L 3 RJ 91/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 (10) RJ 169/97
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 RJ 91/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 RJ 191/03 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 19. September 2001 abgeändert und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Vormerkung der Ersatzzeiten für die Zeit vom 01. Januar 1957 bis zum 31. Januar 1969 aufheben durfte.

Der im ... 1938 geborene Kläger stammt aus ..., Kreis ... im südlichen Teil Ostpreußens (Masuren), der heute zur Republik Polen gehört. Er ist Deutscher, lebt seit Februar 1969 in der Bundesrepublik Deutschland und ist anerkannter Vertriebener mit dem Vertriebenenausweis A.

Im Rahmen eines Kontenklärungsverfahrens gab er im Dezember 1972 an, von August 1952 bis zum 14. Februar 1969 in ... als Landwirt auf dem elterlichen Hof gearbeitet zu haben. Als Gegenleistung habe er keinen Lohn erhalten; Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung seien nicht entrichtet worden. Ab 1952 habe er sich um die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bemüht. Mit Bescheid vom 02. Mai 1974 merkte die Beklagte daraufhin den Zeitraum vom 01. August 1952 bis zum 31. Januar 1969 als Ersatzzeit "wegen Rückkehrverhinderung" vor und bestätigte dies in einem weiteren Vormerkungsbescheid vom 13. August 1987.

Mit Bescheid vom 30. Oktober 1996 stellte die Beklagte nach Anhörung des Klägers alle im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten bis zum 31. Dezember 1989 verbindlich fest, ließ dabei aber die Zeit vom 01. Januar 1957 bis zum 31. Januar 1969 unberücksichtigt.

Hiergegen erhob der Kläger am 26. November 1996 Widerspruch und führte zur Begründung aus, die Zeit von Januar 1957 bis Januar 1969 sei bereits mit Bescheid vom 13. August 1987 verbindlich festgestellt worden. Er habe sich in Polen zum Deutschtum bekannt, intensiv um Ausreise bemüht und deshalb weder einen Ausbildungsplatz noch eine Arbeitsstelle erhalten. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, habe er "notgedrungen" familienhafte Hilfstätigkeiten auf dem elterlichen Hof verrichten müssen. Indem die Beklagte die anerkannten Ersatzzeiten streiche, setze sie die Benachteiligungen fort, die er in Polen erlitten habe.

Während des Widerspruchverfahrens hob die Beklagte den Vormer- kungsbescheid vom 13. August 1987 durch Feststellungsbescheid vom 14. Januar 1997 auf. Außerdem lehnte sie die Zeit vom 01. Januar 1957 bis zum 31. Januar 1969 mit Bescheid vom 12. März 1997 ausdrücklich als Ersatzzeit ab, "weil eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausgeübt" worden sei bzw. "die Nichtausübung ihre Ursache nicht ausschließlich in einer Internierung, einem Festgehaltenwerden, der Rückkehrverhinderung oder einem Gewahrsam" gehabt habe.

Schließlich wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. April 1997 zurück, weil sich die rechtlichen Verhältnisse durch das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz ab dem 01. Juli 1993 wesentlich geändert hätten. Seit diesem Stichtag könnten Ersatzzeiten nach dem 31. Dezember 1956 nur noch angerechnet werden, wenn der Versicherte aufgrund einer Verschleppung, Internierung, Rückkehrverhinderung oder eines Gewahrsams gehindert gewesen sei, eine Beschäftigung oder Tätigkeit auszuüben. Im streitigen Zeitraum habe der Kläger auf dem elterlichen Hof als mithelfendes Familienmitglied gearbeitet und sei schon deshalb nicht durch die polnischen Behörden gehindert worden, eine abhängige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit aufzunehmen. Außerdem sei er nicht durch "feindliche Maßnahmen" in Polen festgehalten oder an der Rückkehr aus Polen gehindert worden. Denn die polnischen Behörden hätten ihm die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit, sondern aufgrund eines allgemeinen Ausreiseverbots verweigert.

