L 11 KA 17/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 33 KA 263/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KA 17/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 6 KA 6/03 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.12.2001 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt eine Erhöhung des für ihre Praxis festgesetzten maximal abrechenbaren Punktzahlvolumens gemäß § 7 des Honorar verteilungsmaßstabs der Beklagten (HVM).§ 7 HVM in der ab dem 01.07.1999 geltenden Fassung (Rhein. Ärzteblatt 6/99, S. 57 ff.; 9/99, S. 59 ff.) ist mit "Leistungsmengensteuerung" überschrieben und soll dem Eingangssatz nach die Mengen entwicklung bei den ambulanten ärztlichen Leistungen steuern und die Vorschriften des § 85 Abs. 4 Fünftes Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) erfüllen. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 HVM erhält jede Praxis ein individuelles Leistungsbudget (Punktzahlengrenzwert). Ausgenommen sind die in § 7 Abs. 1 Satz 3 HVM genannten Honoraranteile, im Wesentlichen Leistungen im ärztlichen organisierten Notfalldienst, Präventions-, Impf- und Methadonleistungen, psychotherapeutische Leistungen und hausärztliche Grundvergütung. Von dem verbleibenden individuellen Umsatz werden 3 % für die Finanzierung neuer Praxen und des erlaubten Zuwachses etablierter Praxen zurückgestellt (§ 7 Abs. 1 Satz 4 HVM). Bemessungsgrundlage sind die individuellen Honorarumsätze des Bemessungszeitraums, der die Quartale III/1997 bis II/1998 umfasst (§ 7 Abs. 6 HVM i.V.m. § 7a Abs. 2 HVM). Bei Ärzten, deren Niederlassungsdauer am 30.06.1999 weniger als 21 Quartale beträgt, können auf Antrag die durchschnittlichen anerkannten Werte aus bis zu vier aufeinanderfolgenden Quartalen vor Inkrafttreten des HVM, nicht jedoch vor dem Quartal III/1997, zu Grunde gelegt werden (§ 7a Abs. 6 HVM). Der hiernach verbleibende Honoraranteil, vervielfältigt mit dem Faktor 10, ergibt das zulässige Punktzahlvolumen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 HVM). Darüber hinausgehend ab gerechnete Punktzahlen "werden nicht vergütet" (§ 7 Abs. 2 Satz 2 HVM). Ein Punktzahlzuwachs ist nur möglich bei Praxen, die unter dem gemäß § 7 Abs. 4 HVM berechneten durchschnittlichen Punktzahlengrenzwert ihrer Arztgruppe liegen, und zwar maximal im Umfang von 3 % bezogen auf das Vorjahresquartal (§ 7 Abs. 3 Sätze 1 und 2 HVM), ab 01.01.2000 bezogen auf den Bemessungszeitraum. Eine Ausnahme gilt u.a. für neu niedergelassene Ärzte, die für die Dauer von 20 Quartalen bis zum Erreichen des durchschnittlichen Punktzahlengrenzwertes unbegrenzt wachsen dürfen (§ 7 Abs. 8 HVM). Das hiernach zulässige Punktzahlvolumen wird mit der Fachgruppenquote vervielfältigt, die sich aus dem im jeweiligen Honorartopf zur Verfügung stehenden Honorarvolumen ergibt. So errechnet sich das individuelle Punktzahlvolumen, das nach einem festen Punktwert von 10,0 Pf vergütet wird (§ 7 Abs. 2 Sätze 3 und 4 HVM). Auf Antrag kann der Vorstand der Beklagten die Individualwerte nach Maßgabe des § 7a Abs. 7 HVM anpassen und sich aus der Umsetzung des HVM ergebende Ausnahmeregelungen beschließen (§ 7a Abs. 8 HVM). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Vorschriften der §§ 7, 7a HVM verwiesen.

Die Klägerin ist seit Januar 1994 als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Ärztin - Psychotherapie - in ... niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Seit dem Quartal III/1995 nimmt sie an der Vereinbarung über besondere Maßnahmen zur Verbesserung der sozialpsychiatrischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Ersatzkassenbereich (Sozialpsychiatrie-Vereinbarung; Anlage 11 zum Bundesmantelvertrag Ärzte-/Ersatzkassen, DÄBl. 1994, S. 1468 ff.) Teil. Im Hinblick hierauf stellte sie mehrere nichtärztliche Mitarbeiter(innen), u.a. eine Sozial- und Familientherapeutin, eine Heilpädagogin, eine Motopädin und eine Diplompsychologin, ein. Im Laufe des Jahres 1998 unterzog sie ihre Praxis mit Unterstützung einer Unternehmensberatung einer Reorganisation.

