L 16 KR 3/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 29/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 KR 3/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11. November 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Versorgung des Klägers mit einem Bildschirmlesegerät mit Echtfarben.

Bei dem 1952 geborenen Kläger liegt eine hochgradige Sehbehinderung vor mit der Diagnose einer Retinopathia diabetica proliferans; das aktuelle Sehvermögen beträgt rechts 1/4, links 1/7,5 (augenärztliche Stellungnahme des behandelnden Augenarztes Dr. K ... vom 21.02.2003). Die Beklagte stattete den Kläger im September 1998 mit einem Schwarz-weiss-Bildschirmlesegerät des Typs Reader VG A II 17 Zoll aus. Am 17.07.2000 beantragte der Kläger die Versorgung mit einem Bildschirmlesegerät in Echtfarben unter Vorlage einer Verordnung des Augenarztes Dr. K ... vom 10.07.2000. Die Beklagte holte hierzu eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein. Dr. G ... erachtete in seiner Stellungnahme vom 20.07.2000 die Versorgung mit einem Schwarz-weiss-Gerät als ausreichend. Die beantragte Ausstattung übersteige das Maß des Notwendigen. Mit dieser Begründung lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag mit dem angefochtenen Bescheid vom 22.08.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.01.2001 ab.

Hiergegen hat der Kläger am 05.02.2001 Klage erhoben und vorgebracht, das vorhandende Bildschirmlesegerät ermögliche ihm nicht farbliche Unterscheidungen zu erkennen, was bei der Betrachtung von Fotos, Karten, Bildern und Prospekten häufig erforderlich werde. Es gehöre zu den elementaren Grundbedürfnissen eines Menschen, auch farblich gestaltete Unterlagen selbst nachvollziehen zu können. Er werde das vorhandene Schwarz-weiss-Gerät bei Anschaffung des jetzt beantragten Gerätes in Echtfarben zurückgeben und sei ausdrücklich bereit, laufend anfallende Kosten etwa für Reparaturen oder Ausstattungsgegenstände wie Glühbirnen usw. zu tragen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.08.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.01.2001 zu verurteilen, ihn mit einem Bildschirmlesegerät in Echtfarben zu versorgen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das vorhandene Schwarz-weiss-Gerät kompensiere zwar nur teilweise die ausgefallene Funktion des Sehens. Werde eine Organfunktion durch ein Hilfsmittel nicht für alle Lebensbereiche kompensiert, sei die Krankenversicherung nur leistungsverpflichtet, soweit der betreffende Lebensbereich zu den menschlichen Grundbedürfnissen zähle. Das Erkennen farblicher Prospekte und ähnlicher Unterlagen zähle jedoch nicht zu den elementaren Grundbedürfnissen.

Das Sozialgericht hat von dem behandelnden Augenarzt Dr. K ... einen Befundbericht vom 13.07.2001 eingeholt, auf den, ebenso wie die beigefügten zahlreichen Unterlagen des Zentrums für Augenheilkunde des Universitätsklinikums ..., verwiesen wird.

Mit Urteil vom 11. November 2002, auf das Bezug genommen wird, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.

Gegen dieses ihm am 13.12.2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 08.01.2003 Berufung eingelegt. Ein die Ausübung einer beeinträchtigten Körperfunktion unmittelbar ermöglichendes Hilfsmittel müsse die gestörte Funktion möglichst weitgehend kompensieren, also den umfassendsten Gebrauchsvorteil bieten. Der Informationsbedarf im täglichen Lebensbereich wachse ständig ebenso wie das Angebot zur Deckung dieses Bedarfs. Druckerzeugnisse würden zwischenzeitlich nahezu ausnahmslos farblich gestaltet. Bei Gebrauch des Schwarz-weiss-Gerätes erschienen die unterschiedlichen Farben für den Kläger als Grautöne, oft als Einheitsgrau. Neben den Texten stehende farbliche Gestaltungen, etwa in Form von Kurven bzw. Diagrammen, könne der Kläger nicht nachvollziehen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11. November 2002 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.08.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.01.2001 zu verurteilen, ihn mit einem Bildschirmlesegerät mit Echtfarben zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Der Senat hat mit Schreiben vom 18.02.2003 ergänzende Fragen an den behandelnden Augenarzt Dr. K ... gerichtet. Auf den Fragenkatalog und die augenärztliche Stellungnahme des Dr. K ... vom 21.02.2003 wird Bezug genommen.

Die Verwaltungsakte der Beklagten hat neben der Prozessakte vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten, der Gegenstand des Erörterungstermin vom 25.02.2003 gewesen ist, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann gemäss §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da sich beide Beteiligten zur Niederschrift in der nichtöffentlichen Sitzung am 25.02.2003 hiermit einverstanden erklärt haben.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Bildschirmlesegerät mit Echtfarben.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung müssen auch Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und sie dürfen das Maß des Notwendigen (Erforderlichen) nicht überschreiten; Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen, § 12 Abs. 1 SGB V (siehe BSG Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 4/02 R).