Dagegen hat der Kläger am 22. Mai 1997 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Detmold erhoben und vorgetragen, auf dem elterlichen Hof in Peitschendorf keinesfalls als abhängig Beschäftigter, sondern nur im Rahmen familienhafter Mithilfe tätig geworden zu sein. Als Gegenleistung habe er Kost und Logis sowie "ein wenig Taschengeld" erhalten. Aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Situation habe er mit seinen Eltern nur eine kleine landwirtschaftliche Fläche bewirtschaften können, die gerade ausgereicht habe, um das Überleben der Familie zu sichern. Da auf dem elterlichen Hof kaum Arbeit angefallen sei, habe er sich bemüht, ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis aufzunehmen, was aber an seinem Bekenntnis zum Deutschtum, den ständigen Ausreiseanträgen und seiner Weigerung, für Polen zu optieren, gescheitert sei.

Zu den historischen Zusammenhängen und der Tätigkeit des Klägers auf dem elterlichen Hof hat das SG die Lehrerin ..., den selbständigen Kaufmann ... sowie den ehemaligen Amtsdirektor der Gemeinde ... und späteren Mitarbeiter im Lastenausgleichsamt der Kreisverwaltung ... uneidlich als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschriften vom 23. Februar 2000 (Bl. 66 bis 68 der Gerichtsakte) und vom 31. Januar 2001 (Bl. 93 bis 96 der Gerichtsakte) Bezug genommen.

Mit Urteil vom 19. September 2001 hat das SG der Klage statt- gegeben und die Bescheide vom 30. Oktober 1996 sowie vom 14. Januar 1997 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 23. April 1997 aufgehoben: Im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der "feindlichen Maßnahme" liege keine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen vor, weil der Gesetzgeber diese Formulierung in der gesetzlichen Neufassung bedeutungsgleich weiterverwende. Der Ursachenzusammenhang zwischen der feindlichen Maßnahme und der Beschäftigungslosigkeit, den der Gesetzgeber seit dem 01. Juli 1993 zusätzlich fordere, sei ebenfalls gegeben. Der Kläger sei nämlich beschäftigungslos gewesen, weil seine Mitarbeit auf dem elterlichen Hof keinen wirtschaftlichen Wert gehabt und ausschließlich einer familiären Anstandspflicht entsprochen habe. Seine Beschäftigungslosigkeit beruhe darauf, dass die polnischen Behörden auf seine Ausreiseanträge mit einem (faktischen) Einstellungsverbot reagiert hätten.

Nach Zustellung am 16. Oktober 2001 hat die Beklagte gegen diese Entscheidung am 08. November 2001 Berufung eingelegt: Ihr sei "aus zahlreichen anderen Fällen" bekannt, dass nicht alle Ausreisewilligen ihren Arbeitsplatz verloren hätten, nachdem sie Ausreiseanträge gestellt hatten. Unklar sei ferner, ob die Einstellung deutscher Arbeitnehmer stets an behördliche Genehmigungen geknüpft gewesen sei oder woher jeder Betrieb sonst von der Stellung eines Ausreiseantrags gewusst habe. Deswegen müssten weitere Zeugen vernommen oder geschichtswissenschaftliche Gutachten des Osteuropa-Instituts bzw. des Deutschen Roten Kreuzes eingeholt werden. Außerdem sei zweifelhaft, ob die Reaktion der polnischen Behörden auf die Ausreiseanträge des Klägers die alleinige Ursache für die Nichtausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit gewesen sei. Möglicherweise habe der Kläger in seiner Heimatregion aus wirtschaftlichen Gründen keine Arbeit gefunden oder den elterlichen Hof - nach der Erkrankung seines Vaters - allein bewirtschaftet.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 19. September 2001 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass er unter normalen Umständen in seiner Heimatgemeinde ohne weiteres eine Arbeitsstelle gefunden hätte. In den 12 Jahren, in denen er in Polen festgehalten worden sei, habe er sich mündlich bei zwei Arbeitgebern in Nachbargemeinden erfolglos beworben. Grund für die Ablehnung der Bewerbungen seien seine Ausreiseanträge gewesen. Ausreiseantragsteller hätten ihre Arbeitsstelle nur behalten, wenn sie ausnahmsweise unabkömmlich gewesen seien oder besondere Beziehungen gehabt hätten.