Unter dem 04.11.1999 teilte die Beklagte der Klägerin die "Ermittlung des maximal zulässigen Punktzahlvolumens" ihrer Praxis mit, die ein maximal zulässiges Punktzahlvolumen von 337.441,0 Punkten ergab. Die Beklagte wies der Klägerin ein maximal zulässiges Punktevolumen von 337.441,0 Punkten zu. Diesen Wert ermittelte die Beklagte, indem sie zunächst die Summe der Primär- und Ersatzkassenhonorare der Klägerin in den Quartalen III/1997 bis II/1998 (insgesamt 413.253,64 DM) um die in diesen Quartalen gezahlten Honorare für Leistungen im organisierten, ärztlichen Notfalldienst (2.510,08 DM), psychotherapeutische Leistungen (insgesamt 49.490,59 DM) sowie einen weiteren Betrag von 222.102,05 DM, darin enthalten 220.800 DM Pauschalzahlungen gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 Sozialpsychiatrie-Vereinbarung, verminderte. Den Differenzbetrag von 139.150,92 DM teilte sie sodann durch vier, zog von dem so ermittelten bereinigten Durchschnittshonorar je Quartal 3 % ab (§ 7 Abs. 1 Satz 4 HVM) und vervielfältigte das Ergebnis mit dem Punktzahlfaktor 10. Die Summe aus den auf diese Weise errechneten 337.441,0 Punkten und dem erlaubten Zuwachs der Praxis im Abrechnungsquartal gemäß § 7 Abs. 3 HVM bestimmte in der Folgezeit das maximal zulässige Punkt zahlvolumen im Abrechnungsquartal, das die Beklagte der Klägerin in der sog. "Leistungsmengensteuerung gem. § 7 HVM" als Anlage zu dem jeweiligen Quartalskonto/Abrechnungsbescheid mitteilte.

Am 01.12.1999 beantragte die Klägerin, als neu gegründete Praxis behandelt zu werden. Zur Begründung verwies sie auf ihre besondere Praxisstruktur. Allein ihre nichtärztlichen Mitarbeiter benötigten ein Budget von 200.000 Punkten pro Quartal. Die ihr verbleibenden Punkte erlaubten eine Arbeit von höchstens vier Wochen pro Quartal. Ihre eigene kinderpsychiatrische Arbeit werde auf diese Weise lahmgelegt. Um wirtschaftlich arbeiten zu können, benötige sie ein Volumen von wenigstens 700.000 Punkten. Sie beantrage daher, ihr maximal zulässiges Punktzahlvolumen in Höhe des Grenzwertes der Fachgruppe (seinerzeit 750.276 bzw. 722.473 Punkte) festzulegen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24.02.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2000 ab. Im konkreten Fall bestehe kein Ausnahmetatbestand, der eine Änderung des Individualbudgets bzw. des maximalen Punktzahlvolumens rechtfertige. Die hierfür erforderliche besondere Härte durch die Anwendung der Regeln über das Individualbudget sei im Fall der Klägerin nicht ersichtlich. Insbesondere erhalte sie zum Ausgleich der durch die Teilnahme an der Sozialpsychiatrievereinbarung hervorgerufenen erhöhten Aufwendungen eine Pauschalvergütung außerhalb der Budgetierung.

Mit der gegen diesen Widerspruchsbescheid erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen, die Pauschalen nach der Sozialpsychiatrievereinbarung dienten der Abdeckung zusätzlicher, nicht bereits von den einzelnen, in das Individualbudget fallenden, Leistungsziffern erfasster Kosten. Zumindest sei im Hinblick auf die Praxisbesonder heiten damit eine Entscheidung nach § 7 a Abs. 8 HVM veranlasst.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 24.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, über den Antrag auf Erhöhung der maximal abrechenbaren Punktzahl unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen: Ein Ausnahmefall nach § 7 a Abs. 7 Buchst. d) HVM liege nicht vor, da die Klägerin sich selbst zur Umstrukturierung ihrer Praxis entschieden habe und daher die von dieser Vorschrift erfassten externen Faktoren nicht vorlägen. Die Neufestsetzung des Budgets aufgrund einer Praxisumstrukturierung gefährde darüber hinaus die mit den Individualbudgets bezweckte Planungssicherheit. Das gelte auch angesichts des Umstandes, dass diese Umstrukturierung hier in der Gründungsphase erfolgt sei. Im Übrigen werde die Pauschale nach der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung gerade zur Deckung der von der Klägerin bezeichneten Kosten gezahlt. So habe diese allein über die Pauschale im Quartal IV/99 71.680 DM erwirtschaftet, während der dem Individualbudget unterliegende anerkannte Leistungsbedarf 600.980 Punkte betragen habe.

Mit Urteil vom 19.12.2001 hat das SG die Beklagte antragsgemäß verurteilt und zur Begründung ausgeführt: An der Wirksamkeit von § 7 HVM bestünden grundsätzlich keine Bedenken mit Ausnahme der Regelung des § 7 Abs. 3 HVM. Durch diese werde die Klägerin jedoch nur dann beschwert, wenn kein Ausnahmefall nach § 7 a Abs. 7 Buchst. d) bzw. Abs. 8 HVM vorliege. Hierbei habe die Beklagte einen Beurteilungsspielraum. Ob sie diesen eingehalten habe, könne die Kammer jedoch nicht beurteilen, weil nachvollziehbare Beurteilungserwägungen in den angegriffenen Bescheiden fehlten. Insbesondere habe die Beklagte keine Feststellungen zur Versorgungssituation getroffen. Bei einer Neubescheidung dürfe sie einen Ausnahmeantrag nicht schon mit Hinweis auf die Pauschalen nach der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung ablehnen.

Mit der Berufung gegen dieses Urteil trägt die Beklagte vor: § 7 a Abs. 7 Buchst. d) HVM verlange zunächst eine nachweisliche Veränderung der Leistungsmenge, die so erheblich sein müsse, dass der Punktzahlengrenzwert aus dem Bemessungszeitraum nicht mehr angemessen sei. Außerdem müsse die Veränderungen auf externen Ursachen beruhen. Die Klägerin habe ihre Leistungsmenge jedoch nicht nachhaltig verändert. Zwar habe sie in den Quartalen IV/1998 bis II/1999 einen Anstieg der Leistungsmenge zu verzeichnen. Allerdings sei der anerkannte Leistungsbedarf danach wieder rückläufig. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts stehe ihr, der Beklagten, weder bei der Beurteilung der Frage, ob aus Sicherstellungsgründen im Sinne des § 7 a Abs. 7 Buchst. d) HVM ein Zuschlag auf den individuellen Punktzahlengrenzwert angebracht sei, noch , ob im Sinne des § 7 a Abs. 8 HVM die Notwendigkeit einer Ausnahmeregelung bestehe, ein Beurteilungsspielraum zu. Daher habe sie die Versorgungslage nicht zu ermitteln brauchen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.12.2001 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Mit Quartalskonto/Abrechnungsbescheid vom 27.01.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2000 hat die Beklagte der Klägerin für das Quartal III/1999 bei einem für das Individualbudget anerkannten Leistungsbedarf von 828.007,5 Punkten ein maximal zulässiges Punktzahlvolumen von 351.927,3 Punkten zugestanden und ihr auf dieser Grundlage für die dem Individualbudget unterliegenden Leistungen ein Quartalshonorar von 32.931,00 DM gewährt. Dieser Bescheid ist Gegenstand des Rechtsstreits L 11 KA 85/02 LSG NRW. Wegen der Einzelheiten wird auf die Prozess- und Verwaltungsakten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Verfahren gewesen sind, sowie auf das Senatsurteil vom heutigen Tage Bezug genommen.

Der Senat hat die Abrechnungsunterlagen der Klägerin aus den Quartalen III/1999 bis IV/2001 beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Wegen der Auswertung dieser Unterlagen und der von der Klägerin im Verfahren L 11 KA 85/02 LSG NRW erst instanzlich überreichten Quartalskonto/Abrechnungsbescheide und Gesamtübersichten vor Prüfung aus den Quartalen I/1994 bis I/2001 wird auf die nachfolgende Tabelle Bezug genommen, die in der mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten erörtert worden ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erhöhung des für ihre Praxis festgesetzten maximal abrechenbaren Punktzahl volumens im Wege der von ihr erstrebten Vorabentscheidung außerhalb des jeweiligen Quartalskonto/Abrechnungsbescheides. Der Senat hat in seiner Entscheidung im Verfahren L 11 KA 17/02 im Einzelnen dargelegt, dass und warum das von der Beklagten praktizierte System einer Bindung des Vertragsarztes an einen in der Vergangenheit erzielten eigenen Honorarumsatz grundsätzlich zulässig ist. Auf die entsprechenden Ausführungen im Senatsurteil vom heutigen Tage wird Bezug genommen.

Nach Maßgabe der hierzu in § 7 HVM niedergelegten Bestimmungen hat die Beklagte das zulässige Punktzahlvolumen der Klägerin zutreffend berechnet. Die Klägerin hat gegen die Berechnung als solche aus drücklich keine Einwände erhoben.

Zu Recht hat die Beklagte die Klägerin dabei zum Zeitpunkt der Einführung der Individualbudgets mit dem Quartal III/1999 nicht als "neu" niedergelassene Ärztin mit einem Niederlassungszeitraum von bis zu 20 Quartalen angesehen. Denn die Klägerin ist seit dem Quartal I/1994 niedergelassen, vollendete am 30.06.1999 also bereits das 22. Niederlassungsquartal. Dass sie ihre Praxis beginnend mit September 1995 über einen Zeitraum von mehreren Jahren neu ausgerichtet und reorganisiert hat, führt nicht dazu, sie mit Ablauf dieses Zeitraums als neu niedergelassene Ärztin zu behandeln. Denn die typischen Anlaufschwierigkeiten einer neuen Praxis, die aus den dargelegten Gründen ihre Sonderstellung rechtfertigen, sind nicht zu vergleichen mit den Problemen, die sich aus der neuen Ausrichtung einer bereits etablierten Praxis ergeben. Für den Fall der Klägerin, die diese Neuausrichtung während der Gründungsphase vor genommen hat, gilt nichts anderes. Vielmehr gehört es gerade zu den typischen Anlaufschwierigkeiten von Anfängerpraxen, dass sie während der Etablierung noch Korrekturen hinsichtlich ihrer Position am Markt vornehmen müssen. Dass dies mit unter Umständen erheblichen Investitionen verbunden ist, die sich erst nach geraumer Zeit amortisieren, liegt dabei auf der Hand, gehört aber zu den typischen Problemen von Existenzgründern und rechtfertigt daher keine Abweichung vom Grundsatz, wonach die eigentliche Gründungsphase nach 20 Quartalen als abgeschlossen angesehen werden kann.

Im Ergebnis ebenfalls zu Recht hat die Beklagte eine Ausnahmerege lung zugunsten der Klägerin auf der Grundlage von § 7a Abs. 7 Buchst. d), Abs. 8 HVM abgelehnt.

Entgegen ihrer jedenfalls noch im erstinstanzlichen Verfahren vertretenen Auffassung ist allerdings auch der hier streitgegenständliche Abrechnungsbescheid an diesen Bestimmungen zu messen. Der Umstand, dass hierüber ein gesonderter Rechtsstreit anhängig ist, steht dem nicht entgegen. Denn ein Abrechnungsbescheid, in dem die honorarrelevante Überschreitung eines individuellen Puntkzahlen grenzwertes festgestellt wird, ist nur dann rechtmäßig, wenn dieser Grenzwert rechtmäßig ermittelt worden ist. Dass § 7a Abs. 7 Buchst. d), Abs. 8 HVM hierfür grundsätzlich ein gesondertes Verfahren vor sieht, ist dabei unerheblich. Da nämlich der hierfür zuständige Vorstand der Beklagten auch den Widerspruchsbescheid betreffend den Abrechnungsbescheid erlässt (§ 4 Abs. 6 Sätze 3 und 4 der Satzung der Beklagten), hätte eine entsprechende Ausnahmeentscheidung gegebenenfalls spätestens in diesem Widerspruchsbescheid ergehen können.

Sie war indessen nicht erforderlich, weil die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles nicht erfüllt sind.

Zu Recht hat die Beklagte der Klägerin keinen Zuschlag auf ihren individuellen Punktzahlengrenzwert bewilligt (§ 7a Abs. 7 Buchst. d) HVM). Die Vorschrift setzt voraus, dass erstens besondere Umstände des Einzelfalles vorliegen, die in Sicherstellungsgründen wurzeln. Zweitens müssen diese Umstände gegenüber dem Bemessungszeitraum zu einer nachweislich veränderten Leistungsmenge geführt haben, mit der Folge, dass drittens das Verhältnis zwischen dieser Leistungsmenge und dem Punktzahlengrenzwert aus dem Bemessungszeitraum nicht mehr angemessen ist.

Insoweit steht zwar außer Zweifel, dass sich die Leistungsmenge der Klägerin im Verhältnis zum Bemessungszeitraum nachweislich verändert hat. So lag der weitestgehend ins Individualbudget fallende kurative Leistungsbedarf nach Budget im Quartalsdurchschnitt des Bemessungszeitraums bei 619.230,62 Punkten. Demgegenüber betrug der anerkannte, dem Individualbudget unterfallende Leistungsbedarf in den ersten vier Quartalen nach Einführung der Individualbudgets (III/1999 bis II/2000) durchschnittlich 747.583,12 Punkte.

Es ist aber nicht ersichtlich, dass diese Steigerung der Leistungsmenge auf Umständen beruht hat, die ihrerseits in Sicherstellungsgründen wurzelten. Dabei kann der Senat es dahingestellt lassen, ob der Beklagten (wie sie allerdings noch im Widerspruchsbescheid vom 29.11.2000 selbst gemeint hat) bei der Beantwortung der Frage, ob "Sicherstellungsgründe" im Sinne dieser Bestimmung vorliegen, ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu kommt. Dagegen spricht allerdings, dass die KÄVen bei der Feststellung solcher Sicherstellungsgründe keinen Erkenntnis- oder Einschätzungsvorrang haben (vgl. BSG, Urt. v. 31.05.2001 - B 6 KA 53/00 R - SozR 3-2500 § 87 Nr. 31; Urt. v. 15.05.2002- B 6 KA 22/01 R) und dass sich die in § 7a Abs. 7 Buchst. d) Satz 2 HVM aufgeführten Beispielsfälle ohne Weiteres im Tatsächlichen nachprüfen lassen. Dabei bestehen im vorliegenden Fall jedoch, wie die Beklagte im Widerspruchsbescheid zutreffend ausgeführt hat, keine Anhaltspunkte für eine Leistungssteigerung aus Sicherstellungsgründen. Welche Gründe insoweit in Betracht kommen, ist in § 7a Abs. 7 Buchst. d) Satz 2 HVM beispielhaft aufgeführt. Es handelt sich sämtlich um Veränderungen, die außerhalb der Praxissphäre liegen und daher vom einzelnen Vertragsarzt nicht beeinflusst werden können. Für solche Gesichtspunkte ist hier aber nichts ersichtlich oder vorgetragen. Die Klägerin hat sich zur Begründung ihres Anspruchs auf Anpassung der Individualwerte ausschließlich auf Argumente bezogen, die mit der Entwicklung ihrer Praxis selbst, vor allem mit unternehmerischen Entscheidungen, zusammenhängen. Dass nach dem Bemessungszeitraum eine unvorhersehbare Versorgungssituation eingetreten wäre, die eine erhebliche Leistungssteigerung erforderlich gemacht hätte, ist auch aus der statistischen Entwicklung der Praxis nicht erkennbar. Vielmehr hat die Klägerin, mit Ausnahme des Quartals I/2000, ihre Fallzahl eher allmählich gesteigert, wie es für eine sich allmählich etablierende Praxis nicht untypisch ist. Auch der Leistungsbedarf insgesamt ist im Anschluss an den Bemessungszeitraum jedenfalls im Jahresdurchschnitt nicht sprunghaft, sondern kontinuierlich angestiegen und nach 1999 sogar wieder etwas rückläufig.

Im Hinblick hierauf brauchte die Beklagte auch keine Ausnahmeregelung im Sinne von § 7a Abs. 8 HVM zu treffen. Diese Generalklausel kann nämlich nur solche Fälle erfassen, die untypisch und nicht konkret vorhersehbar sind. Dagegen müssen typischerweise vorher sehbare Fallgruppen zumindest in den Grundzügen im HVM selbst geregelt werden, um die Kompetenz für die Honorarverteilung nicht zu weitgehend von der Vertreterversammlung auf den Vorstand zu verlagern. Hierzu zählt insbesondere der Umstand, dass vertragsärztliche Praxen insbesondere in der Gründungsphase regelmäßig unterdurch schnittlich viele Patienten behandeln und die durchschnittliche Fallzahl bzw. das durchschnittliche Punktevolumen ihrer Fachgruppe erst nach einem von Praxis zu Praxis verschieden langen Zeitraum des Aufbaus erreichen (BSGE 83, 52, 58 = SozR 3-2500 § 85 Nr. 28). Diese Zeit des Aufbaus ist, wie bereits ausgeführt, oftmals durch die Suche nach bestmöglicher Positionierung am Markt, u.U. auch nach einer "Marktnische", geprägt, wie die Klägerin sie offensichtlich in der Teilnahme an der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung zu finden hoffte. Die Teilnahme an dieser Vereinbarung als solche ist hingegen kein untypischer Umstand, der eine Ausnahmeregelung auf der Grundlage von § 7a Abs. 8 HVM rechtfertigen könnte. Zwar kann der Klägerin unbedenklich darin gefolgt werden, dass die Einstellung qualifizierten Fachpersonals in größerer Zahl ein Investitionsvolumen erfordert, das sich nicht sofort amortisiert und auch nicht vollständig durch die - fallzahlabhängigen - Pauschalen nach § 6 Abs. 2 Sozialpsychiatrie-Vereinbarung aufgefangen wird. Vielmehr werden die mit der Teilnahme verbundenen besonderen Aufwendungen durch die Pauschalen erst mit der Erhöhung der Fallzahl zunehmend kompensiert. Insoweit besteht jedoch zum einen kein Unterschied zu anderen Praxen in der Gründungsphase, zu deren Betrieb z.B. die Anschaffung kostenintensiver technischer Gerätschaften erforderlich ist. Zum anderen handelt es sich dabei um einen Umstand, der im Bemessungszeitraum wie in der Budgetierungsphase gleichermaßen vorgelegen hat und schon aus diesem Grund eine besondere atypische Belastung nicht begründet.

Die Teilnahme an der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung ist vor diesem Hintergrund auch kein Umstand, der unter dem Gesichtspunkt einer Praxis-Neuausrichtung als Ausnahmetatbestand berücksichtigt werden könnte. Soweit, was bei der Klägerin nicht der Fall ist, die Neuausrichtung im Anschluss an den Bemessungszeitraum zu einer Fach- oder Untergruppenänderung führt, hat die Beklagte dem im Übrigen durch § 7a Abs. 3 HVM ausreichend Rechnung getragen.

Ein weitergehender Anspruch auf Erhöhung des für eine Praxis festgesetzten maximal abrechenbaren Punktzahlvolumens im Sinne einer vorab und außerhalb einer konkreten Quartalsabrechnung gewährten abstrakt-individuellen Ausnahme von den Beschränkungen des § 7a Abs. 3 HVM besteht nicht.