Ein Bildschirmlesegerät mit Echtfarben ist ein auf den Gebrauch durch Sehbehinderte zugeschnittenes Gerät und damit nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand ausgeschlossen. In Betracht zu ziehen ist vorliegend der letztgenannte Zweck des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V "Ausgleich einer Behinderung", wo nach nicht nur die Behinderung selbst, sondern auch sämtliche direkten und indirekten Folgen einer Behinderung auszugleichen sind. Diese in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V durch das Gesundheitsreform-Gesetz (GRG) vom 20.12.1988 (BGBl. I 4277) eingeführte Zweckbestimmung entspricht im Wesentlichen der vorausgegangenen Regelung des § 182 b Reichsversicherungsordnung (RVO). Bereits zu der Vorgängervorschrift des § 182 b RVO hatte das Bundessozialgericht (BSG) entschieden (BSGE 45, 133 = SozR 2200 § 182 b Nr. 4), dass der vom Gesetzgeber angestrebte Leistungsumfang nicht aus dem (zu weiten) Wortlaut der gesetzlichen Vorschrift abgelesen, sondern nur unter Berücksichtigung seiner Einbettung in das Gesamtsystem der sozialen Sicherheit bestimmt werden kann. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist auch nach dem GRG allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktion einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolg, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen kann, ist hingegen Aufgabe anderer sozialer Leistungssysteme. Mit der sozialen Rehabilitation Behinderter sind die soziale Entschädigung und die Sozialhilfe (Eingliederungshilfe) nach dem Bundessozialhilfegesetz beauftragt (BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 9/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr. 32 mit weiteren Nachweisen). Die Rechtsprechung zu § 182 b RVO und § 33 SGB V hat dies so konkretisiert, dass bei einem unmittelbar auf den Ausgleich der beeinträchtigten Organfunktion selbst gerichteten Hilfsmittel, insbesondere einem künstlichen Körperglied, ohne Weiteres anzunehmen ist, dass eine medizinische Rehabilitation vorliegt. Hingegen werden nur mittelbar oder nur teilweise die Organfunktion ersetzende Mittel lediglich dann als Hilfsmittel im Sinne der Krankenversicherung angesehen, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben (allgemein) zu beseitigen oder mildern und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betreffen (ständige Rechtsprechung, so zuletzt BSG, Urteil vom 06.08.1998 - B 3 KR 3/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nrn. 29; mit weiteren Nachweisen). Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu derartigen Grundbedürfnissen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Information, die Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (siehe BSG vom 16.09.1999, a.a.O., mit weiteren Nachweisen). Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist es, dem durch seine Krankheit oder Behinderung beeinträchtigten Menschen die eigenständige und unabhängige Erfüllung seiner vitalen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen (BSG, Urteil vom 06.08.1998, a.a.O., m.w.N.).

Auch zur Überzeugung des Senats ist eine Bildschirmlesegerät mit Echtfarben - für den bereits mit einem funktionsfähigen Bildschirmlesegerät schwarz-weiss ausgestatteten Kläger - kein zum Behinderungsausgleich "erforderliches Hilfsmittel" (§§ 2 Abs. 4, 12 Abs. 1, 33 Abs. 1 SGB V). Durch das vorhandene schwarz-weiss-Bildschirmlesegerät kann der Kläger jegliche Form gedruckter/ maschinenschriftlicher Texte lesen und wird hierdurch in die Lage versetzt, sich diejenigen Informationen zu beschaffen, die für die Persönlichkeitsentfaltung und Allgemeinbildung von elementarer Bedeutung sind. Da das vorhandene Gerät reines Schriftgut im schwarz-weiss-Modus gut darstellt, wie dies auch der behandelnde Augenarzt Dr. K ... in seiner Auskunft vom 29.02.2003 auf Nachfrage des Senats bestätigt hat, vermag der Kläger auch Briefe, Kontoauszüge, Rechnungen, Formulare, Beipackzettel und dergleichen eigenständig zu lesen. Damit ist auch derjenige Bereich des Grundbedürfnisses auf Information abgedeckt, der in einem engen Zusammenhang mit dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben einschließlich der Schaffung eines eigenen geistigen Freiraums und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben steht. Nach der Auskunft des Dr. K ... vom 21.02.2003 ist der Kläger fähig, weiss-grau-schwarz Abstufungen zu sehen, wie diese etwa auf schwarz-weiss-Fotografien vorhanden sind. Er ist folglich grundsätzlich in der Lage, Piktogramme und Schaubilder, die einen geschriebenen Text zur grafischen Darstellung beigegeben sind, nachzuvollziehen. Dass dabei hinsichtlich der Grauabstufungen ein eher verschwommener Bildeindruck entstehen kann, entwertet nicht den Informationsgehalt des Schrifttextes. Dies belegt gerade das vom Kläger vorgelegte Informationsblatt zu einer privaten Berufsunfähigkeitsrente: Selbst wenn in der darin enthaltenen Tortengrafik die einzelnen farblich abgetrennten Segmente nicht differenziert wahrgenommen werden können, entfällt damit lediglich die räumliche Darstellung; die Benennung der einzelnen Ursachen zur Berufsunfähigkeit und die prozentualen Angaben im Schrifttext bleiben erkennbar. Dass der Informationsgehalt farbiger Grafiken bei schwarz-weiss Darstellung nicht gänzlich entfällt, gilt ebenso für Baumdiagramme und Kurven. Dass bei einem Echtfarbengerät mit mehreren Millionen Farben ein brillianteres Bild erzeugt werden kann, wie dies Dr. K ... ausgeführt hat, bietet somit nur eine geringfügige Verbesserung und bedeutet nur einen geringfügigen Gebrauchsvorteil (vgl. BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 4/02 R). Ob die Benutzung eines Gerätes mit Echtfarben bei Bestellung aus Katalogen oder der Ansicht von Bildbänden von Vorteil wäre, spielt für die Entscheidung keine Rolle. Denn diese Bereiche zählen nicht zu den anerkannten Grundbedürfnissen, die von der Krankenversicherung durch entsprechende Hilfsmittel zu unterstützen sind. Daran ändert auch die gesetzliche Vorgabe in den §§ 1 und 2 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) nichts, wonach die weitgehende Unabhängigkeit behinderter Menschen von fremder Hilfe ein zentraler Aspekt der Hilfsmittelversorgung im Bereich des Behinderungsausgleichs ist. Denn die Rechtsprechung versteht das Grundbedürfnis nur iS eines Basisausgleichs und nicht iS eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden (BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved