L 7 V 22/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 10 V 148/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 V 22/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 03.03.2003 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an dieses Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Waisenteilversorung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die 1944 geborene, in Polen wohnhafte Klägerin, stellte im Februar 2000 einen Antrag auf Waisenteilversorgung. Sie wies darauf hin, dass ihr Vater, K I, von Dezember 1943 bis Juli 1944 Soldat der Deutschen Wehrmacht gewesen und an der Ostfront bei Lublin im Juli 1944 verschollen und vom Amtsgericht Thorn für tot erklärt worden sei. Sie selbst sei seit 1994 wegen depressiver Störungen mit Angstkomponenten durchgehend in psychiatrischer Behandlung. Die polnische Sozialversicherungsanstalt, ZUS, teilte auf Nachfrage des Beklagten mit, dass die Klägerin von März bis Dezember 1971, von Mai bis Dezember 1972 sowie von Januar bis April 1973 als Korbflechterin in Heimarbeit beim Q Korbmacherbetrieb "X" beschäftigt war. Darüber hinaus legte die ZUS ärztliche Unterlagen und Gutachten von Februar 1984, September 1994, Dezember 1996, Februar und März 1998 und April 2000 vor, aus denen sich u. a. ergibt, dass die Klägerin 1984 keine Rente bezogen hat. Darüber hinaus listete die ZUS auf, ob und welche Rentenleistungen die Klägerin seit Mai 1994 erhalten hat.

Mit Bescheid vom 06.02.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2002 lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Waisenversorgung als Teilversorgung mit der Begründung ab, die Klägerin sei nicht infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen spätestens bei Vollendung des 27. Lebensjahres außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Aus den Unterlagen der polnischen Rentenversicherung gehe hervor, dass die Klägerin bei Vollendung des 27. Lebensjahres im Juli 1971 als Korbflechterin gegen Entgelt beschäftigt gewesen sei. Aus den vorliegenden ärztlichen Gutachten ergebe sich, dass die Klägerin 1984 der III. Invalidengruppe zugeordnet worden und erst seit dem Tod des Sohnes im Jahr 1979 in psychiatrischer Behandlung sei. Daraus folge, dass die Klägerin bei Vollendung des 27. Lebensjahres berufstätig und nicht gebrechlich gewesen sei.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 31.10.2002 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Münster erhoben und beantragt, ihr Waisenteilversorgung zu gewähren. Sie hat geltend gemacht, sie sei nach der Schilderung ihrer Schwester seit der Kindheit psychisch krank gewesen und habe deshalb abwechselnd bei der Großmutter und der Schwester U N gewohnt. Zudem sei sie nach Vollendung des 18. Lebensjahres gezwungen gewesen, eine Arbeit aufzunehmen. Der erzielte Lohn sei äußerst gering gewesen. Die Behauptung des Beklagten, sie sei 1971 gesund gewesen, da sie gearbeitet habe, entspreche nicht den Tatsachen. Sie sei nicht in der Lage gewesen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Abschließend hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass ihr die gesetzlichen Regelungen nicht bekannt seien und sie deswegen beantrage, "einen vom Gericht bestellten Verteidiger" zu ihrer Angelegenheit einzusetzen.

Die Anfrage des SG, ob der Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Rentner Deutschlands, Landesverband Nordrhein-Westfalen e. V. (VdK) bereit sei, die Klägerin zu vertreten, verneinte der VdK. Das SG übersandte den Schriftsatz des VdK zur eventuellen Stellungnahme, woraufhin die Klägerin mitteilte, dass sie ihre Ansprüche aufrecht erhalte. Unter dem 22.01.2003 hat das SG die Klägerin wie folgt angeschrieben:

" ...in Ihrer Streitsache ist beabsichtigt, durch Gerichtsbescheid - ohne mündliche Verhandlung und ohne ehrenamtliche Richter - zu entscheiden. Zu dieser Verfahrensweise können Sie sich bis zum 28.02.2003 (Eingang hier) äußern."

Daraufhin teilte die Klägerin mit, dass sie mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden ist und bat gleichzeitig darum, sich mit "ihren Argumenten vorher - wenn es möglich ist - mit einem zuständigen Vertreter eines Kriegsopferverbandes in der Bundesrepublik beraten zu wollen".

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 03.03.2003 abgewiesen. Das SG hat den Anspruch auf Gewährung einer Waisenteilversorgung unter Hinweis auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide (§ 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG - analog) verneint. Ergänzend hat das SG betont, dass die Beteiligten auf die Möglichkeit der Entscheidung durch Gerichtsbescheid hingewiesen worden sind.

Gegen den am 02.04.2003 zugestellten Gerichtsbescheid ist die Berufung der Klägerin vom 20.06.2003 gerichtet. Sie verfolgt ihr Begehren weiter und betont, dass "ihre Bitten um Beratung durch einen zuständigen Vertreter eines Deutschen Kriegsopferverbandes bzw. Beteiligung eines vom Gericht bestellten Verteidigers ohne Antwort geblieben seien".

