L 7 SB 73/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 13 (14) SB 47/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 SB 73/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 10. März 2003 wird zurückgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG).

Der Beklagte stellte bei der im Jahre 1947 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 14.12.1998 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest.

Im Oktober 1999 beantragte die Klägerin im Rahmen eines Änderungsverfahrens die Feststellung eines höheren GdB. Der Beklagte veranlasste eine ärztliche Begutachtung der Klägerin und stellte den GdB mit Bescheid vom 29.11.2000 mit 60 unter Berücksichtigung der folgenden Leidensbezeichnungen (LBZ) fest: "1. Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, der oberen und unteren Extremitäten bei Verschleiß und Bandscheibenschäden, Fibromyalgiesyndrom, 2. rezidivierende Sinubronchitis, Bronchialasthma, Lungenventilationsstörung, Allergie, 3. Inkontinenz, 4. psychovegetative Dysregulation mit depressiven und Organfunktionsstörungen, Cephalgie und 5. Nierensteindiathese". Die Klägerin erhob gegen diesen Bescheid Widerspruch und beantragte zugleich die Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Der Beklagte erteilte unter dem 28.12.2000 einen Abhilfebescheid, mit dem er den GdB auf 80 festsetzte. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.01.2001 lehnte der Beklagte die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" ab. Wegen der Gründe wird auf den Inhalt dieses Bescheides Bezug genommen.

Die Klägerin hat am 29.01.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben und vorgetragen, dass sie "ohne normale Gehhilfe" nicht zu gehen in der Lage sei. Sie könne keine längeren Wegstrecken von mehr als 50 m zurücklegen. Teilweise könne sie schon nach 5 m nicht mehr weitergehen.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines urologischen Gutachtens von Dr. T, eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Dr. S und eines orthopädischen Gutachtens von Dr. S. Die Sachverständigen schätzten den Gesamt-GdB auf 80 ein und sahen die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" als nicht erfüllt an. Ferner hat das SG die Vorprozessakte S 12 SB 26/98 beigezogen.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 10.03.2003 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.

Gegen den am 14.03.2003 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 08.04.2003 Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter. Sie weist darauf hin, dass es ihr nicht um die Zuerkennung eines höheren GdB gehe, sondern ausschließlich um die Zuerkennung des Merkzeichens "aG".

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 10. März 2003 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Widerspruchsbescheides vom 11. Januar 2001 zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat Befundberichte von dem Arzt für Orthopädie L und dem Heilpraktiker G eingeholt. Sodann hat der Senat den Facharzt für Orthopädie und Rheumatologie Dr. N mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dr. N ist zu dem Ergebnis gelangt, dass sich auch in der Zusammensicht der bestehenden Diagnosen im Bereich des Bewegungsapparates, hier insbesondere im Bereich der Beine, keine außergewöhnliche Gehbehinderung nachvollziehen lasse. Die Fortbewegung sei ohne fremde Hilfe mit nicht ungewöhnlich großer Anstrengung, außerhalb des Kraftfahrzeuges möglich.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Klägerin eine ärztliche Bescheinigung ihres behandelnden Orthopäden L vom 18.11.2003 überreicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Schwerbehindertenakte des Beklagten und der Vorprozessakte (S 12 SB 26/98) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 11.01.2001 nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, denn dieser Bescheid ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Die gesundheitlichen Voraussetzungen für diesen Nachteilsausgleich liegen nicht vor.

Es bedurfte keiner Aussetzung des Verfahrens zur Durchführung eines Vorverfahrens, obwohl der Widerspruchsbescheid vom 11.01.2001 erstmals Ausführungen zum Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" enthält. Ein Widerspruchsbescheid ist aus prozessökonomischen Gründen dann nicht mehr erforderlich, wenn sich aus der Klageerwiderung ergibt, dass die Sache erneut überprüft wurde und der Widerspruchsbescheid voraussichtlich nichts anderes enthalten würde als die Klageerwiderung (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Aufl., § 78 SGG, Rz. 3d m.w.N.). Diesen Anforderungen wird die Klageerwiderung vom 06.06.2001 gerecht.

Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" ergeben sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) und Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV). Danach sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.

Die Klägerin gehört nicht zu diesem Personenkreis, da bei ihr weder eine Gliedmaßenamputation noch eine Querschnittslähmung besteht.

Sie ist dem in Nr. 11 VV zu § 46 StVO benannten Personenkreis auch nicht gleichzustellen.

Eine Gleichstellung erfordert, dass die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und der Betroffene sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie der oben genannte Personenkreis oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Die Gehfähigkeit des Betroffenen muss so stark eingeschränkt sein, dass es ihm unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Der vollständige Verlust der Gehfähigkeit ist hierbei nicht erforderlich (Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 10.12.2002 - AZ.: B 9 SB 7/01 R -). Ferner ist nicht darauf abzustellen, welche Wegstrecke in Metern der Betroffene ggf. unter Verwendung orthopädischer Hilfsmittel noch zurücklegen kann. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG a.a.O.)

Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht erwiesen. Weder ist sie beim Gehen ständig auf fremde Hilfe angewiesen noch bewegt sie sich nur unter ungewöhnlich großer Anstrengung fort. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen. Aus dem eigenen Vortrag der Klägerin zu ihrem Gehverhalten ergibt sich bereits, dass sie sich nicht nur mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Die Klägerin verwendet beim Gehen Unterarmgehstützen oder einen Rollator. Mit diesen Hilfsmitteln ist sie beispielsweise in der Lage, den nächstgelegenen Supermarkt - etwa 200 m entfernt - aufzusuchen. Ferner gibt sie an, gelegentlich ihre außergewöhnlich gehbehinderte Mutter mit dem Pkw abzuholen, um Besorgungen zu machen oder ins Schwimmbad zu fahren. Es besteht nach den Schilderungen der Klägerin kein Anhaltspunkt dafür, dass sie hierbei ständiger fremder Hilfe bedarf.

Darüber hinaus hat sich durch die Beweisaufnahme nicht bestätigen lassen, dass sich die Klägerin nur noch mit großer Anstrengung von den ersten Schritten an außerhalb des Kraftfahrzeuges bewegen kann. Zunächst einmal ist bei der Klägerin kein Krankheitsbild gegeben, welches sich vordergründig in der Weise auf ihre Gehfähigkeit auswirkt wie es bei der Vergleichsgruppe anzunehmen ist. Bei ihr besteht eine Adipositas Grad II, die sich sicher auf ihre allgemeine Bewegungsfähigkeit auswirkt, aber keinen unmittelbaren Einfluss auf die Gehfähigkeit hat. Ferner hat sie im rechten Kniegelenk einen Knorpelschaden, der zu einer leichten Funktionsbehinderung führt. Auch hieraus kann nicht auf eine ungewöhnliche Gehbehinderung geschlossen werden. Schließlich liegt bei der Klägerin ein Ganzkörperschmerzsyndrom vor. Zwar ist letztlich nicht abschließend geklärt, ob es sich - wie die Klägerin annimmt - um ein sog. Fibromyalgiesyndrom handelt oder - wie die Sachverständigen annehmen - um eine somatoforme Schmerzstörung. Zweifel an dem Vorliegen einer Fibromyalgie ergaben sich sowohl bei der Begutachtung durch Dr. S als auch bei der Begutachtung durch Dr. N. Die sog. Tenderpoints waren sämtlich positiv, aber auch alle Kontrollpunkte lösten bei der Klägerin Schmerzen aus. Das spricht dafür, dass bei der Klägerin eher an eine somatoforme Schmerzstörung zu denken ist. Letztlich kann das aber dahinstehen, da nicht die Diagnosestellung im Vordergrund steht, sondern die mit der Erkrankung verbundene Funktionsstörung und hier insbesondere die Auswirkungen auf die Gehfähigkeit. Wie die Ausführungen des Dr. N belegen, war die Bestimmung des Beschwerdeausmaßes bei der Klägerin schwierig. Die Klägerin hat nahezu bei sämtlichen Bewegungsprüfungen, die die unteren Extremitäten betrafen, mit Gegenspannen und sofortiger Schmerzangabe reagiert. Demgegenüber war sie aber in unbeobachteten Momenten zu derartigen Bewegungen durchaus in der Lage. So war bei den Kniegelenken im Liegen bei freier Streckbarkeit beidseits eine maximale Kniebeugung von 40 Grad möglich, bei dem danach eingenommenen Sitz auf der Liegenkante waren beide Kniegelenke in 90-Grad-Position frei herabhängend. Demgemäß stellte Dr. N eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Untersuchungsbefund und dem sonstigen Verhalten fest. Ferner beschreibt Dr. N, dass die Klägerin mit dem eigenen Pkw zur Untersuchung erschien und den Weg vom Parkplatz in das Krankenhaus, welcher die Bewältigung einer steilen Auffahrt beinhaltet, selbständig zurücklegte. Bei der Klägerin bestehen zwar degenerative Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule und des rechten Kniegelenkes, jedoch nicht in einer Ausprägung, die auf eine außergewöhnliche Gehbehinderung schließen lassen würde. In Anbetracht der bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen, ihrer eigenen Schilderungen zu ihrem Gehverhalten und denjenigen der Sachverständigen kann es nicht als gerechtfertigt angesehen werden, sie funktionell mit einer Gehbehinderung von Querschnittsgelähmten oder Doppelunterschenkelamputierten gleichzustellen. Nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. N, der diesbezüglich mit sämtlichen vorher gehörten Sachverständigen übereinstimmt, ist die Fortbewegung der Klägerin zwar durchaus mit Anstrengung verbunden, jedoch nicht mit der geforderten ungewöhnlich großen Anstrengung von den ersten Schritten außerhalb des Kraftfahrzeuges an.

Das ärztliche Attest des Herrn L, welches die Klägerin in der mündlichen Verhandlung überreicht hat, rechtfertigt weder eine andere Beurteilung noch sah sich der Senat zu weiteren Ermittlungen veranlasst. Der behandelnde Orthopäde berichtet von einer akuten Erkrankung im Bereich des rechten Kniegelenkes, die innerhalb einer Zeitdauer von sechs bis 24 Wochen abheilt. Im Schwerbehindertenrecht sind allein nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen, wobei als nicht nur vorübergehend ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten gilt (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Stand 1996, Nr. 17 S. 28). Sollte die Erkrankung entgegen der Erwartung des behandelnden Arztes nicht ausheilen, wäre die Klägerin gehalten ggf. einen neuen Antrag bei dem Beklagten zu stellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Es besteht kein Anlass, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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