Zum historischen Hintergrund hat der Senat zunächst Stellungnahmen des Historikers ... vom Osteuropa-Institut in München vom 19. Juni und 16. August 2002 beigezogen, auf die verwiesen wird (Bl. 172 bis 173 und 177 bis 178 der Gerichtsakte). Außerdem hat der Senat eine weitere geschichtswissenschaftliche Stellungnahme des Historikers ..., Direktor des Herder-Instituts Marburg vom 24. März 2003 eingeholt, wonach der Kläger in der Zeit nach 1956 trotz der Ausreiseanträge und seines "Deutschtums" nicht gehindert gewesen sei, eine abhängige oder selbständige Beschäftigung aufzunehmen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte (Versicherungsnummer: 11 140538 K 101) Bezug genommen. Beide Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet.

Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Denn die Aufhebungsbescheide vom 30. Oktober 1996, 14. Januar 1997 und 12. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 23. April 1997 sind rechtmäßig. Die Beklagte war nämlich nach § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) berechtigt und verpflichtet, ihren Vormerkungsbescheid vom 13. August 1987 für die Zukunft aufzuheben, weil in den rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses Dauerverwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Um festzustellen, ob sich die rechtlichen Verhältnisse geändert haben, ist zunächst die Rechtslage bei Erlass des Ursprungsver- waltungsaktes mit der Rechtslage bei Erlass des Aufhebungsbe- scheids (in der Gestalt des Widerspruchbescheids) zu vergleichen (Wiesner in: von Wulffen, SGB X, 4. Aufl. 2001, § 48 Rn. 7). Liegt eine Änderung vor, so ist sie "wesentlich", wenn die Behörde den Ursprungsverwaltungsakt unter den rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Widerspruchbescheids vorgelegen haben, nicht mehr hätte erlassen dürfen (BSG, Urteil vom 19. Februar 1986, Az.: 7 Rar 55/84, SozR 1300 § 48 Nr. 22; Niesel in: Kasseler Kommentar, Stand: Mai 2002, § 48 Rn. 13).

Als die Beklagte den Vormerkungsbescheid vom 13. August 1987 erließ, der den alten Vormerkungsbescheid vom 02. Mai 1974 ersetzte, richtete sich die Anrechnung von Ersatzzeiten noch nach § 1251 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Gemäß Abs. 1 Nr. 3 dieser Vorschrift wurden als Ersatzzeiten alle Zeiten angerechnet, in denen Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten worden sind. Aufgrund dieser Bestimmung hat die Beklagte den Ersatzzeitentatbestand der "Rückkehrverhinderung" vorgemerkt. Dies war nicht ganz korrekt, weil der Kläger aus den ehemals deutschen Ostgebieten stammte und schon deshalb eine "Rückkehr" in das Bundesgebiet ausschied. Dieser Fehler wirkte sich aber nicht aus, da der Kläger wegen des Ausreiseverbots die Tatbestandsalternative des "Festgehaltenwerdens" erfüllte. Er war auch beschäftigunglos, weil er weder eine abhängige Beschäftigung noch eine selbständige Tätigkeit ausübte. Auf dem kleinen Bauernhof der Eltern arbeitete er nicht als abhängig Beschäftigter, sondern lediglich im Rahmen familienhafter Mithilfe, wie das SG überzeugend dargelegt hat. Dafür sprechen die Eigenangaben des Klägers und die glaubhaften Ausführungen des glaubwürdigen Zeugen ... Folglich hatte die Beklagte die streitigen Zeiten mit Bescheid vom 13. August 1987 im Einklang mit der damaligen Rechtslage zutreffend als Ersatzzeiten vorgemerkt.

