L 5 KR 142/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 15/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 142/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 37/02 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 24.08.2001 geändert und die Klage abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Anspruch auf Versorgung mit Implantaten nebst Suprakonstruktion bzw. auf Erstattung der entstehenden Kosten zusteht.

Die am ...1952 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet an einer Oligodontie (Nichtanlage mehrerer Zähne). Ihr fehlen im Oberkiefer 8 von 16 Zähnen, im Unterkiefer 5 von 16 Zähnen.

Am 27.08.1999 beantragte sie bei der Beklagten unter Vorlage eines Behandlungsplans des Zahnarztes Dr. K ..., D ..., vom 24.08.1999 die Gewährung einer implantologischen Versorgung des Unter- und Oberkiefers nebst darauf aufbauendem Zahnersatz (Suprakonstruktion). Der Zahnarzt D ..., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK), gelangte in der Stellungnahme vom 09.09.1999 zu dem Ergebnis, dass zwar eine multiple Nichtanlage von Zähnen vorliege, die aber eine der Ausnahmeindikationen gemäß § 28 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) nicht erfülle; dennoch sei festzustellen, dass eine Implantatversorgung medizinisch indiziert sei.

Die Beklagte teilte der Klägerin daraufhin durch Schreiben vom 13.10.1999 mit, dass sie beabsichtige, den Antrag auf Gewährung einer Implantatversorgung nebst Suprakonstruktion abzulehnen, weil eine der Ausnahmeindikationen nach den Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen in Verbindung mit § 28 SGB V nicht vorliege.

Die Klägerin legte dagegen am 25.10.1999 Widerspruch ein, den die Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 12.01.2000 ablehnte.

Die Klägerin hat am 01.02.2000 Klage vor dem Sozialgericht Dortmund erhoben.

Sie hat die Ansicht vertreten, dass bei ihr eine Ausnahmeindikation i.S.d. Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen zu § 28 SGB V, nämlich eine "generalisierte Nichtanlage von Zähnen" vorliege; eine herkömmliche prothetische Versorgung sei nicht möglich, weil hierbei gesunde und kariesfreie Zähne beschliffen und dadurch das Zahnmark irreparabel geschädigt würde.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 12.01.2000 zu verurteilen, sie entsprechend dem Behandlungsplan vom 24.08.1999 zu versorgen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, dass bei der Klägerin lediglich eine multiple Nichtanlage von Zähnen vorliege, jedoch nicht die von den Richtlinien des Bundesausschusses geforderte generalisierte Nichtanlage von Zähnen.

Der Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen hat in der dem Sozialgericht erteilten Auskunft vom 20.07.2000 die Auffassung vertreten, dass unter dem Tatbestand "generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen" das genetisch bedingte Fehlen der Mehrzahl der Zähne je Kiefer zu verstehen sei. Eine totale Zahnlosigkeit sei für das Vorliegen dieser Ausnahmeindikation nicht erforderlich.

Der behandelnde Zahnarzt Dr. K ... hat in seinem Befundbericht vom 24.09.2000 u.a. ausgeführt, dass im Falle der Klägerin zwar theoretisch Behandlungsalternativen mittels Brücken oder Prothesen möglich seien, jedoch praktisch so viele Faktoren dagegen sprächen, dass eine derartige Behandlung einen ärztlichen Kunstfehler darstellen würde.

Das Sozialgericht hat in medizinischer Hinsicht Beweis erhoben und ein Gutachten des Zahnarztes Dr. V ..., D ..., vom 13.02.2001 eingeholt: Neben den im Ober- und Unterkiefer fehlenden 8 bzw. 5 Zähnen habe die Klägerin Lücken zwischen den Zähnen 11 und 53 sowie 51 und 52 aufgrund des zwischen zeitlich kieferorthopädisch beseitigen Diastemas zwischen Zahn 11 und Zahn 21. Um diese Gesundheitsstörungen zu behandeln, sei eine Kombination von Kieferorthopädie, Implantation und Prothetik notwendig. Eine prothetische Versorgung mit konventionellen Kronen oder Brücken allein sei nicht möglich, da eventuelle Kronen wegen der großen Lücken so bauchig gestaltet werden müssten, dass Parodontalschäden entstehen würden. Um bei der Klägerin die Kaufunktion über einen längeren Zeitraum zu gewährleisten, sei also eine prothetische Versorgung allein unter Verwendung der vorhandenen Zähne als Pfeilerzähne nicht möglich oder nur dann, wenn Folgeschäden in Kauf genommen würden.

Durch Urteil vom 24.08.2001 hat das Sozialgericht Dortmund die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen das ihr am 10.09.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27.09.2001 Berufung eingelegt.

Zur Begründung bringt sie vor: Ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit Implantaten nebst Suprakonstruktion bzw. Erstattung der durch die inzwischen aufgenommene Behandlung entstandenen Kosten bestehe nicht. Das Sozialgericht habe den Begriff der generalisierten Nichtanlage von Zähnen in den Richtlinien des Bundesausschusses, der als Ausnahmetatbestand normiert sei, zu Unrecht auf die bei der Klägerin vorliegende multiple Nichtanlage von Zähnen ausgeweitet. Auch der Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen habe in seiner Auskunft vom 20.07.2000 die Auffassung vertreten, dass das Fehlen der Mehrzahl der Zähne erforderlich sei. Außerdem habe das Sozialgericht die ferner erforderliche Voraussetzung des Fehlens einer Möglichkeit einer konventionellen prothetischen Versorgung ohne Implantate zu Unrecht bejaht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 24.08.2001 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. V ... vom 13.05.2000 eingeholt, in der dieser u.a. ausgeführt hat, dass eine herkömmliche prothetische Versorgung des Unterkiefers der Klägerin auch dann möglich sei, wenn im Oberkiefer die vorgesehene implantologische Versorgung erfolgen werde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den übrigen Inhalt der Streitakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Das Klagebegehren ist - nachdem die Klägerin während des laufenden Streitverfahrens die Implantatbehandlung des Oberkiefers hat durchführen lassen - da hingehend auszulegen, dass die Klägerin einerseits die Erstattung der ihr insoweit entstandenen Kosten, zum anderen aber auch die noch durchzuführende implantologische Behandlung des Unterkiefers begehrt.

Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist die Klage nicht etwa deshalb unzulässig, weil die Beklagte über den Antrag der Klägerin vom 27.08.1999 nicht durch Bescheid entschieden hat. Das Schreiben vom 13.10.1999 stellt keinen Bescheid dar, da es eine Regelung nicht enthält, sondern vielmehr nur eine beabsichtigte Regelung (im Rahmen der Anhörung) ankündigt. Es ist aber ausreichend, dass die Beklagte einen Widerspruchsbescheid erteilt hat und damit den Antrag der Klägerin abgelehnt hat (vgl. dazu BSG SozR 2200 § 54 SGG Nr. 45).

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, die Klägerin gemäß dem Behandlungsplan des Zahnarztes Dr. K ... vom 24.08.1999 implantologisch zu versorgen; der Klägerin steht weder ein Anspruch auf Kostenerstattung für die bisher durchgeführte implantologische Zahnbehandlung noch für die beabsichtigte weitere implantologische Behandlung des Unterkiefers zu.

Auch für den Kostenerstattungsanspruch aus § 13 Abs. 3 SGB V ist Vorausset zung, dass die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Krankenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (BSG SozR 3-2500 § 27 Nr. 9; SozR 3-2500 § 135 Nr. 14). Dies trifft aber auf die im Oberkiefer der Klägerin durchgeführte implantologische Behandlung aber auch auf den dort eingebrachten Zahnersatz, der auf den Implantaten ruht, die sog. Suprakonstruktion, nicht zu. Ebenfalls besteht kein Anspruch auf eine implantologische Versorgung des Unterkiefers nebst Suprakonstruktion.

