L 5 KR 17/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 KR 51/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 17/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 3/02 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 15.12.2000 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 02.03.1999 und 16.11.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.06.2000 verurteilt, dem Kläger ein Therapie-Dreirad zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Versorgung des Klägers mit einem behinderten gerechten Dreirad (Therapie-Dreirad).

Der 1989 geborene Kläger ist bei der Beklagten familienversichert. Nach ehemaliger Frühgeburt mit Sauerstoffmangel liegt ein multiples Fehlbildungssyndrom vor, u.a. mit einer Fußfehlstellung links nach angeborenem Klumpfuß, einer Teillähmung der unteren Gliedmaße und einer Fehlbildung der linken Hand (Syndaktylie). Wegen einer durch eine Brille weitgehend ausgeglichenen Sehschwäche besucht er eine Sehbehindertenschule. Geistige Einschränkungen bestehen nicht mehr, eine zunächst noch vorliegende geistige Retardierung hat er aufgeholt.

Der Kläger beantragte im Februar 1999 die Prüfung, ob und in welcher Höhe die Beklagte die Kosten eines behindertengerechten Fahrrades übernehme. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 02.03.1999 eine Kostenbeteiligung ab, da ein Behindertenfahrrad nach den Heil- und Hilfsmittelrichtlinien einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens darstelle. Auf den Widerspruch des Klägers wies sie mit Schreiben vom 18.03.1999 darauf hin, ein Spastiker-Dreirad, das als Hilfsmittel in Betracht komme, sei nicht verordnet worden.

Am 04.10.1999 reichte der Kläger bei der Beklagten eine vertragsärztliche Verordnung für ein Dreirad mit Blinkanzeige, Zentralbremse und Gangschaltung sowie das Angebot eines Sanitätshauses für ein behindertengerechtes Dreirad einschließlich Zubehör (Kosten insgesamt 4.029,83 DM) ein. Zur Prüfung des Antrages holte die Beklagte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein. Dr. G ... führte in seinem Gutachten vom 05.11.1999 aus, nach den vorliegenden Gutachten zum Pflegebedarf könne der Kläger mittlere Wegstrecken bis zwei Kilometer unter Verwendung der vorhandenen Beinschienen selbständig bewältigen. Es sei möglich, dass er wegen der Funktionsstörungen der unteren Gliedmaße ein handelsübliches Fahrrad nicht benutzen könne. Das Dreirad sei angesichts der angebotenen Ausrüstung jedoch als Verkehrsmittel und Gebrauchsgegenstand gekennzeichnet, das Radfahren sei kein Grundbedürfnis menschlicher Existenz, für dessen Realisierung die gesetzliche Krankenversicherung zuständig sei. Das Radfahren bedeute auch keine wesentliche therapeutische Ergänzung zu der wöchentlich durchgeführten krankengymnastischen Behandlung.

Mit Bescheid vom 16.11.1998 und Widerspruchsbescheid vom 15.06.2000 lehnte die Beklagte den Antrag ab: Sie wies im Hinblick auf das Gutachten des MDK darauf hin, dass die Mobilität in ausreichendem Umfang gewährleistet sei.

Im Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen, bei dem beantragten Therapie-Dreirad handele es sich um ein Hilfsmittel. Soweit es ein Fahrrad als allgemeinen Gebrauchsgegenstand ersetze, sei er zu einer Eigenbeteiligung bereit. Die Sehschwäche werde durch angepasste Sehhilfen weitestgehend ausgeglichen, so dass er nach Anweisung das Fahrrad selbst führen könne. Das Radfahren stelle zumindest bei einem Kind, das gleichaltrigen Kindern beim Fahrrad fahren zusehen müsse, ein elementares Grundbedürfnis dar. Ferner komme es durch das Radfahren zu einem Muskelaufbau der unteren Gliedmaße.

Das Sozialgericht hat einen Bericht von der behandelnden Kinderärztin E ... eingeholt (Bericht vom 05.10.2000), die u.a. ausgeführt hat, wegen der Fehlbildung der linken Hand könne der Kläger ein zweirädriges Rad nicht führen. Nach seinem sonstigen geistigen und körperlichen Status sei er zur Teilnahme am Straßenverkehr befähigt.

Mit Urteil vom 15.12.2000 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Mobilität des Klägers sei sichergestellt, da die Einschränkung der Gehfähigkeit durch die vorhandenen Hilfsmittel ausgeglichen werde. Die Möglichkeit der schnelleren Fortbewegung mittels eines Fahrrades stelle kein elementares Grundbedürfnis dar.

Der Kläger hält im Berufungsverfahren an seinem Begehren fest.