Zwar hat der Senat diese Bestimmung in seinen Entscheidungen L 11 KA 85/02 und L 11 KA 256/01 vom heutigen Tage u.a. insoweit für rechtswidrig erachtet, als sie Ärzte mit einem Individualbudget unter dem durchschnittlichen Punktzahlengrenzwert der Fachgruppe, die ihr Leistungsvolumen im Verhältnis zum Vorjahresquartal bzw. Bemessungszeitraum steigern, daran hindert, ihren Umsatz in angemessener Zeit bis zum durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe zu steigern. Dementsprechend erweisen sich Quartalskonto/Abrechnungsbescheide und unter Umständen (so im Verfahren L 11 KA 256/01) auch außerhalb einer konkreten Quartalsabrechnung erlassene Bescheide über Leistungsmengensteuerungen, in denen ein maximal abrechenbares Punktzahlvolumen verbindlich festgestellt wird, als rechtswidrig, soweit sie den genannten Personenkreis an dem in § 7 Abs. 3 Satz 2 HVM geregelten beschränkten Zuwachs festhalten. Hiervon unterscheidet sich der vorliegende Fall jedoch grundsätzlich. Denn die Klägerin wendet sich weder gegen einen konkreten Quartalskonto/Abrechnungsbescheid noch gegen einen abstrakt-individuellen Bescheid über die Bemessungsgrundlagen. Vielmehr erstrebt sie eine sie begünstigende abstrakt-individuelle Ausnahmebewilligung von der Anwendung einer einzelnen Berechnungsvorschrift, und zwar unabhängig von ihrem jeweiligen quartalsweisen anerkannten Leistungsbedarf.

Für eine solche Bewilligung enthält der HVM der Beklagten jedoch keine Rechtsgrundlage. Vielmehr hat die Beklagte die möglichen Ausnahmegewährungen abschließend geregelt und auf die abweichende Festlegung der Individualwerte bei Neupraxen (§ 7a Abs. 6 HVM), die Anpassung der Individualwerten (§ 7a Abs. 7 HVM) und die allgemeine Generalklausel (§ 7a Abs. 8 HVM) beschränkt. Ein darüber hinausgehender Anspruch des Vertragsarztes, die Anwendung einzelner Berechnungsvorschriften des HVM auf seine Praxis von vornherein auszuschließen, wäre überdies mit der Systematik des HVM nicht zu vereinbaren. Denn der HVM beinhaltet ein auf typische Praxisentwicklungen abgestelltes Rechenwerk mit der Möglichkeit zu Ausnahmebewilligungen in atypischen Fällen, das seine Wirkung und Berechenbarkeit durch gleichsam auf Vorrat angelegte Wachstumsbewilligungen weitgehend verlieren würde.

Hierfür besteht auch kein Rechtsschutzbedürfnis. Klarheit über die Rechtmäßigkeit der einzelnen Berechnungsvorschriften können die Vertragsärzte ebenso - im Wege der Inzidenterkontrolle - durch die Anfechtung des jeweiligen Quartalskonto/Abrechnungsbescheides erlangen. Da die Beklagte und ihr nachfolgend die Gerichte etwa zeitgleich mit der Entscheidung über die Erhöhung des Individualbudgets über die Rechtsbehelfe gegen die ersten Quartalskonto/Abrechnungsbescheide entschieden haben (wie auch der vorliegende Fall zeigt), führt eine Vorabklärung auch nicht zu der Möglichkeit, das eigene Leistungsverhalten frühzeitiger zu steuern. Ebenso wenig dient sie zwangsläufig der Prozessökonomie. Wie nämlich mehrere beim Senat anhängige Streitsachen belegen, sind die auf Voraberhöhung ihres Individualbudgets klagenden Vertragsärzte häufig in den Quartalskonto/Abrechnungsbescheiden durch die Regelung des § 7 Abs. 3 Satz 2 HVM gar nicht beschwert, weil sie ihr Leistungsvolumen entweder überhaupt nicht oder jedenfalls unterhalb des von der Beklagten gestatteten Zuwachses gesteigert haben (vgl. z.B. Urteil des Senats vom heutigen Tage, L 11 KA 58/01 LSG NRW). Letztlich belegt dies auch der vorliegende Fall. Wie die Auswertung der Abrechnungsunterlagen zeigt, hat die Klägerin ihren Leistungsbedarf nämlich nur in der Anfangsphase der Individualbudgets gesteigert, da nach (bereits ab dem Quartal II/2000) jedoch z.T. deutlich reduziert.

Die Anerkennung eines Anspruchs auf Ausnahme von einzelnen Abrechnungsvorschriften ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage im HVM oder das Vorliegen einer konkreten Beschwer käme daher im Ergebnis einer abstrakt-generellen Normenkontrolle gleich. Eine solche ist dem sozialgerichtlichen Verfahren, anders als z.B. im Verwaltungsgerichtsprozess (§ 47 Verwaltungsgerichtsordnung), jedoch fremd und daher auch im vorliegenden Fall nicht anzuerkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfragen hat der Senat die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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