann auch nicht in den anderen Sätzen des § 85 Abs. 4 SGB V gesehen werden. Zwar bezieht sich § 7 HVM allein auf § 85 Abs. 4 SGB V und nicht speziell auf Satz 4 dieses Absatzes, aber bereits aus der Überschrift und auch dem sonstigen Wortlaut wird deutlich, dass die Regelung auf die Ermächtigung in Satz 4 gestützt wird. Denn es wird mehrfach von einer "Kürzung wegen übermäßiger Ausdehnung" gesprochen; eine solche Kürzung ist aber allein dem Satz 4 zuzuordnen.

Eine anderweitige Auslegung der streitigen Regelung ist auch wegen des Grundsatzes der Rechtsklarheit nicht möglich. Gerade bei Normgebungsverfahren, die Art und Umfang ihrer Zulässigkeit von einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ableiten, erfordern die Grundsätze des Rechtsstaatsprinzip, dass untergesetzliche Normen ihren Regelungsgehalt nicht verschleiern dürfen (BVerfGE, 17, 306, 318). Auch deshalb ist eine Auslegung der streitigen Vorschrift nur unter Berücksichtigung des Wortlautes und des Sinnzusammenhanges möglich. Bei Beachtung dieser Gesichtspunkte wird deutlich, dass die streitige Fallzahlbegrenzungsregelung allein auf die Grundlage des § 85 Abs. 4 Satz 4 SGB V gestellt wurde.

Der Senat muß deshalb nicht entscheiden, ob die in § 7 Abs. 1 HVM getroffene Regelung zwar nicht als Maßnahme zur Vermeidung einer übermäßigen Ausdehnung der Vertragsarztpraxis, aber als begleitende Maßnahme zur Absicherung und Stützung der zeitgleich eingeführten Budgetierung zulässig ist. Der Senat neigt allerdings dazu, die Einführung einer reinen Fallzahlbegrenzung zur Unterstützung der Budgetierung für unzulässig anzusehen, da der Fallzahlzuwachs zumindest von den auch in erheblichem Maße auf Überweisung tätigen Ärzten (wie z.B. dem Kläger) nicht wesentlich zu steuern ist. So kann es bereits deshalb zu einem gesteigerten Überweisungsverhalten der hausärztlich tätigen Vertragsärzte kommen, weil diese bestimmte Leistungen nicht mehr "zu Lasten ihres Budgets" erbringen wollen und deshalb die Versicherten zur fachärztlichen Behandlung überweisen.

Die Kostenentscheidung erfolgt gemäß §§ 183 und 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, da die Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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