Die Klägerin beantragt ihrem schriftsätzlichen Vorbringen nach,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 03.03.2003 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Münster zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise die Streitsache an das Sozialgericht Münster zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.

Er hält die Entscheidung für sachlich zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten vorbereitenden Schriftsätze, den übrigen Akteninhalt sowie auf die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte in der Sache entscheiden, obwohl die Klägerin im Termin nicht anwesend war, da sie auf diese Möglichkeit in der Ladung hingewiesen wurde.

Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.

Der Gerichtsbescheid leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln, so dass der Senat von der nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG eingeräumten Möglichkeit der Zurückverweisung Gebrauch gemacht hat.

Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Der Verfahrensmangel kann das sozialgerichtliche Verfahren selbst, aber auch die Entscheidung selbst betreffen (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Auflage, § 159 RZ. 3).

Diese Voraussetzungen liegen vor. Es liegt ein Verfahrensmangel in Form eines Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dadurch vor, dass über den Antrag auf Beiordnung eines besonderen Vertreters und Bewilligung von PKH nicht entschieden wurde. Die Klägerin hat dies im Berufungsverfahren zutreffend gerügt. Die Klägerin hat nach Hinweis des SG, dass eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid beabsichtigt ist, abermals darauf hingewiesen, dass ihr die Beteiligung eines Kriegsopferverbandes vor einer Entscheidung des Gerichts wichtig ist. Sie hat auch in Kenntnis des Schreibens des VdK mitgeteilt, dass sie ihren Anspruch weiter aufrecht erhält. Zu den Pflichten des SG gehört es, über den Antrag der Klägerin zu entscheiden. Im Falle der Klägerin hat das SG diese Entscheidung unterlassen, ohne dass Gründe erkennbar sind, die dies rechtfertigen. Das widerspricht einer am Rechtsstaatsprinzip orientierten Verfahrensführung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gehört der Anspruch auf eine "faire" Verfahrensführung zu den wesentlichen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, wie es in Artikel 20 Abs. 3 GG verankert ist (BVerfGE 51, 150, 156 ; 60, 175, 215 m.w.N.; - BSG, Urteil vom 05.02.1987 - 5b RJ 26/86 -; Urteil vom 17.02.1998 - B 13 RJ 83/97 R). Das Prozessrecht der Sozialgerichtsbarkeit sieht in § 73a SGG in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO die Möglichkeit der Prozesskostenhilfe vor, um jedem Bürger ein gewisses Maß an Chancengleichheit bei der Wahrnehmung seiner Interessen vor Gericht zu gewährleisten. Zu den Pflichten des Gerichts gehört es dabei, über den Antrag zu entscheiden. Darüber hinaus ist zudem der Anspruch auf rechtliches Gehör, der auf dem Rechtsstaatsprinzip basiert, verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG). Die Beteiligten können sich in jeder Lage des Verfahrens durch prozessfähige Bevollmächtigte vertreten lassen. Aus § 73 in Verbindung mit § 62 SGG folgt, dass demjenigen, der die Kosten einer anwaltlichen Prozessvertretung nicht aufbringen kann, eine sachgerechte Prozessführung mit rechtskundigem Beistand ermöglicht werden soll, sofern dies geboten ist. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht darauf beschränkt, dass sich der Beteiligte irgendwie äußern kann, es muss gegebenenfalls auch rechtskundiges Gehör gewährleistet sein. Für denjenigen, der Prozesskostenhilfe beanspruchen kann, ist somit der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt, wenn das Gericht über seinen entsprechenden Antrag nicht entscheidet. Erst wenn das geschehen ist, vermag er sich auf eine sachgerechte Prozessführung einzurichten. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe waren bei der Klägerin gegeben. Darüber hinaus konnte Prozesskostenhilfe nur gewährt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bot. Diese Erfolgsaussicht ist nach summarischer Prüfung gegeben. Das SG hätte sich gedrängt fühlen müssen, die Schwester der Klägerin, Frau U N, als Zeugin zu vernehmen, und hätte zudem nachprüfen müssen, inwiefern der aus der Heimarbeit als Korbflechterin erzielte Lohn ausreichend war, die Klägerin zu unterhalten.