§ 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V in der ab 01.07.1997 geltenden Fassung des 2. GKV- Neuordnungsgesetzes vom 23.06.1997 (BGBl. Teil I S. 1520) bestimmt, dass implantologische Leistungen nicht zur zahnärztlichen Behandlung gehören und dass Krankenkassen insoweit auch keinen Zuschuss leisten dürfen, es sei denn, es liegen seltene vom Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V festzulegende Ausnahmeindikationen für besondere schwere Fälle vor, in denen die Krankenkasse diese Leistung einschließlich der Suprakonstruktion als Sachleistung im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung erbringt. § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V schließt somit - abgesehen von den in den Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen zu regelnden Ausnahmefällen - nicht nur die implantologische Leistung als solche von der zahnärztlichen Behandlung aus, sondern normiert zugleich auch ein Verbot der Bezuschussung derartiger Leistungen durch die Krankenkasse (Bundessozialgericht, Urteil vom 19.06.2001, Az.: B 1 KR 4/00 R -; Höfler in Kasseler Kommentar, § 28 Rdn. 23a). Eine der vom Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen in Richtlinien für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Zahnbehandlungsrichtlinien in der Fassung vom 24.07.1998, Bundesanzeiger Nr. 177) festgelegten Indikationen (größere Kiefer- oder Gesichtsdefekte, extreme Mundtrockenheit, generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen, muskuläre Fehlfunktion; vgl. Abschnitt B VII Nr. 29 Zahnbehandlungsricht linien) hat bei der Klägerin nicht vorgelegen. Von den dort aufgeführten Ausnahmeindikationen kommt hier ersichtlich nur die der "generalisierten genetischen Nichtanlage von Zähnen" in Betracht. Der Bedeutung des Wortes "generalisiert" entsprechend ist für das Vorliegen dieses Ausnahmetatbestands zu fordern, dass eine überwiegende - gemessen an der Anzahl der Zähne - genetisch bedingte Nichtanlage von Zähnen gegeben ist. Dies bedeutet, dass die Mehrzahl der Zähne aufgrund eines genetischen Defektes nicht angelegt sein darf. Dabei ist nach Auffassung des Senates eine Betrachtungsweise getrennt nach Unter- und Oberkiefer vorzunehmen; dies ergibt sich schon dar aus, dass die genetische Nichtanlage von Zähnen entweder nur den Unter- oder den Oberkiefer oder aber beide betreffen kann. Es erschiene aber sinnwidrig, die überwiegende Nichtanlage der Mehrzahl der Zähne beider Kiefer (zusammengerechnet) zu fordern. Wäre z.B. eine Nichtanlage von Zähnen in einem Kiefer ganz überwiegend (bis auf z.B. 2 Zähne) nicht erfolgt, wären aber im anderen Kiefer dagegen alle Zähne angelegt, so wäre die so verstandene Ausnahmeindikation nicht gegeben. Es wäre aber unverständlich, warum den eine implantologische Versorgung ganz offensichtlich erfordernden Verhältnissen des einen Kiefers nicht dadurch Rechnung getragen werden sollte, dass die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes bejaht würden. Im Falle der Klägerin ergibt sich hier somit, dass auch bei einer getrennten Betrachtung von Unter- und Oberkiefer in keinem der Kiefer die Mehrzahl der Zähne fehlt. Auch im Oberkiefer fehlt der Klägerin lediglich exakt die Hälfte der normalerweise angelegten Zähne. Sinn und Zweck des Ausnahmetatbestandes rechtfertigen keine über den Wortlaut und das Wortverständnis hinausgehende Auslegung. Auch der Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen hat in seiner Stellungnahme vom 20.07.2000 die Ansicht vertreten, dass generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen das genetisch bedingte Fehlen der Mehrzahl der Zähne je Kiefer bedeute. Hierbei setzt der Normgeber in zulässig typisierender Weise voraus, dass bei genetisch bedingtem Fehlen der Mehrzahl der Zähne je Kiefer davon ausgegangen werden kann, dass für eine herkömmliche prothetische Versorgung keine realistische Möglichkeit mehr besteht, so dass dann auf Leistungen der Implantologie zurückgegriffen werden muss. Die von der Klägerin vertretene gegenteilige Auffassung führt dazu, dass eine praktikable Auslegung des Begriffs "generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen" kaum möglich wäre; die Entscheidung, ob beim Fehlen von 5, 6, 7 oder 8 Zähnen des Kiefers bereits eine generalisierte Nichtanlage von Zähnen anzunehmen ist, wäre kaum zu treffen. Deshalb spricht alles dafür, den Ausnahmetatbestand entsprechend seinem Wortsinn und der Wortbedeutung auszulegen.

Ist somit ein Ausnahmefall i.S.d. Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen hinsichtlich der implantologischen Versorgung im Unter- und Oberkiefer nicht gegeben, zählt auch der hierauf aufbauende Zahnersatz, die Suprakonstruktion nicht zum gesetzlichen Leistungsumfang der Krankenversicherung.

Ein Anspruch gemäß § 30 Abs. 1 Satz 5 SGB V und den auf dieser Grundlage ergangenen Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung mit Zahnersatz und Zahnkronen (Zahnersatzrichtlinien, Bundesanzeiger Nr. 58 vom 23.03.2001) besteht für die Klägerin ebenfalls nicht. Eine Ausnahmeindikation i.S. dieser Vorschriften liegt ebenfalls nicht vor, denn nach den Zahnersatzrichtlinien a.a.O. ist ein Ausnahmefall nur bei zahnbegrenzten Einzelzahnlücken sowie bei atrophiertem zahnlosem Kiefer gegeben; beide Ausnahmetatbestände sind bei der Klägerin jedoch nicht gegeben.

Der Ausschluss der Leistungspflicht für implantologische Leistungen einschließlich der Suprakonstruktion steht auch mit dem Grundgesetz in Einklang. Welche Behandlungsmaßnahmen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen und welche davon ausgenommen und damit der Eigenverantwortung des Versicherten (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V) zugeordnet werden, unterliegt aus verfassungsrechtlicher Sicht einem weiten gesetzgeberischen Ermessen, denn ein Gebot zu Sozialversicherungsleistungen in einem bestimmten Umfang lässt sich dem Grundgesetz nicht entnehmen (BSG a.a.O. m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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