Mit Art. 1 des Rentenreformgesetzes (RRG) 1992 ersetzte der Gesetzgeber § 1251 Abs. 1 RVO durch § 250 Abs. 1 SGB VI, ohne die Rechtslage zu ändern, wie aus der amtlichen Begründung zu Art. 1 RRG § 245 (BT-Drs. 11/4124) zweifelsfrei hervorgeht: "Absatz 1 entspricht dem geltenden Recht, wobei jedoch der Erwerb von Ersatzzeiten nach dem 31. Dezember 1991 nunmehr ausgeschlossen sein wird." Deshalb ist der Begriff der "feindlichen Maßnahme" in § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO und § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI identisch auszulegen. Folglich führte das RRG 1992 zu keiner Änderung in den rechtlichen Verhältnissen, wie das SG zutreffend ausgeführt hat.

Erst durch Art. 1 des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes vom 24. Juni 1993 (BGBl. I, 1038, Rü-ErgG) änderten sich die rechtlichen Verhältnisse. Denn mit dem Rü-ErgG fügte der Gesetzgeber in § 250 Abs. 2 SGB VI mit Wirkung ab dem 01. Juli 1993 (Art. 18 Abs. 1 Rü-ErgG) folgende Nr. 3 ein: "Ersatzzeiten sind nicht Zeiten, in denen nach dem 31. Dezember 1956 die Voraussetzungen nach Absatz 1 Nr. 2, 3 und 5 vorliegen und Versicherte eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit auch aus anderen als den dort genannten Gründen nicht ausgeübt haben." Mit dieser Neuregelung wollte der Gesetzgeber die Anrechnung von Ersatzzeiten nach Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 5 auf ihr ursprüngliches Regelungsziel zurückführen. Ersatzzeiten sollen nämlich nur solche Zeiten ersetzen, in denen der Versicherte aus Gründen, die nicht in seiner Person lagen, daran gehindert war, Beiträge zu zahlen. Von dieser Zielsetzung hatte sich die Rechtspraxis entfernt, weil sie mit Ersatzzeiten zunehmend auch solche Lücken im Versicherungsverlauf schloss, die nicht durch Ersatzzeittatbestände sondern aus anderen Gründen (z.B.: Rentenbezug, Kindererziehung, Hausfrauentätigkeit) entstanden waren. Mit der Neuregelung sollte diese Entwicklung aufgehalten werden (Beschluss- empfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum Rü-ErgG, BT-Drs. 12/5017). Folglich liegt eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen vor (LSG Bremen, Urteil vom 28. Januar 1999, Az.: L 2 RA 21/98; Dürr, Mitteilungen LVA Württemberg 1994, 130, 133; Mitteilungen LVA Oberfranken und Mittelfranken 1994, 47, 48).

Diese Änderung in den rechtlichen Verhältnissen war wesentlich, weil die Beklagte den Vormerkungsbescheid vom 13. August 1987 nach Inkrafttreten der Neuregelung nicht mehr hätte erlassen dürfen. Denn der Ursachenzusammenhang zwischen dem Ersatzzeitentatbestand und der Beschäftigungslosigkeit, den § 250 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI seit dem 01. Juli 1993 zusätzlich fordert (Niesel in: Kasseler Kommentar, § 250 SGB VI Rn. 113), liegt nicht vor. Zwischen dem (bloßen) Ausreiseverbot (bei sonst erhalten gebliebener Bewegungsfreiheit in der Volksrepublik Polen) und der Beschäftigungslosigkeit lässt sich keine Kausalität herstellen. Denn eine abhängige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ist auch bei bestehendem Ausreiseverbot möglich, was der Kläger letztlich auch nicht bestreitet. Er behauptet vielmehr, dass seine Beschäftigungslosigkeit auf seinem Bekenntnis zum Deutschtum, den Ausreiseanträgen und seiner Weigerung beruhte, für Polen zu optieren. Dabei handelte es sich aber um "andere Gründe" iSd. § 250 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI als denen, die in Abs. 1 Nr. 3 der Vorschrift genannt sind (nämlich die "Rückkehrverhinderung" und das "Festgehaltenwerden").

Ließe man dagegen zugunsten des Klägers genügen, dass die Reaktion der polnischen Behörden auf seine Ausreiseanträge (Einstellungsverbot als flankierende "Festhaltemaßnahme") ursächlich für dessen Beschäftigungslosigkeit war, so käme es darauf an, ob das (angebliche) Einstellungsverbot in der gesamten Volksrepublik Polen für jede (denkbare) Berufstätigkeit galt. Dabei wäre zu Lasten des Klägers die widerlegbare Vermutung (BSG, Urteil vom 09. September 1998, Az. B 13 RJ 63/97 R) des § 250 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI zu berücksichtigen, wonach ab dem 01. Januar 1957 auch andere als die in § 250 Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 5 SGB VI genannten Gründe für die Nichtausübung einer Beschäftigung maßgebend waren (Zweng/Scheerer/ Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, § 250 SGB VI Rn. 179; Hauck/Haines/ Klattenhoff, § 250 SGB VI Rn. 304). Diese Vermutung hat der Kläger nicht widerlegt. Insbesondere kann aus lediglich zwei erfolglosen Bewerbungen "in Nachbarorten" innerhalb eines Zeitraums von 12 Jahren keinesfalls auf ein absolutes Beschäftigungsverbot geschlossen werden.

Gegen das Bestehen eines solchen Verbots sprechen zudem die historischen Unterlagen der Beklagten, aus denen allgemein her- vorgeht, dass ein Ausreiseantrag nicht automatisch zum Verlust des Arbeitsplatzes oder zur Beendigung einer selbständigen Tätigkeit führte sowie die Tatsache, dass der Vater des Klägers selbständiger Landwirt war und nebenbei - in geduldeter Schwarzarbeit - Pumpen reparierte, obwohl er kontinuierlich Ausreiseanträge gestellt hatte. Auch der Zeuge ... konnte - nach seiner ausreisebedingten Entlassung - immerhin Arbeitsstellen als Einkäufer in einem Erholungsheim und einer Spar- und Darlehnskasse finden, während der Zeuge ... nach seiner ausreiseantragsbedingten Entlassung als selbständiger Taxifahrer arbeiten konnte. Gegen die Existenz eines absolutes Beschäftigungsverbots sprechen ferner die Stellungnahme des Osteuropa-Instituts vom 16. August 2002, wonach Ausreiseantragstellern der Zugang zum Arbeitsmarkt weder rechtlich noch praktisch verwehrt war, und die Stellungnahme des Herder-Instituts vom 24. März 2003, wonach der Kläger trotz seiner Ausreiseanträge und seines "Deutschtums" nicht gehindert war, eine abhängige Beschäftigung aufzunehmen. Hiervon ist schließlich auch der Gesetzgeber ausgegangen, als er die (neue) Nr. 3 in § 250 Abs. 2 SGB VI einfügte (vgl. Erwes, SGb 1994, 256, 259 und 261) und damit die Tatbestandsvoraussetzungen verschärfte.

Die spezielle Aufhebungsnorm des § 149 Abs. 5 Satz 2, 2. Halbsatz SGB VI schließt die allgemeine Aufhebungsvorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X keinesfalls aus. Denn § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI ist erst durch Art. 5 des Ersten SGB III-Änderungsgesetzes vom 16. Dezember 1997 (BGBl. I, Seite 2970) mit Wirkung zum 01. Januar 1998 eingefügt worden und damit zu einem Zeitpunkt, als sämtliche Aufhebungsbescheide und der Widerspruchsbescheid vom 23. April 1997 bereits erlassen waren. Deshalb hatte der Senat die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide an § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu messen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 54 Rn. 54).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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