Das SG hat abermals gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen, weil die durchgeführte Anhörung nicht den Anforderungen des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG genügt. Es genügt nach Auffassung des Senates nicht, den Beteiligten eine formularmäßige Mitteilung ohne Bezug auf den Einzelfall zukommen zu lassen. Erforderlich sind vielmehr zumindest kurze und fallbezogene Hinweise (LSG NW, Urteile vom 12.06.2003 - L 7 SB 15/03 -, vom 17.07.2003 - L 7 SB 39/03 -, vom 17.09.1993 - L 4 J 109/93 -, vom 14.09.1995 - L 2 Kn 69/95 -, vom 21.11.2001 - L 10 P 41/99 - und vom 26.10.1998 - L 4 RJ 167/98 -). Die Ansicht des Senates stützt sich darauf, dass es Sinn und Zweck der Anhörungsmitteilung ist, die Beteiligten in die Lage zu versetzen, sachgerechte Einwendungen zu erheben. Denn unabhängig vom konkreten Inhalt des Anhörungsschreibens erfüllt die Anhörung zudem auch den Zweck, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, Gründe für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorzubringen und Beweisanträge zu stellen (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 105 RZ 10a). Diesen Anforderungen wird das Anhörungsschreiben des SG vom 22.01.2003 in keiner Weise gerecht. Das SG hat nur unter Verwendung eines Vordruckes auf die Entscheidung durch Gerichtsbescheid hingewiesen, darüber hinaus aber keinerlei inhaltlichen und auf den Anspruch auf Waisenteilversorgung ausgerichteten Hinweise gegeben.

Des Weiteren hat das SG gegen die Vorschriften der § 136 Abs. 1 Nr. 6, 202 SGG in Verbindung mit § 313 Abs. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) verstoßen. Der Gerichtsbescheid muss ebenso wie das Urteil (§ 136 Abs. 1 Nr.6 SGG) Entscheidungsgründe enthalten. Sinn der Entscheidungsgründe ist es, für jede ausgesprochene Rechtsfolge eine lückenlose, widerspruchsfreie und verständliche Begründung zu geben, die es den Beteiligten, den Rechtsmittelgerichten und der Öffentlichkeit ermöglicht, die Entscheidungsfindung des Gerichts zu überprüfen. Auch im Gerichtsbescheid ist darzulegen, inwieweit die entscheidungserheblichen Tatbestandsmerkmale vorliegen.

Wesentlicher Teil der Entscheidungsgründe ist die Beweiswürdigung. Ein grober Verfahrensfehler liegt vor, wenn eine Beweiswürdigung völlig fehlt (BGHZ 39, 333, 337 -. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 136 RZ 7 f.) oder wenn den Entscheidungsgründen nicht zu entnehmen ist, aufgrund welcher Tatsachen und Erwägungen das Gericht zu seinen Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Folgerungen gekommen ist (BGH, Urteil vom 07.03.2001 - X ZR 176/99 -. BFHE 86, 219 -. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 136 RZ 7f). Das SG muss zwar nicht die einzelnen Schritte der vorgenommenen Prüfung und Würdigung in der Entscheidung in allen Einzelheiten, jedoch die tragenden Gründe nachvollziehbar darlegen. Zum Inhalt des Gerichtsbescheides gehören außerdem Ausführungen dazu, weshalb das Gericht von dieser Entscheidungsform Gebrauch gemacht hat. Insbesondere muss begründet werden, dass die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG vorliegen (Peters-Sautter-Wolff, a.a.O., § 105 RZ 48).

Daran fehlt es. Die Gründe des Gerichtsbescheides enthalten keine Ausführungen dazu, weshalb sich das SG ermächtigt sah, eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid herbeizuführen. Die Formulierung, dass "die Beteiligten auf die Möglichkeit eines Gerichtsbescheides hingewiesen worden sind", reicht als Begründung nicht aus. Ferner lassen die Entscheidungsgründe eine ordnungsgemäße Auseinandersetzung mit dem Sachvortrag der Klägerin im Klageverfahren sowie eine ausreichende Beweiswürdigung nicht erkennen. Im vorliegenden Fall war es nicht ausreichend, insoweit auf die Begründung in den Bescheiden des Beklagten zu verweisen. Die Klägerin hat nämlich im Klageverfahren eindringlich und zusätzlich darauf hingewiesen, dass sie seit ihrer Kindheit physisch und psychisch krank gewesen sei und deshalb abwechselnd bei der Großmutter und der älteren Schwester gelebt habe. Insoweit fehlen Ausführungen des SG dazu, warum eine Nachfrage bei der Schwester der Klägerin, U N, unterblieben ist. Zusätzlich hat sich das SG nicht mit der Argumentation der Klägerin auseinandergesetzt, das aus ihrer Tätigkeit als Korbflechterin erzielte Einkommen habe sie nicht in die Lage versetzt, sich selbst zu unterhalten.

Die angefochtene Entscheidung kann auch auf den Verfahrensmängeln beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das SG nach der Gewährung des rechtlichen Gehörs und Durchführung der weiteren Ermittlungen eine andere Entscheidung getroffen hätte.

Die gemäß § 159 Abs. 1 SGG im Ermessen des Senats stehende Zurückverweisung erscheint angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens, der Schwere der Verfahrensfehler sowie zur Erhaltung einer zweiten Tatsacheninstanz geboten.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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