Der Kläger stellt nach seinem Vorbringen den Antrag,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 15.12.2000 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 02.03.1999 und 16.11.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.06.2000 zu verurteilen, ihm ein Therapie-Dreirad zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, das Dreirad sei auch nicht wegen der Notwendigkeit der sozialen Integration in der Entwicklungsphase erforderlich. Da der Kläger unter Verwendung der vorhandenen Hilfsmittel gehen könne, bestehe nicht die Gefahr einer Isolation, denn er habe mehrfache Möglichkeiten, an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger teilzunehmen und mit ihnen zu spielen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn die Bescheide, mit denen die Beklagte die Gewährung eines Therapie-Dreirades abgelehnt hat, sind rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Versorgung mit einem behindertengerechten Dreirad.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch u.a. auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Die letztgenannten Ausschlussgründe liegen nicht vor. Ein Therapie-Dreirad ist nicht ein nach der gemäß § 34 Abs. 2 SGB V erlassenen Verordnung vom 13.12.1989 (BGBl. I, 2237) ausgeschlossenes Hilfsmittel. Ein Dreirad der hier benötigten Art ist, wie auch der eingereichte Kostenvoranschlag des Sanitätshauses zeigt, speziell für Bedürfnisse behinderter Personen konstruiert und wird auch ganz oder überwiegend von diesem Personenkreis benutzt, so dass es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelt (vgl. dazu BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 33). Unerheblich für den Leistungsanspruch ist, ob solche Dreiräder in dem nach § 128 SGB V erstellten Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt werden (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 27, 28).

Das Dreirad ist auch erforderlich, um die Behinderung des Klägers auszugleichen. Nach dem Gutachten des MDK und dem Bericht der Kinderärztin E ... steht fest, dass die Gehfähigkeit des Klägers eingeschränkt ist und er wegen der Behinderung der unteren Gliedmaße sowie der Fehlbildung der linken Hand ein handelsübliches zweirädriges Fahrrad nicht führen kann. Ein an die Behinderung des Klägers angepasstes Dreirad ist daher erforderlich, um ihm das selbständige Radfahren zu ermöglichen.

Soweit ein Hilfsmittel die ausgefallene oder beeinträchtigte Organfunktion nur mittelbar ersetzt, erstreckt sich die Leistungspflicht der Krankenkasse nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur auf solche Mittel, deren Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 32 mit Nachweisen zur Rechtsprechung). Die zu diesen Grundbedürfnissen zählende Mobilität zur Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums ist zwar bei dem Kläger sichergestellt. Dabei geht der Senat mangels gegen teiligen Vortrags des Klägers davon aus, dass die Feststellung des MDK, der Kläger könne mittlere Wegstrecken auch selbständig zu rücklegen, weiterhin zutrifft, obwohl er nach den Angaben seiner Eltern in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht zwischenzeitlich operiert worden und nicht mehr mit einer Allgöver-Schiene versorgt ist. Da es insoweit nur um den Basisausgleich im Sinne der Möglichkeit, kürzere Wegstrecken zurückzulegen, geht, ist eine ausreichende Mobilität des Klägers mit den vorhandenen Hilfsmitteln (in Aussicht stand eine Versorgung mit orthopädischen Schuhen und Stabilisatoren) gegeben.

Grundsätzlich zählt auch das Radfahren als solches nicht zu den von den Krankenkassen zu befriedigenden Grundbedürfnissen (BSG a.a.O.). In der Entscheidung vom 16.04.1998 hat jedoch der 3. Senat des BSG (SozR 3-2500 § 33 Nr. 27) bei Kindern und Jugendlichen ein über die Erschließung des körperlichen Freiraums hinausgehendes Grundbedürfnis in der Möglichkeit gesehen, zur Vermeidung einer drohenden Isolation am üblichen Leben ihrer Altersgruppe teilnehmen zu können. Bei Kindern und Jugendlichen zähle auch die Möglichkeit, zu spielen und allgemein an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen zu können, als Bestandteil der sozialen Lernprozesse zu den Grundbedürfnissen, weil davon in diesem Lebensabschnitt entscheidend abhänge, ob gesellschaftliche Kontakte aufgebaut und aufrechterhalten werden könnten. Das BSG hat daher in der genannten Entscheidung für einen auf einen Rollstuhl angewiesenen Jugendlichen einen Anspruch auf ein handbetriebenes Zuggerät bejaht, weil dem Jugendlichen dadurch Möglichkeiten eröffnet würden, die denjenigen nahekämen, die Jugendliche mit Hilfe eines Fahrrades realisieren könnten. In dem Urteil vom 16.09.1999 (SozR 3-2500 § 33 Nr. 31) hat es klargestellt, dass es um die Integration des Jugendlichen in den Kreis der laufenden und radfahrenden gleichaltrigen Jugendlichen gegangen sei. Somit haben nach dieser Rechtsprechung behinderte Kinder und Jugendliche, die kein handelsübliches Fahrrad führen können, Anspruch auf ein behindertengerechtes Rad, damit sie an der - nach den genannten Entscheidungen - üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen können.

Der Auffassung der Beklagten, ihre Leistungspflicht komme nur in Betracht, wenn ohne die Gewährung des Hilfsmittels dem Versicherten tatsächlich die soziale Isolierung drohe, kann sich der Senat nicht anschließen. Eine solche Einschränkung kann dem Urteil vom 16.04.1998 (a.a.O.) nicht entnommen werden. Zwar führt das BSG zu nächst aus, aufgrund der Behinderung könne der Jugendliche nicht oder nur stark eingeschränkt am üblichen Leben seiner Altersgruppe teilnehmen, wodurch ihm die soziale Isolation drohe. Es zählt dann aber uneingeschränkt generell die Möglichkeit, spielen bzw. allgemein an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen zu können, als Bestandteil des sozialen Lernprozesses zu den Grundbedürfnissen eines Kindes oder Jugendlichen. Die Tatsache, dass das BSG nicht erörtert, welche Kontaktmöglichkeiten für den Jugendlichen ohne das begehrte Hilfsmittel bestanden haben, zeigt deutlich, dass es nicht darauf ankommt, ob nur durch das Hilfsmittel einer Isolation entgegengewirkt werden kann. Eine solche Abgrenzung wäre im Übrigen praktisch nicht möglich, weil keine Maßstäbe dafür ersichtlich sind, welche Möglickeiten, an der Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen zu können, noch vorhanden sein müssten, um das Drohen einer Isolation zu verneinen. Wenn die Einbeziehung des behinderten Kindes in den Kreis der laufenden und fahrradfahrenden Gleichaltrigen wegen der sozialen Integration erforderlich ist, muss dem behinderten Kind unabhängig von seinen sonstigen Kontaktmöglichkeiten die Möglichkeit verschafft werden, mit anderen Kindern Rad fahren zu können.

Der Senat verkennt nicht, dass damit den Krankenkassen eine weitgehende Leistungspflicht auferlegt wird. Wenn man zu den von den Krankenversicherungsträgern zu befriedigenden Grundbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zählt, an den üblichen Aktivitäten ihrer Altersgruppe teilnehmen zu können, müssten gegebenenfalls auch motorgetriebene Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden, wenn mit Körperkraft betriebene Mittel nicht ausreichen. Ferner ist auch nicht klar, bis zu welchem Alter dieses Integrationsbedürfnis besteht. Bei einem zwölfjährigen Kind wie dem Kläger kann es allerdings unbedenklich bejaht werden.

Sonstige Gründe stehen dem Leistungsanspruch nicht entgegen. Soweit im Gutachten des MDK wegen der Sehschwäche Zweifel daran geäußert worden sind, ob der Kläger am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen kann, sind diese durch den Bericht der behandelnden Kinderärztin ausgeräumt worden. Sie bejaht uneingeschränkt, dass der Kläger nach seinen sonstigen geistigen und körperlichen Fähigkeiten in der Lage ist, mit dem Dreirad (nach Einweisung) sich im Verkehr zu bewegen.

Die Versorgung mit dem Therapie-Dreirad entspricht auch dem Gebot der Wirtschaftlichkeit (§ 12 Abs. 1 SGB V), denn es ist nicht ersichtlich, dass eine kostengünstigere Versorgungsmöglichkeit mit der nach der ärztlichen Verordnung erforderlichen Ausstattung besteht.

Der Senat konnte die Beklagte allgemein zur Versorgung mit einem Therapie-Dreirad ohne Konkretisierung des Gerätetyps verurteilen, da aus der ärztlichen Verordnung die Art des begehrten Mittels klar hervorgeht und daher davon auszugehen ist, dass die Parteien nicht über die Auswahl streiten werden. Ebenso kann offen bleiben, ob die Beklagte den Sachleistungsanspruch des Klägers dadurch erfüllt, dass sie das Dreirad übereignet oder leihweise zur Verfügung stellt. In beiden Fällen ist die Beklagte auch befugt, von dem Kläger wegen der Ersparnis der Anschaffung eines handelsüblichen Fahrrades einen Eigenanteil zu verlangen (vgl. zu alledem BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27). Einen Eigenanteil in der von der Beklagten bei Übereignung des Hilfsmittels üblicherweise verlangten Höhe hat der Kläger im Übrigen selbst angeboten. Der Senat hat jedoch davon abgesehen, diesen Eigenanteil in den Tenor aufzunehmen, weil die Beklagte auch die Möglichkeit hat, bei einer leihweisen Überlassung des Dreirades ein laufendes Nutzungsentgelt zu verlangen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen, weil er eine Klarstellung der höchstrichterlichen Rechtsprechung für erforderlich hält.
Rechtskraft
Aus
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